Der Titel des Abends lautet Was ist Sprache?. Bei dieser Frage ist es wichtig, sich nicht sofort ihrem Gegenstand – der Sprache – zuzuwenden, sondern zuerst zu klären, welche Art von Frage hier gestellt wird, wenn die Frage eine genuin philosophische Frage sein soll.
Denn die philosophische Frage rückt die Sprache nicht in der Weise in den Blick, wie es die Einzelwissenschaften in ihrer Art des Fragens tun: „Was ist Magnetismus?“, „Was ist Epilepsie?“. Solche Fragen fragen nach unbekannten Sachverhalten in der Welt, um sie vertraut zu machen und zu erklären. Auf diese Weise kann man natürlich auch nach der Sprache fragen – dann ist die Sprache aber nicht Thema der Philosophie, sondern Thema einer Einzelwissenschaft, etwa der Linguistik oder der Neurowissenschaft.
Im Unterschied zu solchen Fragen thematisiert die Philosophie das, was in jenen Fragen immer schon vorausgesetzt ist. Diesen nicht ganz einfachen Gedanken kann man einleitend mit Kant so erläutern, dass die empirischen Wissenschaften nach Sachverhalten in der Welt fragen, wohingegen der Philosophie die Welt als solche zum Problem wird. Hierzu ist aber eine grundsätzlich veränderte Form des Fragens notwendig. Denn die Welt, die in jeder empirischen Erfahrung als umgreifender Horizont vorausgesetzt ist, kann als Inbegriff dessen, was empirisch erfahren werden kann, selbst keine empirische Erfahrung sein. Die Welt kommt sozusagen in der Welt nicht vor, ohne deshalb ein Hirngespinst zu sein.
Die Philosophie fragt daher nicht nach etwas, was unabhängig von der Frage vorhanden ist, sondern nach etwas, was immer schon in der Frage als solcher auf unklare Weise impliziert ist. Mit anderen Worten: Für das Denken und die Sprache der Philosophie ist eine eigentümliche Selbstbezüglichkeit wesentlich, die im Denken und in der Sprache immer schon dunkel vorausgesetzt ist und die von der Philosophie aufgeklärt werden soll.
Denken und Sprechen
Denken und Sprechen sind verwandt, aber nicht identisch. Die Verwandtschaft kommt in der genannten, eigentümlichen Selbstbezüglichkeit zum Ausdruck, zu der Denken und Sprechen fähig sind. Wir können über alles nachdenken und sprechen: über das Wetter, den letzten Urlaub oder den Magnetismus. Wir können aber auch über die Sprache sprechen, über das Denken nachdenken.
Der Nichtidentität von Denken und Sprechen kommt man hingegen auf die Spur, wenn man der Frage nachsinnt, ob das Denken oder die Sprache die grundlegendere und bedeutendere Ausprägung der Selbstbezüglichkeit ist. Die philosophische Tradition ist dadurch charakterisiert, dass sie das Denken als grundlegender und bedeutender auffasst, die Sprache hingegen eher selten und fast widerwillig thematisiert – etwa als mehr oder minder taugliches Instrument zum Ausdruck des Denkens.
Rosenzweigs Denken am Leitfaden der Sprache will im kritischen Gegenzug gegen diese philosophische Tradition deutlich machen, dass das Denken zwar grundlegend ist, dass aber die Sprache, die sich auf der Grundlage des Denkens und seiner Logik erhebt, bedeutender ist als der Grund, auf dem sie ruht.
Rosenzweigs Projekt lässt sich vorab mit Hilfe eines Gleichnisses verdeutlichen. Es ist offensichtlich richtig, dass das Fundament für ein Haus im buchstäblichen Sinne grundlegend ist: auf ihm ruht das Haus und gewinnt so seine Stabilität. Es wäre aber offensichtlich falsch, wenn man nun aus dem grundlegenden Charakter des Fundaments schließen wollte, der Mensch müsse konsequenterweise im Fundament wohnen. Vielmehr lebt der Mensch vernünftigerweise in jenen Stockwerken des Hauses, die zwar durch das Fundament begründet und möglich gemacht werden, die jedoch nicht mit dem Grund identisch sind, sondern wesentlich über ihn hinausgehen, da sie sich über ihm erheben.
Rosenzweigs Sprachdenken setzt deshalb beim Denken als Grundlage an, um dann in einem entscheidenden Schritt über diesen Grund zur Sprache hinauszugehen. Denn das Denken begründet zwar die menschliche Existenz, die Sprache macht diese Existenz aber erst sinnvoll und lebenswert, indem sie sich und den Menschen über das reine Denken erhebt.
Denken und Allheit
Das Denken hat die Philosophie seit jeher fasziniert und in seinen Bann gezogen, weil es eine intime Beziehung zur Totalität aufweist. Sein und Denken sind eins, heißt es bei Parmenides, weil beides, Sein und Denken, schlechthin allgemein und umfassend sind. Was nicht ist, ist eben nichts; und was nicht gedacht werden kann, ist eben undenkbar.
Rosenzweig gesteht dieser Überlegung durchaus ihren grundlegenden Charakter zu; er macht aber darauf aufmerksam, dass das Grundlegende, gerade weil es das Grundlegende ist, nicht alles ist, weil sich das Wichtigere, Bedeutendere erst auf dem Grund erhebt und über ihn hinausgeht, d.h. sich von ihm unterscheidet und emanzipiert.
Bei Rosenzweig heißt es hierzu am Anfang des Sterns der Erlösung:
In jenem ersten Satz der Philosophie, dem „Alles ist Wasser“, steckt schon die Voraussetzung der Denkbarkeit der Welt … Denn es ist keine Selbstverständlichkeit, daß man mit Aussicht auf eindeutige Antwort fragen kann: „was ist Alles?“. Man kann nicht fragen: „was ist Vieles?“; darauf wären nur mehrdeutige Antworten zu erwarten; dagegen ist dem Subjekt Alles schon ein eindeutiges Prädikat vorweggesichert. Die Einheit des Denkens also leugnet, wer, wie es hier geschieht, dem Sein die Allheit abspricht. Der ganzen ehrwürdigen Gesellschaft der Philosophen von Jonien bis Jena wirft den Handschuh hin, wer es tut. (Stern, S. 13)
Mit diesen Sätzen bestimmt Rosenzweig den Ausgangspunkt seines Buches sehr prägnant. Das Denken glaubt sich seiner Vormachtstellung, die ihm die philosophische Tradition immer wieder zuspricht, absolut sicher sein zu können, weil die Wirklichkeit – so die implizite Voraussetzung – eine letztlich homogene Allheit bildet, die gerade deshalb im Denken und nur im Denken durch seine Leitfrage, was Alles sei, angemessen erfasst werden kann.
Was wird aber aus der von Jonien bis Jena gefeierten Einheit von Sein und Denken, wenn die Voraussetzung falsch ist; wenn die Wirklichkeit keine homogene Allheit, sondern eine heterogene Vielheit ist? Was hat es für Konsequenzen, wenn nicht alles Wirkliche über den einen Kamm des einen Seins und Denkens geschoren werden kann, weil eine konkrete Wirklichkeit sich weigert, in diesem All aufzugehen und zu verschwinden?
Was wäre das aber für eine sonderbare Störung, die sich der Vereinnahmung durch das All widersetzt? Was geht in der Totalität des Seins und des Denkens nicht auf? Oder besser und genauer: wer leistet Widerstand, wer sagt „Nein!“ zur Integration ins große Ganze?
Rosenzweigs Antwort lautet: Es sind wir Menschen, zwar nicht in der Reinheit unseres Denkens, wohl aber in der konkreten Einzelheit unseres Lebens und Handelns. Wir selbst als konkrete Personen sind also die Störenfriede der traditionellen Philosophie.
In diesem Sinne wird also darzustellen sein, wie Rosenzweig sich auf die Seite von uns Unruhestiftern stellt, um kritisch gegen die Philosophie der Tradition zu zeigen, dass wir uns selbst nur angemessen verstehen können, wenn wir uns von der Sprache her verstehen, die sich auf dem Grund des Denkens erhebt, mit ihm aber nicht identisch ist, weil die Sprache freier, bedeutender und konkreter ist als das reine Denken.
Ich-Sagen
Der konkrete, einzelne Mensch manifestiert seine Eigentümlichkeit, indem er „Ich“ sagt. Dabei ist es im Zusammenhang der hier angestellten Überlegungen wichtig, auf den Unterschied zwischen dem Ich-Sagen und dem Ich-Denken aufmerksam zu sein.
Das „Ich denke“, das nach Kant alle meine Vorstellungen begleiten können muss, ist allgemein und allumfassend. Die Selbstbezüglichkeit des Denkens nimmt hier die bestimmtere Form eines Bewusstseins seiner selbst an. Dieses reine Selbstbewusstsein im „Ich denke“ ist in jedem Menschen strikt identisch und dergestalt Ermöglichungsgrund der Allgemeingültigkeit des Logischen. Das Ich-Denken ist, wie Kant sehr plastisch sagt, der höchste Punkt, an den das Denken samt seiner Logik gleichsam angeheftet werden muss, um so seine Allgemeinheit zu erklären und zu sichern.
Indem der Mensch nun „Ich“ sagt (und nicht nur denkt), erhebt er sich über die Basis des allgemeinen Selbstbewusstseins. Er tritt das Abenteuer seiner je eigenen Selbstwerdung und Selbsterkenntnis an, die durch die Allgemeinheit des Ich-Denkens zwar ermöglicht, aber keineswegs erschöpft wird. Im Übergang vom Denken zum Sprechen gewinnt das Ich des Menschen also allererst seine konkrete Realität.
Bei Rosenzweig heißt es hierzu in der Mitte des Sterns der Erlösung:
Ich ist stets ein laut gewordenes Nein. Mit „Ich“ ist immer ein Gegensatz aufgestellt, es ist stets unterstrichen, stets betont; es ist immer ein „Ich aber“.
Im Ich-Sagen erhebt sich das konkrete Ich über sein allgemeines Selbstbewusstsein, indem es sich als „so und nicht anders“ zu erkennen beginnt. Freilich ist dies nur der Anfang der Selbsterkenntnis. Denn dieser Anfang wirft, wie Rosenzweig fortfährt, sofort eine neue Frage auf:
Dem „Nicht anders“ schlägt unmittelbar die Frage entgegen: „nicht anders als was denn?“ Es [das Ich] muß antworten: „nicht anders als alles“. Denn schlechthin gegen „alles“ soll etwas, was als „so und nichts anders“ bezeichnet wird, abgegrenzt werden. Und es ist „nicht anders“ als alles. Als anders als alles ist es schon durch das So gesetzt; das zum So hinzutretende „und nicht anders“ meint gerade, daß es, obwohl anders, dennoch auch nicht anders als alles, nämlich beziehungsfähig zu allem ist. (Stern, S. 193f.)
In dieser sehr gedrängten Passage ist eine tiefsinnige, am Leitfaden der Sprache gewonnene Auffassung des menschlichen Ich umschrieben. Es lohnt sich also, die verdichtete Formulierung schrittweise zu entfalten.
Das im konkreten Ich-Sagen lautwerdende Nein richtet sich gegen die ontologische Vereinnahmung des Ich durch die Allheit des Seins und des Denkens. Das zur Selbsterkenntnis erwachende Ich des Menschen wird seiner Einzigartigkeit als Aufgabe und Verpflichtung inne. Genau in diesem Moment gewinnt aber die Sprache für das erwachte Ich einen neuen Sinn, eine neue Lebendigkeit, die dem reinen Denken, das dem neuen Sprechen als Basis zu Grunde liegt, fremd ist.
Dieses sich nun deutlicher abzeichnende Verhältnis von Grund und lebendiger Existenz bildet den systematischen Dreh- und Angelpunkt von Rosenzweigs Sprachdenken. Deshalb sei noch einmal eigens betont, dass die Aufwertung des Ich-Sagens gegenüber dem Ich-Denken nicht bedeutet, dass das Denken und seine Logik einfach verabschiedet oder übersprungen wird. Wir sprechen nicht, d.h. wir sprechen nicht verständlich, wenn wir unlogisch sprechen; aber das korrekte Befolgen der Logik erschöpft noch nicht den Sinn einer lebendigen Rede, die sich über ihrer logischen Basis erhebt.
Die neue, durch das initiale „Nein“ gegen das homogene All gewonnene Dimension des Ich-Sagens bleibt aber, wie Rosenzweig deutlich macht, nicht beim bloßen „Nein“ stehen. Das Ich-Sagen gewinnt erst seine eigentliche Wirklichkeit in einem neuen „Ja“, das durch das initiale „Nein“ ermöglicht wird. Das im „Nein“ erwachte und vereinzelte Ich kann nämlich zu anderen Einzelnen in eine lebendige und sinnvolle Beziehung treten, die in dieser Form innerhalb des homogenen Alls nicht möglich wäre. Nur wer „Nein“ sagen kann, kann auch in einem bedeutsamen, wertvollen Sinne „Ja“ sagen.
Rosenzweig denkt hier am Leitfaden der Sprache vor allem an das Urphänomen des Gesprächs. Ein echtes, lebendiges Gespräch können nur Ich-Sager miteinander führen, weil das reine „Ich denke“ streng genommen monologisch ist. Im Denken beratschlagt das stumme Selbst mit sich selbst, so dass ihm die Sprache als ein bloßes Hilfsmittel und Instrument erscheint, mit dem sich das in der Einsamkeit Gedachte hin und wieder mitteilen lässt. Dieser Bezug auf Mitteilung und Sprache bleibt dem reinen Denken aber äußerlich, so dass ihm auch die konkrete und lebendige Beziehungsfähigkeit fremd ist, die Rosenzweigs Sprachdenken ins Zentrum seiner Überlegungen stellt.
Das Erwachen des Ich geht also mit der Entdeckung einer Sprache einher, die nicht länger instrumentell als bloßes Werkzeug des Denkens aufgefasst werden kann. Ich denke monologisch über etwas nach; ich spreche hingegen mit einer Person, d.h. einem konkreten Du, das mehr und anderes ist als ein Gegenstand des reinen Denkens. In der stummen Beziehung des denkenden Ich auf das Es seines Gegenstandes hat das monologische Ich einen Vorrang; in der genuin dialogischen Beziehung des sprechenden Ich auf ein Du hat hingegen das Du einen Vorrang. Ich bin Ich, weil ich vom Du angesprochen wurde und angesprochen werde. Deshalb kann mir ein echtes Gespräch eine Einsicht schenken, die ich mir nicht stumm und allein für mich selbst erdenken kann. Solange ich nur über etwas spreche, führe ich noch kein Gespräch und die Sprache bleibt ein Werkzeug; erst wenn ich mit jemandem spreche, erwacht die Sprache zum Leben.
Rosenzweigs „Sprachdenken“ rückt so zwei Tatsachen ins Zentrum, die die traditionelle Philosophie für unwichtig hält: die Tatsache, dass wir zum Sprechen (und somit auch zum lebendigen Denken) einen Gesprächspartner brauchen; und – wie jetzt noch zu zeigen sein wird – dass wir zum Sprechen (und somit auch zum lebendigen Denken) Zeit brauchen.
Zeit und Sinn
Rosenzweigs Sprachdenken orientiert sich, wie gezeigt wurde, am Urphänomen der Sprache, die über das reine Denken als ihren Grund hinausgeht. Zugleich ist das Sprachdenken auch ein Denken, ein neues Denken, wie Rosenzweig sagt. In seinem wichtigen Aufsatz, der den Titel „Das neue Denken“ trägt, heißt es dazu:
An die Stelle der Methode des Denkens, wie sie alle frühere Philosophie ausgebildet hat, tritt die Methode des Sprechens. Das Denken ist zeitlos, will es sein; es will mit einem Schlag tausend Verbindungen schlagen; das Letzte, das Ziel ist ihm das Erste. Sprechen ist zeitgebunden, zeitgenährt; es kann und will diesen seinen Nährboden nicht verlassen; es weiß nicht im voraus, wo es herauskommen wird; es läßt sich seine Stichworte vom andern geben. (Das neue Denken, S. 151)
Erneut bildet das Denken, genauer: das alte Denken der Tradition den Ausgangspunkt. Dieses Denken ist zeitlos und will es sein. In der Tat ist es der fragwürdige Stolz des traditionellen Denkens, „zeitlose“ Aussagen treffen zu können. Das Urteil „A = A“ ist nicht nur heute, sondern immer wahr.
Das scheint bei einer empirischen Aussage wie „Dieser Baum hat grüne Blätter“ anders zu sein. Doch der Schein trügt. Man muss das Urteil nur durch eine genaue Zeitangabe vervollständigen: Dieser Baum hat zu diesem genauen Zeitpunkt grüne Blätter. Das so vervollständigte Urteil ist, wenn es wahr ist, immer wahr.
Diese „zeitlosen“ Wahrheiten müssen bemerkenswerterweise häufig in der Vergangenheitsform formuliert werden: „Dieser Baum hatte am 23.4.2020 um 10 Uhr grüne Blätter“. Die vermeintliche „Zeitlosigkeit“ des reinen Denkens gleicht daher der Unabänderlichkeit der Vergangenheit. Deshalb kennt das reine Denken keine lebendige Gegenwart und Zukunft.
Es ist daher ein Selbstmissverständnis des Denkens, seine Unabhängigkeit von einem bestimmten Zeitpunkt als Un-zeitlichkeit, gar als Ewigkeit zu deuten. Denn das Denken imitiert hier nur die eigentümliche Eigenschaft der Zeit selbst, bei aller Veränderung, die in der Zeit geschieht, als Zeit unverändert zu bleiben. Alles verändert sich in der Zeit, die Zeit selbst bleibt dabei immer dieselbe und dauert so immer fort. Rosenzweig nennt die vermeintlich unzeitliche Geltung des Denkens deshalb genauer und zutreffender seine immerwährende Geltung. Das Denken verbleibt nämlich auch und gerade dort, wo es wahre, immerwährende Urteile fällt, jener linearen Zeit verhaftet, in der sich vieles verändert, die aber selbst unverändert, d.h. immer bleibt.
Das ursprüngliche „Nein“ des Ich, seine ontologische Rebellion gegen das All, richtet sich daher auch und vor allem gegen dieses monotone Immer. Denn jeder Zeitpunkt innerhalb der linearen Zeit ist identisch mit jedem anderen, die Sekunden verrinnen gleichförmig und machen alles in der linearen Zeit gleichgültig. Ebenso ist jedes wahre Urteil in Hinsicht seines Wahrheitswertes mit jedem anderen wahren Urteil identisch. Jeder wahre Gedanke, so Frege, bedeutet strikt dasselbe, nämlich immer wieder das Wahre. Radikaler kann man die Gleichförmigkeit des reinen Denkens und die Gleichgültigkeit seiner Urteile nicht ausdrücken.
Das Ich rebelliert gegen diese uniforme Gleichgültigkeit, indem es auf seine konkrete Einzigkeit, d.h. seine Unvertauschbarkeit pocht. Darüber hinaus will es in einer lebendigen Beziehung zu einem ebenso Unersetzlichen stehen – was die Beziehung ja überhaupt erst wertvoll und sinnvoll macht. Das Ich verlangt also im Übergang vom allgemeinen Selbstbewusstsein zur konkreten Selbsterkenntnis nicht nur nach einem neuen Denken, sondern in eins damit nach einer neuen Zeit, die nicht alles gleichgültig macht, sondern Wert und Einzigartigkeit möglich macht.
Zeitlosigkeit im Sinne des gleichgültigen Immer bedeutet Sinnlosigkeit. Sinn entsteht erst dort, wo ein Konkretes wirklich geschieht, d.h. einen wirklichen Anfang und ein wirkliches Ende hat – wie jeder sinnvolle Satz der Sprache. Alles, was ein wirkliches Ende hat, ist aber genuin vergänglich. Diese Vergänglichkeit verleiht der neuen Zeit des sprachlichen Ich erst ihre eigentümliche Sinndimension. Denn nur eine vergängliche Existenz gewinnt kraft ihrer Vergänglichkeit ihre einzigartige Würde, ihren unverwechselbaren Wert, an dem wir ein lebendiges Interesse nehmen, eben weil das so konkret Existierende fragil und nicht immerwährend ist. Die Zeit, so Rosenzweig, wird auf diese Weise „ganz wirklich. Nicht in ihr geschieht, was geschieht, sondern sie, sie selber geschieht“ (Neues Denken, S. 148).
Schluss
Der Stern der Erlösung gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil erörtert die „Immerwährende Vorwelt“, der zweite Teil die „Allzeiterneuerte Welt“ und der dritte Teil die „Ewige Überwelt“. Der erste Teil ist grundlegend für die beiden folgenden Teile und gerade deshalb ist er der unbedeutendste Teil. Denn das, was wirklich Wert und Bedeutung hat, erhebt sich über seinen immerwährenden Grund, den das monologische Denken denkt, in die Freiheit der dialogischen Sprache.
Die immerwährende Vorwelt ist wesentlich stumm, so dass sie am präzisesten in den nur uneigentlich sprachlichen Zeichen und Formeln der Logik und Mathematik dargestellt und erkannt werden kann. Auf diesem Grund erhebt sich die Welt der eigentlichen Sprache, des eigentlichen Verstehens: die Geschichte des menschlichen Ich und der menschlichen Freiheit.
Die im immerwährenden Grunde liegende Vorwelt lässt sich erklären, die Gegenwart unserer geschichtlichen Welt, in der Konkretes geschieht, lässt sich nur beschreiben – und zwar einzig und allein in der Sprache beschreiben. Oder genauer und besser formuliert: Unsere geschichtliche Gegenwart, in der wir als konkretes Ich in unverwechselbaren Beziehungen leben, lässt sich nicht nur in der Sprache beschreiben, sondern sie lässt sich auch wesentlich als Sprache beschreiben; als die Sprache des Sinns und des Verstehens, als die Sprache persönlicher Beziehungen, als die Sprache des Dialoges.
Das Gebäude, das Rosenzweig am Leitfaden der Sprache auf dem stummen Grund der immerwährenden Vorwelt errichtet, ist also kein Gebäude im Raum, sondern ein Gebäude in der gelebten Geschichte, in der Konkretes wirklich geschieht, weil es einen wirklichen Anfang und ein wirkliches Ende findet. So hat auch die lebendige, sinnvolle Sprache bei Rosenzweig einen wirklichen Anfang, an dem sie sich aus der immerwährenden Stummheit der Vorwelt erhebt und das Ich zur Selbsterkenntnis erwacht. Die Sprache findet bei Rosenzweig aber auch ein wirkliches Ende. Das führt zum Schluss auf den dritten Teil des Sterns, auf die ewige Überwelt, die eine übersprachliche Welt ist, weil sie die zukünftige Welt des vollkommenen Verstehens ist.
Wittgenstein endet seinen „Tractatus“, der exakt gleichzeitig mit dem Stern vor 100 Jahren erschienen ist, mit dem Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Ganz ähnlich und doch ganz anders schreibt Rosenzweig im Schlussteil des Sterns:
Was angeschaut werden kann, ist der Sprache überhoben, über sie hinausgehoben. Das Licht redet nicht, es leuchtet. … [Es strahlt] wie ein Antlitz, wie ein Auge strahlt, das beredt wird ohne daß sich die Lippen zu öffnen brauchen. Hier ist ein Schweigen, das nicht wie die Stummheit der Vorwelt noch keine Worte hat, sondern das des Worts nicht mehr bedarf. Es ist das Schweigen des vollendeten Verstehens. (Stern, S. 328)