Die koranische Feststellung, der Mensch sei ein Verlierer, klingt fatal. Ratlose Fragen drängen sich infolge dieser wie eine Verurteilung im Raum der koranischen Offenbarung hallenden Aussage auf: In welchem Sinn ist der Mensch ein Verlierer? In der Regel verliert man im Handel, im Wettbewerb, im Spiel; welche Art von Verlust wird hier gemeint? Geht es um materiellen oder immateriellen Verlust? Wann tritt ein solcher Verlust auf: schon im Diesseits oder erst im Jenseits? Kann der drohende Verlust abgewendet werden, und wenn ja: wie? Kann es dafür Entschädigung geben, und wenn ja, wann und in welcher Form?
Die Aussage entstammt der kurzen, nur aus drei Versen bestehenden Sure 103, Al-ᶜAṣr:
1 Beim Nachmittag [oder: Bei der Generation bzw. Epoche]!
2 Der Mensch ist wahrlich ein Verlierer,
3 nur die nicht, die glauben und gute Werke tun, einander zur Wahrhaftigkeit anspornen und zur Geduld anspornen.
Die ersten zwei Verse sind kurz und gehören offensichtlich zusammen; der dritte Vers ist etwa doppelt so lang wie die beiden ersten Verse zusammen und ist mit großer Wahrscheinlichkeit eine spätere Ergänzung. Die Sure beginnt mit einem Schwur, dessen Gegenstand al-ᶜaṣr eine Zeitangabe ist, die entweder „Nachmittag“ oder „Generation, die Epoche“ bedeutet. In 29 Suren, die meisten von ihnen gehören ebenso wie Sure 103 zur frühmekkanischen Phase der Verkündigung, werden solche Schwüre eingesetzt, um darauffolgenden Äußerungen Nachdruck zu verleihen. Am häufigsten wird bei Naturphänomenen und Zeiten, aber auch bei bestimmten Orten geschworen.
Die Forschung vermutet, dass diese – in der Bibel unbekannte – rhetorische Ausdruckweise im Koran in Anlehnung an feierlichen Eidformeln vorislamischer arabischer Wahrsager (kuhhān) zur Einleitung ihrer Orakelsprüche verwendet wird. Auch in der vormodernen islamischen Korangelehrsamkeit werden die koranischen Schwüre als Imitation vorislamisch-arabischen Sprachgebrauchs bezeichnet, ein weiteres Indiz für die Selbstverankerung des Korans in seinem arabischen sprachlichen und geistigen Kontext.
Mit dem Schwur bei der Zeitangabe al-ʿaṣr im Sinne des Nachmittags oder der Generation bzw. Epoche wird also die Feststellung, der Mensch sei wahrlich ein Verlierer, bekräftigt. Die Doppeldeutigkeit des Schwurgegenstands ist in unserem Zusammenhang weniger relevant als die Tatsache, dass der Verliererstatus des Menschen allgemein durch einen Schwur bei einer Periode, d.h. bei einer die Zeit betreffenden Angabe, bestätigt wird. Damit wird eine weitere bedeutende Seite des vorislamisch-arabischen Hintergrunds des Korans erschlossen. Denn dort herrschte die Überzeugung vor, der Mensch sei unter der umfassenden Herrschaft der schicksalhaften Zeit verloren, ihrer Macht könne kein Mensch entrinnen.
Der altarabischen Auffassung zufolge bewirkt die endlose Zeit durch die unaufhaltsame Wiederkehr der Perioden die Zerstörung von Wohnstätten und weiteren Werken menschlicher Zivilisation und bringt den Menschen Unheil und böse Überraschungen, vor allem den Tod. Es ist allein die Zeit, die die Menschen in diesem einzigen Leben zugrunde richtet; ein anderes existiert nicht, wie die im Koran rezipierten Araber behaupteten (Q 45:24):
Sie [die Araber] sagen: „Es gibt nichts anderes als unser Leben hier in dieser Welt. Wir sterben, und wir leben. Es ist allein die Zeit, die uns zugrunde richtet.“ Doch haben sie kein Wissen darüber, sie gehen allein Vermutungen nach. (Übersetzung von Hartmut Bobzin)
Mit dieser und ähnlichen Überzeugungen musste sich die koranische Verkündigung auseinandersetzen, um für ihre neuen Inhalte notwendigen Raum zu schaffen und sie den Adressaten überzeugend zu vermitteln. Vor diesem Hintergrund gilt das hermeneutische Prinzip, dass Vieles von dem, was der Koran lehrt, in Interaktion mit seinem vorislamisch-arabischen Kontext entwickelt worden ist und deshalb ohne Berücksichtigung dieses Kontexts nicht begriffen werden kann. In besonderer Weise betrifft dies die koranische Auffassung vom Menschen, dessen Leben und Schicksal im Mittelpunkt der Betrachtung sowohl in der vorislamisch-arabischen Poesie wie auch im Koran steht. Aus diesem Grund betrachten wir im Folgenden kurz das Menschenbild in jener Dichtung.
Das Menschenbild
In den vor ihrer Verschriftlichung ab der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts nur mündlich überlieferten Versen und Gedichten wird, soweit ich sehen kann, nicht über den Ursprung des Menschen reflektiert. Die wenig spekulativen Dichter richteten das Augenmerk eher auf die Wirklichkeit, auf die Realität menschlichen Lebens, das ohnehin in der arabischen Wüste des sechsten und siebten Jahrhunderts generell nicht gerade leicht war. Zu den üblichen Unannehmlichkeiten zählten die Wanderung auf der Suche nach Wasser und Nahrung für Mensch und Tier, der dadurch verursachte Bruch menschlicher Beziehungen sowie die Verödung verlassener Wohnstätten. Die verborgene Macht der endlosen Zeit, ad-dahr, wurde dafür sowie für die Wechselfälle des Lebens verantwortlich gemacht. Da dagegen der Mensch nichts unternehmen kann, resultiert daraus eine Haltung von Resignation, Hedonismus und Fatalismus. Denn alles im Leben läuft innerhalb dieser perpetuierenden Perioden ab, und das Leben endet mit dem Tod, dessen Termin vorbestimmt ist. So ist die conditio humana beschaffen; dem schicksalhaften Diktat der Zeit sind alle Menschen unterworfen, die Früheren wie die Späteren, eine Ausnahme gibt es nicht.
Der Koran hält mit Nachdruck dagegen, indem er die Endlichkeit der Zeit betont: Ebenso wie Gott die Welt samt Zeit schuf, wird er sie am Jüngsten Tag beenden, der im Koran auch „der Letzte Tag“, al-yaum al-āḫir, heißt und mithin das Ende diesseitiger Zeit bedeutet. Der Koran wird außerdem nicht müde zu betonen, dass keine andere Macht außer Gott uneingeschränkt über die Entstehung, den Werdegang und das Schicksal eines jeden Menschen im Diesseits und Jenseits verfügt. Die Zeit verliert im Koran ihre Unendlichkeit und ihre Bestimmungsgewalt über die Menschen; sie wird zu Zeitabschnitten: Tagen, Nächten, Tageszeiten, Monaten und Jahren fragmentiert. Deren Wechsel wird stets unmittelbar von Gott bewirkt, ihre immer wiederkehrenden Perioden dienen als Zeichen der göttlichen Macht.
Auf diesen geistigen Zusammenhang wird bei der Entfaltung des koranischen Menschenbildes bezuggenommen. Bei einer Periode, die im Sinne der Generation auf das Menschenleben hinweist, im Sinne des Nachmittags als Gebetszeit fungiert und inzwischen eine der täglichen fünf Gebetszeiten ist, wird geschworen, um zu bekräftigen, dass der Mensch allgemein, d.h. alle Menschen, Verlierer sind. In einer Ali, dem Vetter und Schwiegersohn Muhammads und vierten Kalifen, zugeschriebenen Lesart der ersten zwei Verse der Sure steht sogar, dass der Mensch „bis zum Ende der Zeit“ wahrlich ein Verlierer ist.
Der dritte und letzte Vers der Sure 103 bietet einen soteriologischen Ausweg aus der Misere der Menschheit: Diejenigen, die glauben, gute Werke tun und sich gegenseitig zu Wahrhaftigkeit und Geduld anspornen, bleiben vom Verliererstatus verschont. Somit nennt der Koran vier Verhaltensweisen, zu denen die Menschen aufgefordert werden, damit ihr grundsätzlicher Stand als Verlierer invertiert wird. Der Glaube bildet die Grundlage der drei ethischen Handlungen, die im Vers auf den Glauben folgen und tatsächlich aus ihm abgeleitet werden. Die Menschen werden zuallererst zum Glauben aufgefordert; auf dem Glauben basierend sollen sie Gutes tun und sich gegenseitig zur Wahrhaftigkeit und Geduld verpflichten. Nur so können sie nach dem zitierten Vers nicht mehr zu den Verlierern gezählt werden. Dementsprechend lassen sich die Menschen in zwei Kategorien aufteilen: die Verlierer und die ethisch handelnden Gläubigen. Beide Kategorien betrachten wir genauer im Folgenden.
Der menschliche Zustand des Verlierers
Zunächst sei erwähnt, dass im Koran kommerziell-theologische Terminologie häufig eingesetzt wird, um theologische Lehren vor allem in Bezug auf die Eschatologie und die damit verbundenen Sanktionen zu vermitteln. Die metaphorische Verwendung von kommerziellen Ausdrücken im theologischen Sinne passt nach Charles Torrey (The Commercial-Theological Terms in the Koran, 1892) zur Geschäftsmentalität des Propheten Muhammad und seiner arabischen Adressaten im unmittelbaren Umfeld. Darunter fallen häufig verwendete Marktausdrücke, wie Namen, Verben und Adjektive, die die Tätigkeiten der Abrechnung, Aufzählung, des Wiegens und Abwiegens bedeuten, sowie Stellen, an denen im Koran von Lohn, Belohnung und Verdienst aufgrund von erbrachter Leistung sowie von Rückzahlung geredet wird.
Ebenfalls gehören dazu negative und positive Handelstermini, die einerseits Verlust, Täuschung und unfairen Handel oder andererseits profitablen Verkauf thematisieren. Insgesamt stellt der Koran die Befolgung seiner Lehren, d.h. den Übertritt zum Islam, als gewinnbringenden Handel dar (Q 35:29): Diejenigen, die Gottes Buch vortragen und das Gebet verrichten und von dem spenden, womit wir sie versorgten, heimlich oder offen, erhoffen einen Handel, der besteht. (Bobzins Übersetzung, leicht modifiziert)
Unter den Versen, die von Menschen als Verlierern sprechen, verdeutlicht Q 4:119 in welchem grundsätzlichen Sinne dieser Zustand gemeint ist: Derjenige, der einen Pakt mit dem Satan schließt, ist ein Verlierer. Dieser Gedanke bringt uns zum Beginn der Menschheit zurück.
Der Mensch ist eine Schöpfung Gottes. Als dieser den Beschluss fasst, den Menschen zu erschaffen, teilt er den versammelten Engeln mit, er sei dabei, auf der Erde einen „Nachfolger“ bzw. „Statthalter“ (ḫalīfa) einzusetzen. Die Engel missbilligen diese Entscheidung und sagen voraus, dass der Mensch auf Erden Unheil stiften und Blut vergießen wird (Q 2:30). Genauso wie der arabische Ausdruck „ḫalīfa“ kann die Aussage der Engel unterschiedlich interpretiert werden; dennoch deutet sie auf eine grundsätzliche Spannung zwischen den beiden Arten der Geschöpfe hin, welche der Teufel (Iblīs) offen anspricht. Er widersetzt sich dem Befehl Gottes an die Engel, sich vor dem neugeschaffenen Adam niederzuwerfen, mit einem der Elementenlehre entnommenen naturwissenschaftlichen Argument, er sei höheren Ranges als Adam, da Gott ihn aus Feuer erschaffen habe, während Adam aus Lehm erschaffen wurde.
Für die Materie, aus der Gott Adam erschuf, gibt es im Koran mehrere Bezeichnungen wie z.B. „etwas Anhaftendes“, „ʿalaq“, (Q 96:2), „Lehm“, „ṭīn“, (Q 7:12), „Erde“, „turāb“ (Q 3:59), „Ton“, „ṣalṣāl“ (Q 55:14) oder „klebriger Lehm“, „ṭīn lāzib“ (Q 37:11). Sie alle bedeuten einen irdischen Stoff niederen Wertes. Dennoch hat Gott die Menschen in schönster Gestalt geformt (Q 40:64. Vgl. 95:4). Dass Gott dem Menschen von seinem Geist einhauchte, wird an anderen Stellen erwähnt (Q 15:29. Vgl. 32:9). Die dramatische Szene mit dem Teufel endet mit der göttlichen Erlaubnis, dieser dürfe die Menschen bis zum Jüngsten Tag verführen und irreleiten. Davon macht der Teufel rasch Gebrauch; Adam und seine Frau, die im Koran übrigens nicht mit ihrem Namen genannt wird, unterliegen der Versuchung und essen vom verbotenen Baum. Sie werden aus dem Paradiesgarten auf die Erde hinab vertrieben. Seitdem ist das Menschenleben von satanischen Prüfungen geprägt; die Menschen befinden sich in allgemeiner gegenseitiger Feindschaft (Q 2:36).
Der Koran führt den Ungehorsam des ersten Ehepaares darauf zurück, dass Adam das Gebot Gottes vergessen hat (Q 20:115). Sein Handeln war also kein absichtlicher Akt des Widerstands oder der Emanzipation, sondern lediglich eine Folge der Vergesslichkeit, der eigenen Schwäche. Aus diesem Grund sah ihm Gott diesen Fehler bald nach (Q 2:37). Von einem Sündenfall nach christlicher Vorstellung kann im Islam nicht die Rede sein. Gegen die menschliche Vergesslichkeit wenden sich wiederholt Gottes Propheten und Gesandte; Muhammad wird im Koran als „mahnender Erinnerer“ bezeichnet (Q 88:21); der Koran bezeichnet sich selbst mehrfach als „mahnende Erinnerung“ (z.B. Q 81:27; 36:69; 3:58).
Als Geschöpf Gottes befindet sich der Mensch nach koranischer Auffassung in einem ontologischen Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Schöpfer, dem er sich infolge dessen stets ergeben muss. Die Selbstergebung, arab. islām, ist die natürliche Haltung des Menschen gegenüber Gott und die Religion die natürliche Veranlagung des Menschen (fiṭra), wie es in Q 30:30 steht: „Richte also nun dein Antlitz auf die Religion als ein Rechtgläubiger! Dies ist die natürliche Art, in der Gott die Menschen schuf! Es gibt keine Abänderung für die Art der Schöpfung Gottes. Dieses ist die gerade Religion. Die meisten Menschen wissen es jedoch nicht.“
In diesem Sinn werden vor-muhammedanische Propheten als Sich-Ergebene, muslimūn, bezeichnet. Erst an späten Stellen im Koran wird der Begriff islām zur Bezeichnung der neuen Religion Muhammads (Q 5:3). Und im Einklang mit dem Alten und Neuen Testament bezeichnet der Koran den Menschen als Knecht bzw. Diener, ʿabd, Gottes. Alle Geschöpfe einschließlich der Propheten wie Jesus und Muhammad sind Diener Gottes (Q 51:56). Im Falle Jesu wird dies gegen den christlichen Glauben an ihn als Sohn Gottes bekräftigt (Q 4:172).
Die Verbundenheit von Menschen mit dem Teufel äußert sich in bestimmten Haltungen und Handlungen, die unmittelbar zum Verlust führen: So sind Verlierer diejenigen, die den Jüngsten Tag und die damit zusammenhängende Begegnung mit Gott leugnen (Q 10:45. Vgl. 40:78) sowie diejenigen, die bei der Anbetung Gottes schwanken (Q 22:11). Kain ist ein Verlierer, weil er seinen Bruder tötete (Q 5:30); ebenfalls diejenigen, die den Propheten nicht folgen (Q 7:92) oder von Gottes Vergebung und Barmherzigkeit ausgeschlossen sind (Q 7:149). Der größte Verlust schlechthin ist der Unglaube an Gott (Q 2:121), der sich auch als Leugnung der Zeichen Gottes artikuliert (Q 39:63). In Sure 11, V. 18-24 werden diejenigen, die an Gott nicht glauben, Lügen über ihn verbreiten und andere daran verhindern, an ihn zu glauben der Taubheit und Blindheit bezichtigt; sie haben ihre Seelen verloren und mithin auch alles, was sie sich ersonnen haben. Deshalb sind sie im Jenseits diejenigen, die am meisten verlieren. Ihnen werden die Gläubigen, die Gutes tun, gegenübergestellt; sie verweilen ewig im Paradies. Im Gegensatz zu den tauben und blinden Ungläubigen können sie sehen und hören.
Gläubige und Ungläubige können nicht gleichgesetzt werden, genauso wie Gewinner und Verlierer nicht gleichzusetzen sind. Dies ist der zentrale Gedanke, den der Koran hier als Mahnung äußert. Der Unglaube bringt Verlust, der Glaube Gewinn. Der Verlust, auf den es im Koran ankommt, ist primär der geistliche, der während des Menschenlebens beginnt und im Jenseits zur Vollendung kommt. Aufgrund des schon während der koranischen Verkündigung einsetzenden politischen und militärischen Erfolgs der frühen Muslime hat der Verlust im Unglauben auch politische, militärische und materielle Aspekte. Die Ungläubigen verloren zunehmend ihre Macht und Vermögen; die Muslime konnten sich dagegen umfangreicher Gewinne und Beute erfreuen.
Zum Glauben aufgefordert
Die Menschen haben an Gott zu glauben, wenn sie nicht zu den Verlierern gehören wollen. Der Glaube, arab. īmān, bildet das Fundament der neuen metaphysischen und ethischen Sphäre, die durch die koranische Verkündigung gestaltet wird, und steht somit in ihrem Mittelpunkt. Vom Glauben an Gott aus leitet sich der Glaube an die Propheten und ihre Botschaften ab, sowie der Glaube an das Jüngste Gericht. An etwas glauben bedeutet nach koranischer Auffassung, es für wahr halten. Das heißt, der Glaube ist eine Reaktion auf Vorangegangenes, Mitgeteiltes. Zentraler Gegenstand solcher Mitteilung ist Gott: dass er existiert, dass er Einer ist, welche Eigenschaften zu ihm gehören und welche Werke er vollbrachte.
Vor allem zwei von ihnen haben im Koran besondere Bedeutung: die Schöpfung und das Jüngste Gericht. Von diesen beiden Werken Gottes ist das menschliche Dasein fest umklammert. Beide sind vom gläubigen Menschen für wahr zu halten, der sich damit dazu bekennt, Gott, dem Schöpfer und Richter gegenüber, ergeben zu sein und von ihm am Jüngsten Tag zur Rechenschaft gezogen zu werden. In diesem Sinne wird Vers Q 7:172 als Hinweis auf einen ursprünglichen Bund zwischen Gott und dem Menschen interpretiert, dem zufolge die Bekenntnis des Menschen zu Gott angeborener Teil der menschlichen Natur und deshalb am Auferstehungstag Gegenstand des Gerichts ist: Damals, als dein Herr aus Adams Kindern, aus ihren Lenden, ihre Nachkommenschaft nahm und sie gegen sich zeugen ließ: „Bin ich nicht euer Herr?“ Sie sagten: „Jawohl, wir bezeugen es.“ Damit ihr nicht am Tag der Auferstehung sagt: „Wir hatten davon keine Ahnung.“ (Übersetzung von Hartmut Bobzin)
Angesichts drohender eschatologischer Strafen, mit denen die Menschen aufgrund ihrer Untreue zum ursprünglichen Bund mit Gott rechnen müssen, wird der Glaube an Gott mit der Furcht vor ihm assoziiert, die durch das Vertrauen auf seine Barmherzigkeit ausgeglichen wird.
Wie kommt der Mensch zum Glauben? Gott wendet sich an die Menschen auf unterschiedliche Weise und erwartet von ihnen eine angemessene Erwiderung durch den Glauben. Gottes an die Menschen gerichtete Äußerungen sind seine āyāt, Plural von āya, das sowohl ein Zeichen wie auch einen geoffenbarten Vers bedeutet.
Der Mensch ist mit dem Vermögen ausgestattet, Gottes verbale und nichtverbale Zeichen wahrzunehmen und dadurch zum Glauben zu gelangen. Hauptsächlich zwei Kategorien der göttlichen Kommunikation mit dem Menschen lassen sich beschreiben, mit denen er zum Glauben an Gott aufgefordert wird, Die kosmischen Zeichen: die Erschaffung der Welt und die infolgedessen hergestellte kosmische Ordnung gelten im Koran als Zeichen, deren Wahrnehmung zum Glauben an Gott den Schöpfer führen soll (Q 3:190; 10:6): In der Erschaffung von Himmel und Erde und im Wechsel von Tag und Nacht sind wahrlich Zeichen für Einsichtsvolle.
Im Wechsel von Nacht und Tag und in dem, was Gott im Himmel und auf Erden erschaffen hat, sind wahrlich Zeichen für Menschen, die Gott fürchten.
Vor dem Hintergrund der vorislamisch-arabischen Zeitvorstellungen fungieren im Koran besonders die von Gott zustande gebrachten Zeiten als Zeichen göttlicher Omnipotenz (Q 36:37-40): Ein Zeichen ist für sie die Nacht: Wir ziehen den Tag weg von ihr, und plötzlich stehen sie im Dunkeln. Die Sonne läuft zu einem ihr gesetzten Ort. Das ist des Starken, Wissenden Vorherbestimmung. Dem Mond bestimmten wir Stationen, bis er zurückkehrt wie ein alter Dattelpalmenstiel. Die Sonne darf niemals den Mond erreichen und die Nacht den Tag nicht überholen: Sie alle schweben auf einer Himmelsbahn. (Übersetzung von Hartmut Bobzin)
Der Koran betont in diesem Zusammenhang, dass Gott die Zeiten in den Dienst der Menschen gestellt hat, damit sie ihren Lebensunterhalt verdienen und eine Zivilisation aufbauen (Q 17:12):
Wir machten Nacht und Tag zu zwei Zeichen; da löschten wir das Zeichen der Nacht und machten das Zeichen des Tages klar sichtbar, auf dass ihr nach der Huld eures Herrn strebt, die Zahl der Jahre kennenlernt und das Rechnen. Alle Dinge haben wir genau erklärt und ausgelegt. (Übersetzung von Hartmut Bobzin)
Ebenfalls hat Gott die Nacht dafür bestimmt, dass die Menschen sich ausruhen (Q 25:47, 62). Der Mensch steht somit im Mittelpunkt des Interesses Gottes, der ihm alles zur Verfügung stellt, was ihm nutzt. Dem Menschen obliegt es, dies im Glauben anzuerkennen und Gott dankbar zu sein (Q 7:10; 16:78).
Deutlicher und eindringlicher als in den Naturzeichen kommt die Aufforderung zum Glauben in den verbalen Zeichen, āyāt, der Offenbarung (waḥy, tanzīl) zum Ausdruck. Die Menschheitsgeschichte besteht im Koran aus prophetischen Perioden. Denn damit der Aufforderung zum Glauben Folge geleistet wird, sendet Gott Propheten zu den Völkern, die ihnen die verbalen Zeichen jeweils in ihren Sprachen verkünden (Q 14:4; 10:47; vgl. 16:36). Auch den Arabern ist der Koran in arabischer Sprache verkündet worden (Q 12:2). Auf diese Weise ermöglicht Gott den Menschen, seine Offenbarungen zu verstehen. Sollten sie es nicht tun, müssen sie die Verantwortung dafür tragen. (Q 41:44).
Mit zahlreichen Ausdrücken deutet der Koran auf kognitive Tätigkeiten hin, die dazu dienen, dass die Menschen mittels der Vernunft und der intellektuellen Betrachtung der Naturzeichen und vergangener Zeiten an Gott glauben. So heißt es z.B. an Q 2:164, 242; 23:80, in der Übersetzung von Hartmut Bobzin: „In der Erschaffung der Himmel und der Erde und im Wechsel von Nacht und Tag und in den Schiffen, die auf dem Meere fahren, den Menschen zu Nutzen, und in dem, was Gott von Himmel an Wasser herniedersendet und damit die Erde nach ihrem Tod belebt und auf ihr jede Art von Getier ausbreitet, und darin, dass er den Winden freien Lauf lässt und den Wolken, die zwischen Himmel und Erde in den Dienst gestellt sind: Wahrlich, darin sind Zeichen für Menschen, die begreifen.
So macht Gott euch seine Zeichen klar. Vielleicht begreift ihr ja.
Er ist es, der lebendig macht und sterben lässt, und bei ihm liegt der Wechsel von Nacht und Tag; wollt ihr denn nicht begreifen?“
Die Voraussetzung dafür ist dadurch erfüllt, dass der Mensch vernunftbegabt und lernfähig ist. Gott ist im Koran der erste Lehrer des Menschen; er lehrte Adam die Namen aller Seienden (Q 2:31), er lehrte den Menschen alles, was er nicht wusste (Q 96:3-5), besonders die Sprache und den Koran (Q 55:1-4). Das Wissen kommt also von Gott; Wissen, dessen Urheber nicht Gott ist, ist kein Wissen. Diese Auffassung korrespondiert mit der koranischen Bezeichnung der vorislamischen Zeit Arabiens als Unwissenheit (ǧāhilīya). Diejenigen, die die Zeichen Gottes für wahr halten, reagieren mit Dankbarkeit (šukr), Gottesfurcht (taqwā) und Glauben. Diejenigen, die die Zeichen Gottes leugnen, sind die Ungläubigen, die Verlierer.
Hier möchte ich erwähnen, dass das arabische Wort für Unglaube kufr ursprünglich bedeutet, dass jemand etwas bedeckt, versteckt, unsichtbar macht. Im ursprünglichen Sinn ist der Ungläubige jemand, der die Augen gegen Gottes natürliche wie verbale Offenbarungen absichtlich schließt, sie nicht wahrnimmt und folglich an deren Urheber nicht glaubt. Im Koran steht das intellektuelle Vermögen des Menschen im Dienst des Glaubens.
Dennoch stellt der Koran eindeutig fest, dass menschliches Bemühen, wie etwa dies des Propheten, Menschen zum Glauben zu bewegen, erst dann gelingen kann, wenn Gott es will (Q 6:109-111).
Werke des Glaubens
Der Glaube äußert sich in der Anbetung Gottes und im ethischen Handeln. Denn die theoretische und die praktische Seite des Glaubens sind untrennbar. In diesem Sinne werden die Menschen dazu aufgefordert, ihren Glauben mittels guter Taten zum Ausdruck zu bringen. Schon in recht frühen Verkündigungen werden der Glaube an den Jüngsten Tag, das Gebet und die karitativen Werke eng miteinander verbunden, wie es z.B. in Sure 107 steht:
1 Sahst du wohl den, der das Gericht zur Lüge erklärt?
2 Ja, das ist der, der mit der Waise hart verfährt
3 und der nicht zu spenden anspornt, was den Armen nährt.
4 Ja, wehe den Betern,
5 die ihr Gebet nicht ehren,
6 die nur gesehen zu werden begehren,
7 die Hilfeleistung verwehren! (Übersetzung von Hartmut Bobzin)
An vielen Stellen im Koran wird die Notwendigkeit hervorgehoben, den Hilfsbedürftigen in der Gemeinde zu helfen. Dennoch müssen solche Taten genauso wie der Vollzug von Riten auf dem Glauben basieren, sonst würden sie nicht akzeptiert. Die rituelle Waschung dient zwar unmittelbar der Sauberkeit des Körpers, soll jedoch darüber hinaus den Menschen in einen Zustand physischer und seelischer Reinheit versetzen, um der göttlichen Präsenz im Gebet würdig zu sein. Die Verkündigung könnte ebenfalls die Reinheit des Geistes bewirken, wie in Q 80:3 steht.
An einer Stelle kritisiert der Koran die Beduinen, weil sie sich äußerlich wie Muslime verhalten, dennoch in Wahrheit nicht glauben (Q 49:14). In der medinensischen Phase der Verkündigung tritt zu den karitativen Tätigkeiten die Beteiligung am militärischen Kampf, Dschihad, hinzu, um den Islam zu verbreiten. Die gläubigen Muslime werden mehrfach eindringlich aufgefordert, neben ihrem Propheten zu kämpfen oder den Kampf im Dienste des Glaubens finanziell zu unterstützen (Q 49:15). Dementsprechend wird ihnen geboten, neben Gott seinem Gesandten uneingeschränkt zu gehorchen, denn er ist nicht nur der Verkünder von Offenbarung, sondern auch das politische und militärische Oberhaupt des jungen Gemeinwesens. Für diesen Gehorsam werden jenseitige Belohnungen versprochen (Q 4:59): „O ihr, die ihr glaubt! Gehorcht Gott, und gehorcht dem Gesandten und denen unter euch, die Befehlsgewalt besitzen! Und wenn ihr über etwas streitet, dann bringt es vor Gott und den Gesandten, wenn ihr an Gott glaubt und an den Jüngsten Tag. Das ist gut und nimmt den besten Ausgang.“ (Übersetzung von Hartmut Bobzin)
Gegenseitige Anspornung zur Wahrhaftigkeit
Der Gläubige ist Teil einer Gemeinschaft (umma, milla), die auf der Basis gemeinsamen Glaubens gegründet ist. Es kann vermutet werden, dass die Gemeinschaft der Gläubigen, al-mu’minūn, wie dieser Ausdruck zumindest in den mekkanischen Suren des Korans verwendet wird, nicht nur die Anhänger Muhammads, sondern ebenfalls die anderen an Gott Gläubigen, wie die Juden und die Christen, umfasst. Im späteren Verlauf der koranischen Verkündigung in Medina jedoch beginnt die Identität der neuen Gemeinschaft, sich allmählich herauszukristallisieren und die Religion der Muslime, die im Koran als Wiederherstellung der Religion Abrahams präsentiert wird, vom Judentum und Christentum abzugrenzen. Der Koran führt die Vielfalt der Völker und Gemeinschaften auf den Willen Gottes zurück, dass sich die Menschen gegenseitig kennenlernen (Q 49:13): „Ihr Menschen! Wir erschufen euch als Mann und Frau und machten euch zu Völkern und zu Stämmen, damit ihr einander kennenlernt. Derjenige gilt bei Gott als edelster von euch, der Gott am meisten fürchtet. Gott ist wahrlich wissend, kundig.“
In diesem Geflecht bilden die Muslime „eine Gemeinschaft der Mitte“ (Q 2:143). Die Aufforderung an die Gläubigen, sich gegenseitig zur Wahrhaftigkeit, al-ḥaqq, zu ermutigen, beruht auf dem Glauben, dass Gott der absolut Wahre ist und dass er existiert. Wahrheit und Realität gehören hier zusammen. Gott existiert im Gegensatz zu den Götzen, die von den Ungläubigen für Götter gehalten, vom Koran aber als „nichtig“, bāṭil, bezeichnet werden (Q 22:62). Genauso wie der Ausdruck ḥaqq, wahr, Wahrheit, im Arabischen sowohl die Wahrheit des Seins als auch die Wahrheit der Rede bedeutet, bedeutet bāṭil sowohl die Nichtigkeit im Sinne des Nichtseins als auch die Lüge. Gott, Allāh, ist allein der wahre Gott, der Lebensschaffende, Allmächtige; und weil er so ist, konnte die Erschaffung des Menschen stattfinden und kann jedes Mal die Natur wiederbelebt werden (Q 22:5-6). Der wahre Gott hat die ganze Schöpfung wahrhaftig vollzogen (Q 46:3).
Weil Gott der Wahre ist sowie wahrhaftig existiert und alles geschaffen hat, ist dementsprechend seine Offenbarung, der Koran, wahr, obwohl die Gegner behaupten, der Verkünder sei besessen. Die objektive Wahrheit der Offenbarung hängt nicht von den persönlichen Neigungen der Ungläubigen ab (Q 23:70-71). Weil diese Offenbarung wahr ist, bestätigt sie die früheren Offenbarungen, die Thora und das Evangelium, die wie der Koran aus derselben göttlichen Quelle stammen (Q 35:31). Die damit erklärte Anerkennung der Richtigkeit der heiligen Schriften der beiden älteren monotheistischen Religionen wird an medinensischen Stellen durch die Beschuldigung der Juden eingeschränkt, die Worte ihrer Schrift entstellt zu haben (Q 2:75; 4:46; 5:13,41). Der Vorwurf reflektiert die tiefen Spannungen zwischen Muhammad und den Juden in Medina. Die von Muhammad verkündete Religion wird in diesem Zusammenhang zur Religion der Wahrheit erklärt (Q 9:33): „Er ist es, der seinen Gesandten mit der rechten Leitung sandte und mit der Religion der Wahrheit, um ihr zum Siege zu verhelfen über alle Religion, mag es den Beigesellern auch zuwider sein.“ (Übersetzung von Hartmut Bobzin)
Gegenseitige Anspornung zur Geduld
Schon im vorislamischen Arabien unter den schweren Lebensbedingungen der Wüste war Geduld oder Standhaftigkeit, ṣabr, eine hochgeschätzte Tugend. Im Koran wird sie zu einer Begleittugend des Glaubens. Dem Verkünder wird empfohlen, nach dem Vorbild früherer Gesandter geduldig zu sein, auch wenn er der Lüge bezichtigt wird (Q 46:35; 6:34). Die Gläubigen werden besonders im Krieg zur Geduld aufgefordert (Q 3:200); den aus Mekka ausgewanderten Muslimen wird Geduld bescheinigt (Q 16:110). Angesichts der Unterdrückung des Pharaos ruft Mose sein Volk zur Geduld auf (Q 7:128). An einer Stelle wird die Geduld mit dem Gebet kombiniert und damit zu einer allgemeinen Tugend des Glaubens erklärt (Q 2:45), wobei diese Tugend eine Gabe Gottes ist (Q 2:250), der die Geduldigen unterstützt (Q 2:153). Derjenige, der in Geduld geübt ist, erkennt die Zeichen Gottes und ist dankbar (Q 31:31).
Geschlechterverhältnis
Nach Vers Q 30:21 wurde die Frau aus dem Mann geschaffen, damit er bei ihr Ruhe findet. Mann und Frau sind aus einer einzigen Seele geschaffen (Q 7:189; 39:6), was als Hinweis auf die Gleichheit der menschlichen Natur beider Geschlechter verstanden werden kann. Dennoch wird in dem viel beachteten Vers Q 4:34 im Sinne patriarchaler Gesellschaft eine Hierarchie der Geschlechter präsentiert, die besonders in der Moderne intensiv diskutiert wird:
Die Männer führen Aufsicht über die Frauen, weil Gott den einen von ihnen den Vorzug vor den anderen gewährt und weil sie [die Männer] etwas von ihrem Vermögen aufwenden. Die frommen Frauen sind demütig ergeben, hüten das Verborgene, weil auch Gott es hütet. Diejenigen aber, deren Ungehorsam ihr befürchtet, die ermahnt, haltet euch fern von ihnen im Ehebett, und schlagt sie. Wenn sie euch gehorchen, dann unternehmt nichts weiter gegen sie. Gott ist erhaben, groß.
Wie ich an anderer Stelle schon dargelegt habe („Ist Gewalt eine Tugend im Koran?“ in: Cleophea Ferrari und Dagmar Kiesel (Hgg.), Tugend. Frankfurt: Vittorio Klostermann 2016, S. 131-152, besonders S. 143-146), werden besonders von muslimischen Frauen große Anstrengungen unternommen, diesen Vers vor dem Hintergrund moderner Lebensverhältnisse und Geschlechtergleichheit auszudeuten. Denn der Vers stellt nicht nur die Höherstellung der Männer gegenüber den Frauen fest. Noch problematischer ist der Befehl an die Ehemänner, ihre Frauen im Falle befürchteten Ungehorsams mit Schlägen zu bestrafen. Mit Mühe wird manchmal versucht, den gewaltvollen Imperativ „schlagt sie“ zu entschärfen, indem z.B. behauptet wird, dass es sich dabei nicht um das Zufügen von Schmerzen handele und deshalb lediglich ein leichter Gegenstand wie ein Tuch oder ein kleines Holzstück zum Schlagen verwendet werden solle.
Solche Interpretationen überzeugen tatsächlich nicht, denn der Wortlaut lässt kaum Spielraum für dessen Umdeutung. Der Inhalt dieses Verses kann lediglich durch die Berücksichtigung des sozialen Umfelds seiner Entstehung beleuchtet werden. Zunächst sei erneut darauf hingewiesen, dass die an der Stelle erwähnten Strafmaßnahmen, die Ehefrauen zu ermahnen, im Bett zu meiden und schließlich zu schlagen, im kausalen Zusammenhang mit der Befürchtung der Männer stehen, ihre Frauen würden sich gegen sie ungehorsam verhalten. Das heißt, die Ehemänner müssten ihr Ehefrauen züchtigen, wenn diese die natürliche Familienordnung, wie sie im ersten Teil des Verses beschrieben wird, durch ihren Ungehorsam durcheinanderzubringen versuchen würden. Mit dem befürchteten Ungehorsam wird unsittliches Verhalten gemeint, das eine Umkehrung der natürlichen Verhältnisse bedeutet. Die Männer, denen es wegen ihrer natürlichen Vorzüge obliegt, für ihre Frauen zu sorgen, müssen ebenfalls dafür sorgen, dass die natürliche Rangordnung der Geschlechter intakt bleibt. Dass Gewaltanwendung zu den Instrumentarien gehört, die dem Koran zufolge zu diesem Zweck eingesetzt werden sollten, ist bedingt durch vormoderne Normen, die nicht nur im Orient geläufig waren.
Um den Inhalt des umstrittenen Verses besser beurteilen zu können, müssen wir, wie bereits angedeutet, einen Blick auf seinen Entstehungskontext werfen. Im vorislamischen Arabien herrschte der Brauch vor, weibliche Neugeborene lebendig zu begraben. Von Natur aus schwach und unfähig, sich selbst zu verteidigen, galten Frauen den Arabern als leichte Beute im Krieg und daher im Falle von Gefangennahme und Vergewaltigung als Gefährdungsfaktor für die kollektive Ehre der Familie. Also haben sich viele Väter dazu entschlossen, sich dieser Sorge früh zu entledigen.
Im Koran wird der Umgang der vorislamischen Araber mit ihren Töchtern verspottet und abgelehnt. So gehört zu den dort dargestellten apokalyptischen Szenen die ironische Befragung des lebendig begrabenen neugeborenen Mädchens nach der Schuld, wegen der es umgebracht wurde (Q 81:8f.). Dahinter steckt die Botschaft, dass es unschuldig getötet worden ist. Die Verspottung der Ablehnung der Töchter wird an zwei weiteren Stellen artikuliert. So werden die Araber gefragt, wieso sie Gott Töchter zuschreiben, während sie nur Söhne haben würden, was der Koran ironisierend als „eine ungerechte Teilung“ bezeichnet (Q 53:19-22). Die koranische Ablehnung des besagten Brauchs erreicht ihren Höhepunkt in Sure 16:57-60: „Gott schreiben sie die Töchter zu – gepriesen sei er! –, sich selber aber das, wonach es sie gelüstet. Wenn einem von ihnen ein Mädchen angekündigt wird, bleibt seine Miene finster, und er ist voller Gram und Groll. Er zieht sich vor den Menschen zurück, des Schlimmen wegen, was ihm da angekündigt wurde. Soll er an ihm festhalten, trotz der Schande, oder soll er es im Staube vergraben? Schlimm ist es, wie sie urteilen! Jene, die nicht an das Jenseits glauben, orientieren sich am Ideal des Bösen.“
Die durchaus humorvolle Beschreibung der grimmigen Haltung des Arabers, wenn er von der Geburt einer Tochter erfährt, reflektiert tiefe Trauer, Groll gegen das Schicksal, Scham und Ratlosigkeit darüber, was er mit einem als schandhaft empfundenen Wesen machen soll: Soll er es „trotz der Schande“ behalten oder lebendig begraben? Die Tötung der Töchter wird im Koran als ein schlechtes Urteil abgelehnt und an die Verleugnung des Jenseits gekoppelt. Die koranische Kritik an der altarabischen Tötung der Töchter steht ohnehin im Zusammenhang mit der Abweisung der Blasphemie, Gott Töchter zuzuschreiben.
Die Ablehnung eines alten Brauchs geht also mit der Ablehnung alten Glaubens einher. Die neue Religion schafft nicht nur den Glauben daran, dass Gott Töchter habe, sondern auch das Begraben von neugeborenen Töchtern bei lebendigem Leibe ab. In der neuen Gesellschaftsordnung darf nur an einen einzigen Gott geglaubt werden; auch Frauen dürfen da weiterleben, sie müssen sich allerdings den Männern unterordnen, die sie strafen können, sollten sie Ungehorsam zeigen. So sehr die Züchtigungsautorität der Männer gegenüber ihren Frauen ein Problem für die moderne Auslegung des Korans darstellt, manifestiert sie im Vergleich mit den davor dominierenden Verhältnissen einen deutlichen Fortschritt und eine wesentliche Verbesserung der Situation der Frauen in Arabien.
Schlussbetrachtungen
Nach koranischer Auffassung sind die von Gott geschaffenen Menschen nur für eine begrenzte Weile auf Erden; sie haben hier die Aufgabe, Gott zu dienen, Gutes zu tun und Böses zu verhindern. Aufgrund seiner Schwäche und Undankbarkeit (Q 100:6) neigt der Mensch dazu, sich Gottes Willen zu widersetzen; er bedarf deshalb Gottes unerschöpflicher Barmherzigkeit. Sie ist des Menschen einzige Garantie, im Jenseits gerettet zu werden. Darauf kommt es letztendlich an, denn das endliche Leben auf Erden ist in der Summe eine einzige Prüfung, deren Ausgang der Übergang entweder ins Paradies oder in die Hölle ist. Bei jeder Handlung in jeder Lebenssituation steht der Mensch vor dieser Wahl; die richtige Entscheidung kann er aber allein, autonom nicht treffen. Er ist stets auf Gottes Leitung angewiesen. Angesichts dessen lassen sich die Menschen nach der eröffnenden Sure des Korans, al-Fātiḥa, dem meistgesprochenen Gebet im Islam, in drei Gruppen einteilen: die Gruppe der Menschen, denen Gott Gnade erwiesen hat, die Gruppe derer, denen gezürnt wird und schließlich die Gruppe der Irregehenden. Dem Einzelnen obliegt es, im Bittstand stets bei Gott den rechten Weg zu suchen (Q 1).
Die in diesem Beitrag in groben Zügen dargestellte Anthropologie des Korans entspricht ebenso wenig wie ihr biblisches Pendent einer wissenschaftlichen Anthropologie auf der Basis darwinistischer Entwicklungstheorien der Menschheit, die keinen Platz für Gott den Schöpfer haben. Im Koran hat dieser zwar den Menschen nicht wie in der Bibel nach seinem Ebenbild geschaffen, er hat ihn jedoch als seinen Stellvertreter auf Erden eingesetzt, ihn umfassend belehrt und höher als alle anderen Geschöpfe gestellt. Der Mensch besitzt in der Schöpfungswelt eine zentrale Stellung; daraus leitet sich die menschliche Verantwortung den Menschen und der Natur gegenüber ab.