Demokratie braucht Tugenden!

Wer unsere Ordnung fördert und fordert

Im Rahmen der Veranstaltung "Demokratie in Deutschland", 12.06.2019

Sehr geehrter Herr Professor Thomä, sehr geehrter Herr Esslinger, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich freue mich sehr, hier zu sein und zum breiten Thema unserer Demokratie einige enger gefasste Gedanken zu präsentieren. Eine zentrale Frage lautet, wer unsere Demokratie fördert und wer sie fordert. Das lässt sich in dieser Gegensätzlichkeit nicht beantworten. Letztlich kommt es darauf an, dass alle – jeder und jede Einzelne – beides tun: dass sie unsere Demokratie zum einen fördern und zum anderen fordern. Das aber geht nicht ohne Tugenden, die Teil jener ungeschriebenen Voraussetzungen sind, aus denen heraus unsere Demokratie lebt. In diesem Sinne unternehme ich im Folgenden den Versuch einer Differenzierung.

 

I.

 

Nach dem Ende des Kalten Krieges schien allgemein gewiss, was viele schon lange erhofft hatten: die Überwindung einer Bipolarität zweier gegnerischer ideologischer Blöcke, eine zunehmend engere Kooperation in der Europäischen Union, die umfassende Achtung der Menschenrechte und ein globaler Sieg der liberalen Demokratie. Diese damals gespürte Zuversicht ist heute geschwunden. Stattdessen beobachten wir weltweit ein erneutes Erstarken des Autoritären sowie von populistischem und extremistischem Gedankengut. Viele Staaten handeln nicht länger nach dem gesetzten Prinzip, sich auf internationalem Parkett mit wechselseitigem Respekt zu begegnen und zwischenstaatliche Beziehungen mit den Mitteln des Rechts zu gestalten. Vielmehr nutzen Sie Mittel der Machtpolitik und formulieren das Ziel, ihre nationalen Interessen ohne Rücksicht auf andere durchzusetzen: Im Resultat verhärtet sich das Diktum „My country first“ in die Forderung „My country only“. Manchen Beobachtern erscheinen in diesem Zusammenhang viele rechtsstaatliche Demokratien auch innenpolitisch als angreifbar. Es verstärkt sich der Eindruck eines Vertrauensverlustes in demokratische Strukturen und Prozesse. Gegenüber individualistischen Egoismen scheinen Werte und Prinzipien wie Frieden, Demokratie, Solidarität und die Herrschaft des Rechts an Bedeutung zu verlieren.

 

II.

 

Die Demokratie ist aber kein bloßes Institutionengefüge, wenngleich sie in vielen Fällen gerade aufgrund ihrer Institutionen in die Kritik gerät. Vertrauen in die Demokratie ist mithin nichts Selbstverständliches. Jedoch können abstrakte Institutionen und große Organisationen nicht bestehen, ohne mit handelnden Personen – mit Gesichtern – verknüpft zu sein. Das menschliche Phänomen Vertrauen ist untrennbar mit anderen Menschen und deren Handlungen verbunden. Vertrauen in die Demokratie in Deutschland und Europa lebt davon, dass nicht nur auf abstrakte Prozesse und rechtliche Rahmenbedingungen gebaut werden kann. Darüber hinaus bedarf die Demokratie – nach Ernst-Wolfgang Böckenförde – der Einhaltung ungeschriebener Voraussetzungen. So muss beispielsweise der Rechtsstaat, den Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Centesimus annus“ (1991) mit der „Grundlage einer richtigen Auffassung vom Menschen“ verbindet, von allen Menschen auch ohne staatliches Zutun beachtet werden: Das Spiel muss fair verlaufen, auch wenn kein Schiedsrichter auf dem Feld steht.

 

III.

 

Den Begriff des Vertrauens haben die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland im April dieses Jahres als zentralen Aspekt in ihrem Gemeinsamen Wort zur Demokratie thematisiert. Wir sprechen darin im Sinne solcher ungeschriebenen Voraussetzung von einer „demokratischen Sittlichkeit“. Im Sinne der katholischen Soziallehre läuft dies auf eine Orientierung am individuellen Wohl jedes und jeder Einzelnen sowie am Gemeinwohl hinaus. Konkreter gesprochen fassen wir darunter insbesondere den Respekt des jeweils anderen, die Anerkennung demokratischer Spielregeln, eine Bereitschaft zum Kompromiss sowie die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen, selbst wenn man anderer Meinung ist. Eine gesunde Demokratie braucht einen breiten gesellschaftlichen Konsens über die unbedingte Einhaltung dieser und anderer demokratischer Normen. Das gilt im Übrigen sowohl im analogen Bereich als auch digital im Internet und in sozialen Netzwerken.

 

IV.

 

In der Realität sehen wir aber vielfach die Missachtung dieser Regeln, wobei die in der Einladung zu der heutigen Veranstaltung genannten „Störenfriede“ und „Trittbrettfahrer“ nicht immer eindeutig der politischen Mitte oder dem ideologischen Rand zugeordnet werden können. Letztlich sind in dieser Frage die „Guten“ oder „Wohlmeinenden“ gegenüber den „Bösen“ und „Radikalen“ zuweilen schwierig abzugrenzen. Fest steht zwar, dass funktionierende und dauerhaft lebensfähige demokratische Systeme einer breiten Unterstützung aus und in der Mitte der Gesellschaft bedürfen. Dann halten sie in aller Regel auch ideologische Ausfransungen an ihren Rändern aus. Wenn aber die sozialen und ökonomischen Bedingungen immer größere Bevölkerungsteile sprichwörtlich an den Rand drängen, werden politische und ideologische Außenpositionen gestärkt. Spätestens, wenn dann nicht mehr von der Mitte her gedacht wird, sondern wenn die politischen Ränder den Ausgangspunkt politischer Programmatik bilden, dann wird aus dem Ideal des Konsenses schnell die Gefahr des Konfliktes.

 

V.

 

In diesem Moment schlägt die Stunde der Populisten. Sie propagieren einen vermeintlich einheitlichen Volkswillen und kritisieren gesellschaftlichen Pluralismus als Irrweg. Sie geben einfache Antworten auf komplexe Fragen und versprechen Eindeutigkeit und Sicherheit in einer als unübersichtlich und unsicher erfahrenen Welt. Oft ist damit ein „Rückzug ins Vertraute“ verbunden. Populisten versprechen verunsicherten Menschen den zweifelhaften Schutz des vermeintlich Eindeutigen. Sie blenden Probleme aus und schaffen sich in ihrem persönlichen Nahbereich – sei das analog in ihrem Heimatort oder online in Gruppen Sozialer Netzwerke – eine heile, vertraute Welt. Solche „Vereindeutigungsmuster“ gehen in der Regel mit der Konstruktion von Feindbildern einher, die für reale Probleme verantwortlich gemacht werden. Beschuldigungen reichen von Einzelpersonen (Angela Merkel) über soziale Gruppen (die Flüchtlinge) bis hin zu abstrakten Institutionen (Brüssel). Als Kernelemente von Bedrohungsszenarien rechtfertigen sie vermeintliche Schutzmaßnahmen zur Förderung nationaler, regionaler oder gruppenbezogener Interessen. Hier nähern wir uns nun wieder der Anfangsthese, dass Förderer und Forderer der Demokratie nicht immer zweifelsfrei voneinander unterschieden werden können. Vor allem dann, wenn Demokratinnen und Demokraten auf populistische Parolen bloß durch die (Gegen-)Konstruktion eigener Feindbilder (die Populisten) reagieren. Dann ist die Gefahr gegeben, die berechtigte Anmerkung von Kritikwürdigem zu überhören und das Gegenüber pauschal als Populisten respektive Extremisten zu bezeichnen oder anderswie abzuwerten – und somit gegen die genannte demokratische Sittlichkeit zu verstoßen.

 

VI.

 

Anstand und Wahrhaftigkeit sind ebenso wie die demokratischen Tugenden im engeren Sinne – allen voran Respekt vor Andersdenkenden, Aufgeschlossenheit für die Argumente des politischen Gegners, Kompromissorientierung und Geduld – Verhaltensmuster, ohne die die freiheitliche Ordnung nicht existieren kann. Gerade deshalb empfinde ich es als paradox, dass Tugenden im öffentlichen Diskurs in letzter Zeit häufig so dargestellt werden, als würden sie vielmehr Unfreiheit statt Freiheit fördern. Denken Sie nur an den provokanten Titel des Buches von Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland. Mit dem Begriff Terror verbinden wir Zwang und Druck, die Verbreitung von Angst und Schrecken durch Gewalt. Jemand, der Tugendterror ausübt – so die Assoziation –, dem kann es nur um Unterdrückung der Freiheit anderer gehen. Um diesem Zerrbild entgegenzuwirken, werde ich im Folgenden eine andere Perspektive vorstellen und zeigen, welche Schlüsselrolle Tugenden in unserer liberalen Demokratie spielen.

 

VII.

 

Mit dem Philosophen Ernst Bloch lässt sich sagen, dass Menschen „Haltungsbilder“ brauchen, an denen sie sich orientieren können. Diese Haltungsbilder sind nicht mit Vorbildern oder Idolen zu verwechseln, die man einfach passiv nachahmen oder kopieren will. Was Haltungsbilder für das eigene Leben bedeuten, gilt es selbst aktiv in Freiheit zu entdecken. Sie sind „keine Abziehbilder, sondern aufregende Wegweiser dafür, den eigenen Weg in produktiver und konstruktiver Auseinandersetzung mit Modellen des guten Lebens zu finden.“ Tugenden sind solche Haltungsbilder. Sie lassen sich als innere Antriebskräfte beschreiben; als verbindliche Einstellungen zum guten Leben. Die Herausforderung heute besteht darin, universelle Tugenden zu beschreiben, über die wir eine allgemein verbindende, zumindest vage Auffassung dessen gewinnen können, was wir denn als das menschlich Gute verstehen. Ein solches, universelles Verständnis von Tugenden muss den pluralen Lebenswirklichkeiten unserer Zeit Rechnung tragen, darf aber auch nicht als beliebig aufgefasst werden. Es gibt Erfahrungsbereiche, die mehr oder weniger zu jedem menschlichen Leben dazugehören, das heißt in denen jeder Mensch Entscheidungen treffen und sich in irgendeiner Weise verhalten muss. Dabei sind wir als Menschen durchweg mit einer Vielzahl von möglichen Handlungsoptionen konfrontiert, die sich in der Bewertung zum Beispiel als gut oder schlecht charakterisieren lassen. Tugenden, das heißt sich aktiv zu Eigen gemachte Haltungsbilder, befähigen uns dazu, die Bedeutung bestimmter Handlungsoptionen erkennen, bewerten und besser einschätzen zu können.

 

VIII.

 

Sie lassen sich sehr direkt den menschlichen Erfahrungsbereichen zuordnen, was sich am Beispiel der „Kardinaltugenden“ veranschaulichen lässt. Bei Furcht vor großen Schäden, insbesondere vor dem Tod, ist die Tugend der Tapferkeit gefragt – heute würde man vielleicht eher von Zivilcourrage sprechen; beim geistigen Leben die Klugheit, bei der Frage der nach der Verteilung von begrenzten Ressourcen die Gerechtigkeit und bei körperlichen Begierden und den damit verbundenen Freuden die Tugend der Mäßigung. Natürlich bleibt immer strittig, was denn nun wirklich tapfer, klug, gerecht und maßvoll ist. Darüber lohnt es sich zu streiten und es ist auch gut, dass darüber gestritten wird. Hier zeigt sich aber, dass die Erfahrungsbereiche, die die Bezugspunkte für Tugenden bilden, jeweils ein essentieller Teil des Lebens eines jeden Menschen sind, da wir alle in irgendeiner Form immer zu ihnen Stellung nehmen müssen. Sie bilden eine universale Grundlage, die sich als unbeliebig verstehen lässt. Jede Tugend lebt also von der Bereitschaft, in dem jeweiligen Erfahrungsbereich richtig zu entscheiden und zu handeln, worin dies auch bestehen mag. Aber, und das ist der entscheidende Punkt, ein so verstandener Tugendbegriff fördert Freiheit und schränkt sie nicht ein. Tugenden bleiben trotz, oder vielleicht sogar aufgrund ihres universalen Charakters und ihrer sozialen Vermittlung primär eine individuelle Angelegenheit, denn jeder einzelne Mensch muss letztendlich für sich selbst und vor seinem Gewissen entscheiden, wie ‚tugendhaft‘ er in den unterschiedlichen Erfahrungsbereichen seines Lebens handelt und was das für ihn bedeutet.

 

IX.

 

Ein Blick auf die Fridays-for-Future-Bewegung macht deutlich, dass plötzlich ganz neue tugendethische Perspektiven für die Auseinandersetzung mit der Frage nach einem guten Leben zentral werden, die vor wenigen Jahren noch gar keine Rolle gespielt haben; denken Sie zum Beispiel an den Begriff der Nachhaltigkeit. Die öffentliche Diskussion über Fridays-for-Future zeigt, dass viele Menschen auf die implizite Infragestellung ihres Lebensstils mit Abwehr reagieren, da sie nicht dazu bereit sind, ihre alten Gewissheiten und Vorstellungen eines guten Lebens aufzugeben. Dieser Konflikt wird zuweilen mit einer Schärfe geführt, als stünde die Enteignung des PKWs oder das Flugverbot für Urlaubsreisen unmittelbar bevor. Deshalb gilt es, noch einmal auf den Charakter von Tugenden hinzuweisen: Sie sind eben keine Gesetze, obgleich natürlich jedes gute Rechtssystem darauf angewiesen ist, dass seine Urheber sich an Tugenden orientieren. Hier deutet sich schon an, dass es keine strikte Trennung zwischen dem Individuellen und dem Sozialen gibt, sondern beide Ebenen vielfach miteinander verschränkt sind. Der politische Philosoph John Rawls beschreibt in diesem Sinne Gerechtigkeit auch als „eine Tugend sozialer Institutionen“. Tugenden sind auch keine Normen und sollten auch nicht als solche missverstanden werden. Es wäre ein Fehlschluss, das persönliche Haltungsbild in seiner individuell angeeigneten Form moralisch zu überhöhen und dafür universelle Verbindlichkeit zu beanspruchen. Wie gezeigt, kommt den Tugenden zwar ein universaler Charakter zu, nicht aber in der spezifischen Form ihrer individuellen Aneignung. Was es zum Beispiel konkret heißt, gerecht, maßvoll und nachhaltig zu leben, lässt sich niemals final bestimmen, sondern darf und muss immer Gegenstand der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und Vergewisserung über Gerechtigkeit und das gute Leben sein. Auch davon lebt unsere Demokratie. Andererseits finde ich es verwerflich, wenn Menschen medial verunglimpft werden und unter Druck geraten, weil sie fest zu ihren Grundsätzen stehen, die freilich den Kriterien für demokratische Sittlichkeit entsprechen sollten. So lässt sich mit Blick auf den Einladungstext fragen, welche Zuschreibung wohl Greta Thunberg gerecht wird: Ist sie ‚Störenfried‘ oder ‚Tugendheldin‘? Fördert oder fordert sie die Demokratie? Ich denke, dass die Antwort auf der Hand liegt. Als Störenfried ist sie eine Tugendheldin. Sie fördert die Demokratie, gerade weil sie uns alle herausfordert.

 

X.

 

Wenn wir über Tugenden sprechen, dann sprechen wir auch immer über unsere verbindlichen Einstellungen zum guten Leben. Es wird also persönlich, denn es geht dabei um Identitätsfragen. Wie kann ich für mich das rechte Maß finden zwischen unbeweglicher, allzu selbstgewisser Überheblichkeit und einer Haltung, die sich stets nach dem Wind richtet, weil sie – im negativen Sinne des Wortes – selbstlos und ohne festen Standpunkt ist? Hier gilt es, im aufrechten Gang eine gute Mitte auszumachen. Der aufrechte Gang „enthält Selbstachtung, aber nicht Selbstgefälligkeit. Er achtet die Auffassung des anderen, aber er unterdrückt nicht den Widerspruch, auf den der andere ein Recht hat. Er macht den Menschen in diesem Sinne ‚echt‘, dass zwischen seinen Worten und seinen Handlungen kein Widerspruch auftaucht.“

Die Demokratie braucht Menschen, die in diesem tugendethischen Sinne gelernt haben, aufrecht zu gehen. Sie sind in der Lage, die Demokratie in einem guten Sinne zu fördern und zu fordern!

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