I.
Es gab vor vielen Jahren diesen Satz, der sehr populär war: Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin. Dieser Satz hatte etwas geradezu unverschämt Fröhliches, weil damit ein einfacher Weg in eine Zukunft geboten war, bei der der Krieg tatsächlich dann gar nicht mehr stattfindet – mangels Protagonisten. Wenn ich auf die aktuelle politische Diskussion nicht nur in Deutschland, sondern in vielen westlichen Ländern blicke, dann legt sich unweigerlich eine Abwandlung dieses Satzes nahe: Stell dir vor, es ist Demokratie, und keiner geht hin. Bischof Overbeck hat die Politikverdrossenheit und die Wählerverdrossenheit angesprochen. Und in diesem speziellen Punkt bin ich tatsächlich mit Herrn Bischof vollkommen einig, wenn er sagt, Demokratie bestehe nicht nur aus Institutionen, sondern in erster Linie aus Demokraten, also handelnden Personen. Ohne handelnde Personen wären Demokratien leere Hüllen, und eine Abstimmung mit den Füßen, die diese Hüllen sich selbst überlässt, ist ja tatsächlich etwas, was wir beobachten können, zum Teil durch stille Abstinenz, zum Teil aber auch durch aggressive Abkehr. Und dann gibt es zum Teil die Tendenz, dass innerhalb einer Demokratie die Mittel oder die Angebote, die eine Demokratie macht, zur Abschaffung derselben missbraucht werden – dass also zum Beispiel die Meinungsfreiheit benutzt wird, um diese bis an die Grenze nicht nur des persönlichen Affronts, sondern bis an die Grenze der institutionellen Infragestellung auszunutzen.
Wenn Demokratien Demokraten brauchen, dann brauchen sie Handelnde. Handelnde müssen verfügen über Einstellungen und Haltungen. Haltungen haben nach guter alter philosophisch-theologischer Lehre – da sind wir ganz einig – zu tun mit Tüchtigkeiten, mit Fähigkeiten, mit einem Vermögen, und auch mit Tugenden. Sie wissen vielleicht, dass das griechische Wort für Tugend oft auch ganz schlicht mit Tüchtigkeit übersetzt werden kann, also: etwas können. Und das Können der Demokraten besteht tatsächlich in der Bereitschaft, ja geradezu in der Inbrunst, sich für diese Staatsordnung einzusetzen. Es ist sicher ein Problem einer weidwund geschossenen Demokratie heute, dass dieses Bewusstsein der täglichen praktischen Erneuerung und Bestätigung von Demokratie sich bei den Demokraten oder denen, die sich dafür halten, abgeschliffen hat, und zwar deshalb, weil sie eben für selbstverständlich genommen worden ist mit der rosaroten Brille des post-1989-Bildes der Welt.
II.
Das heißt also, es sind hier diese Tugenden, die wir brauchen. Nun möchte ich heute aber über Störenfriede reden: Die Störenfriede, die die Demokratie braucht, sind spezielle. Demokratie kann nicht alle Störenfriede brauchen, sondern nur bestimmte. Ich habe nun – das ist einer der Gründe, warum ich eingeladen worden bin – so ein ganzes riesengroßes Buch über Störenfriede geschrieben und habe da vorgeschlagen, verschiedene Typen zu unterscheiden. Diese Unterscheidungen will ich Ihnen jetzt nicht ausbreiten – das würde zu lange dauern –, aber doch kurz anreißen. Mein Vorschlag ist, dass es eigentlich zwei Gruppen von Störenfrieden gibt, nämlich die guten und die schlechten, und entsprechend braucht Demokratie natürlich nur die guten.
Nun, was sind die schlechten Störenfriede? Es gibt zwei Typen, jedenfalls von der Demokratie her gesehen. Die schlechten Störenfriede sind diejenigen, die nur an sich denken, die also egozentrisch sind – etwa den Trittbrettfahrer –, oder aber Sie sind schlecht, weil sie in der Masse agieren, also kollektivistisch agieren. Beides steht in einem Widerspruch zur Demokratie. Als Beispiel für die zweite Gruppe können Sie die meinetwegen faschistischen oder nationalsozialistischen Gruppen aus der deutschen und aus anderen europäischen Geschichten heranziehen. Als Beispiel für die erste Gruppe, die egozentrische, können Sie die Akteure der Finanzkrise heranziehen – also Menschen, die die Bereitschaft an den Tag legen, Institutionen zu untergraben um des persönlichen Vorteils willen, und dabei dann hoffen, dass sie sich irgendwie aus dem zusammenstürzenden Haus herausziehen können, vielleicht auf irgendein Atoll in der Karibik oder im Pazifik, wo auch immer.
Es gibt also diese schlechten Störenfriede; und vielleicht gibt es bei Ihnen auch so eine Art inneren Widerstand, sich überhaupt vorstellen zu können, dass es so etwas wie gute Störenfriede gibt. Dieser Widerstand ist durchaus verständlich, und zwar deshalb, weil dieses Wort Störenfried eigentlich kaum einen anderen Schluss zulässt als den, dass man nichts von ihm halten kann. Der Friede ist etwas, das wir schätzen. Der, der den Frieden stört, den können wir nicht schätzen, sondern den müssen wir bekämpfen. Das ist das ultimativ Schlimmste, was man sich vorstellen kann: jemanden, der den Frieden stört. Aber es gibt im Deutschen diese Wendung vom falschen und vom faulen Frieden. Und es gibt auch im Englischen, obwohl es in den anderen Sprachen interessanterweise nie so ein richtiges Pendant zu dem Wort Störenfried gibt, bei einem Dichter 1605 den Ausdruck vom „wicked peace“, also dem bösen Frieden (Samuel Daniel). Ein Scheinfrieden, das ist das, was er damals meinte.
Das heißt also, wir können uns einen Störenfried vorstellen, der dann in Ihrer Bewertung nicht mehr so schlecht abschneidet, wenn das, was er stört, gar nicht so gut ist, wenn also der Frieden faul ist oder falsch. Und wenn wir unsere Erinnerung an die Schulzeit mobilisieren, werden wir wahrscheinlich auch schnell Beispiele für solche Typen parat haben, d. h. Menschen, die es wagen, einen drakonischen Lehrer irgendwie frech anzugehen, und die dann auch bereit waren, die Sanktionen dafür zu tragen – und die wir dann dafür bewundert haben: einen Störenfried. Es gibt also bewundernswerte Störenfriede. Und damit bin ich eben bei der Seite der guten Störenfriede, die es aus meiner Sicht eben auch gibt.
III.
Wenn wir jetzt von diesen allgemeinen Überlegungen noch einmal konkret auf die Demokratie schauen, dann glaube ich, dass man da – auf der Seite der guten Störenfriede – auch so zwei Typen unterscheiden kann. Man kann sie vielleicht danach unterscheiden, ob sie mehr an sich selbst arbeiten und bescheidener agieren, oder ob sie mehr aufs Ganze schauen und ambitionierter agieren. Also, nur mal als Beispiel erinnere ich an den großen liberalen Philosophen John Stuart Mill, der sich bitter darüber beklagt, dass es in unserer Gesellschaft so etwas wie Konformismus gibt, und dass man inzwischen schon dem Niagara-Fall vorwirft, dass er kein holländischer Kanal sei.
Was er damit meinte war, dass es da diese gewaltige Bewegung dieses Wassers gibt, und die, die jetzt alles kanalisieren wollen, die halten das für falsch. Oder er hat davon gesprochen, dass eine Gesellschaft, in der das Exzentrische zum Vorwurf gereicht, nicht in einem gesunden Zustand sein könne. Im Englischen ist es noch interessanter; da heißt es „in a wholesome state“, dass also eine Gesellschaft, in der es keinen Exzentriker gibt, nicht ganz sei – was ja fast paradox ist. Können Sie sich vorstellen, eine Gesellschaft – Sie müssen sich eine Gesellschaft als Ganze vorstellen –, die den, der ausbüchst, haben will, obwohl der ja eigentlich dauernd diese Vorstellung des Ganzen durcheinanderbringt. Dieses Bild, diese Bejahung des Exzentrischen, ist eine Urtugend (um dieses Wort auch in diesem Zusammenhang zu gebrauchen) einer beweglichen politischen Ordnung und einer Demokratie.
Und dann gibt es natürlich noch ambitioniertere Störenfriede, die vielleicht verkörpert werden von einer Figur wie Wilhelm Tell: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, / Und neues Leben blüht aus den Ruinen“ (Friedrich von Schiller). Es handelt sich hier also um Störenfriede, die darangehen, eine ganze Ordnung anzugreifen, weil sie sie für falsch halten, und eine andere an ihre Stelle setzen wollen. Das ist natürlich hauptsächlich in der Kampfphase der Demokratie so gewesen, dass man diese Grundsatzfrage so gestellt hat.
Aber ich will vielleicht an einen Menschen erinnern, der in einem kleinen Ort in den USA gelebt hat und ein schrecklicher Eigenbrötler war, nämlich Henry David Thoreau, der Erfinder des zivilen Ungehorsams. Dieser Mann ist kurz vor dem amerikanischen Bürgerkrieg gestorben, hat also die Sklavenbefreiung nicht mehr erlebt. Er hat sich ungeheuer über die Sklaverei erregt, und nicht nur das: er hat auch etwas dagegen getan. Er hat also die Sklaven, die aus den Südstaaten entflohen waren, bei sich versteckt, was damals ein Rechtsverstoß war, und er hat sich geweigert, Steuern zu bezahlen für dieses damals ganze Amerika, das auf einem faulen Kompromiss basierte, wonach die Sklaverei im Süden erlaubt war und im Norden nicht. Aber natürlich hieß das, dass der ganze Staat diese Sklaverei als mindestens legal mitträgt, bis eben zum Ausbruch des Bürgerkrieges. Er hat dann gesagt, dass diejenigen, die Steuern zahlen, die Menschenverachtung unterstützen; deshalb zahle er sie nicht – und jeder, der die Steuern bezahlt, unterstützt die Verachtung von 6 Millionen Menschen.
Ich glaube also, dass wir uns daran gewöhnen müssen, dass in der Geschichte der Demokratie diese Art von Krisen, Herausforderungen und Verwandlungen eigentlich immer auf die Tagesordnung gehört haben. Wir haben auch die großen Theoretiker, die sich in dieser Weise geäußert haben. Ich will vielleicht nur ein Zitat bringen, weil es in einem besonderen Moment, nämlich kurz vor 1933, verfasst worden ist, und zwar von dem großen österreichisch-deutschen Juristen Hans Kelsen, der dann ins Exil getrieben wurde. Er hat mit die schönsten Texte über Demokratie im 20. Jahrhundert geschrieben, darunter den Satz: „Die Einheit oder das Ganze des Staates ist kein ruhender Zustand, sondern ein sich immer wieder erneuernder Prozess, keine statische, sondern eine dynamische Einheit. Die Rechtsordnung ist ein ewiger Prozess, in dem sich der Staat immer wieder von neuem erzeugt.“ Hans Kelsen hat also kurz vor 1933 etwas gemacht, wo man sich doch eigentlich fragt, ob der nichts Besseres zu tun hatte? Hätte er nicht besser sagen sollen, dass wir jetzt nicht dieses Dynamische und dieses sich immer wieder neu Erzeugende zu betonen haben, sondern dass wir verteidigen müssen, was wir haben?
Trotzdem hat er genau diese Sache gesagt, und das ist etwas, wo wir heute auch zögern. Würden wir das denn heute genauso sagen wie Kelsen? Wir würden doch wahrscheinlich eher sagen: wir müssen retten, was zu retten ist, wir müssen irgendwie versuchen, die Institutionen zu stärken und im Zweifelsfall sie auch gegen die Menschen verteidigen, die sich von ihnen abkehren. Nur, dass wir dann am Schluss das Problem haben, dass wir Institutionen haben ohne Menschen, die sie unterstützen, oder vielleicht immer weniger. Also, das heißt, die Idee, die bei dem Kelsen-Satz dahintersteckt, läuft darauf hinaus, dass es keinen anderen Weg gibt für eine Demokratie, die diesen Namen verdient, als sie offensiv zu deuten als einen Prozess und nicht als einen Zustand. Und das ist etwas, was gerade in Zeiten der Krise, wo wir ja eigentlich nichts Bewegliches, sondern Halt suchen, etwas schwer zu lernen bzw. schwer auszuleben ist. Und deshalb lohnt hier die Erinnerung an einen, der damals alle Gründe gehabt hätte, eben nicht so zu sprechen, wie er es doch getan hat.
IV.
Es gibt also durchaus auch eine gefährliche Tendenz bei vielen, die jetzt heute über die Krise der Demokratie sprechen, nämlich die Tendenz, auf die Institutionen zu schauen und die Institutionen gegen die Bevölkerung zu verteidigen. Meine These ist, dass genau diese Tendenz nach hinten losgehen kann und dazu führt, dass die Menschen sich dann erst recht von dieser Ordnung abkehren, weil sie dann nämlich ständig Argumente präsentiert bekommen, die letzten Endes auf ein langwährendes Muster in der Geschichte zurückgehen, nämlich, dass das Volk eigentlich zu blöd ist zum Regieren. Es gibt seit dem 18. Jahrhundert eine unzählige Male wiederholte Denkfigur, die darauf hinausläuft, dass das Volk das wilde Tier ist. So wird es da genannt und begegnet uns bis heute in ganz vielen Varianten, dass man eigentlich die Demokratie, die Institution, vor diesem Volk schützen muss.
Wenn man genau das tut, und das haben auch schon Leute im 18. und 19. Jahrhundert direkt selbst gesagt, zum Beispiel Thomas Jefferson und Alexis de Tocqueville und solche Leute, genau wenn man das tut, wenn man also den Staat und die Institutionen vor dem Volk schützt, dann erreicht man den gegenteiligen Effekt, dann produziert man nämlich erst das Volk, was sich dumm verhält und nicht oder falsch entscheidet, sich heraushält, sich irgendwie am Schluss mit seiner Wut gegen diese Institutionen kehrt. Zum Teil gibt es heutzutage diese Tendenz – ein zentrales Stichwort in diesem Zusammenhang ist Expertendemokratie –, zu sagen: wir sind eigentlich zu blöd um zu wissen, was wir tun wollen; also müssen die anderen das entscheiden. Bloß, dass Experten das bekanntlich dann doch nicht so aus reiner Weisheit heraus richtig wissen.
V.
Wir brauchen letzten Endes also, in alternativloser Hoffnung, das Volk für die Demokratie, also auch diese Bereitschaft, in diese schwierigen Prozesse der Verteidigung, der Bewährung der Demokratie an der Basis heranzugehen. Deshalb gibt es Helden, Helden der Demokratie. Die guten Störenfriede also, aber auch andere, nämlich die guten Demokraten, die jetzt nicht stören, sondern erhalten. Da ich nun gerade ein Buch mit dem Titel „Warum Demokratien Helden brauchen“ fertiggeschrieben habe, möchte ich Sie aus dieser philosophischen Rhapsodie entlassen, indem ich eben diese Unterscheidung auch als Friedensangebot für die Diskussion unterbreite. Ich glaube, dass es zwei Typen gibt, die wir heutzutage haben in der Demokratie, und zwar Typen, die man vielleicht Helden der Übererfüllung nennen könnte, und Typen, die man Helden der Überwindung nennen könnte. Beide Arten von Heldentum sind für uns existenziell.
Die Helden der Übererfüllung sind diejenigen, die sich genau die Verteidigung der Demokratie zur Aufgabe gemacht haben, ohne dabei aber die Ordnung, die besteht, irgendwie in Frage stellen zu wollen. Sie machen nur einen Schritt, den man nicht von allen verlangen kann, und setzen sich dabei persönlichen Risiken aus. Menschen wie Tuğçe Albayrak zum Beispiel, die in Frankfurt zwei Mädchen vor der Belästigung gerettet hat und dann von dem Täter nachts um drei totgeschlagen wurde. Oder auch die Bürgermeister in den sogenannten national befreiten Zonen in Ostdeutschland, aber auch Bürgermeister, denen die Reifen aufgeschlitzt worden sind wie der Bürgermeisterin Silvia Kugelmann in Kutzenhausen bei Augsburg. Sie hat darüber in der ZEIT ein eindrucksvolles Gespräch gegeben. Es gibt also diese Helden der Übererfüllung; die tun etwas, was eigentlich wirklich unter Zivilcourage läuft, wo man aber jetzt nicht sagen kann, die machen einfach nur ihre Pflicht. Die tun schon noch ein bisschen mehr als ihre Pflicht.
Daneben gibt es die Helden der Überwindung, die immer noch daran erinnern, dass diese Ordnung vielleicht auch blinde Flecken hat, Schwächen, und dass diese Demokratie immer unfertig bleibt. Dazu gehört sicher auch, da treffen sich nun unsere Überlegungen, jemand, der als Klima-Aktivist oder als Klima-Aktivistin auftritt. Da agieren nämlich Leute, die uns wachrütteln und die uns dann auch eine ziemlich brutale Frage stellen. Diese Frage kann ich vielleicht in Anknüpfung an etwas, was Herr Overbeck gesagt hat, nochmal stellen. Sie haben am Anfang Ihres Referats gesagt, wir müssen in der Demokratie von der Mitte her denken, und haben damit eben die Warnung vor den Radikalen ausgelöst. Wenn wir jetzt an die junge Generation denken, dann wird man den Eindruck ja nicht los, dass, wenn die an die Mitte der Gesellschaft denken, in der wir uns befinden, sie manchmal das Gefühl haben, dass die Mitte stinkt, dass also zu wenig getan wird in dieser Mitte, zum Beispiel bezogen auf die Rettung der Schöpfung. Und das ist dann der Punkt, an dem die Helden der Überschreitung auftreten, und nicht nur die Helden der Übererfüllung.