I.
Ende März 2019 fand im namibischen Windhoek und Swakopmund die Week of Justice statt, eine Tagung zum Völkermord an den Herero und Nama, organisiert von zivilgesellschaftlichen Gruppen aus Namibia und Deutschland unter Federführung des Berliner European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) sowie für den Windhoeker Teil vom dortigen Goethe-Institut. Die Veranstaltung mit mehreren Hundert Besucher*innen fand nacheinander an zwei Veranstaltungsorten statt, mehrere Stunden Fahrtzeit voneinander getrennt, da nicht alle Mitorganisator*innen und Sprecher*innen bei beiden Veranstaltungsteilen auftreten konnten oder wollten. Während etwa der namibische Sondergesandte für die Genozidverhandlungen mit Deutschland, Dr. Zed Navigurie, an den beiden Tagen im Goethe-Institut Windhoek (passiv) teilnahm, waren der Paramount Chief der Herero und einer der Kläger gegen die Bundesrepublik Deutschland in den USA, Vekuii Rukoro, nur in Swakopmund anwesend. Der deutsche Botschafter glänzte an beiden Tagungsorten durch Abwesenheit.
115 Jahre nach dem Beginn des Völkermord (1904) und 100 Jahre nach dem offiziellen Ende der deutschen Kolonialzeit (1919) sprechen also immer noch nicht alle vom Thema Betroffenen, sowohl Nachkommen der Opfer als auch die Nachkommen der Verantwortlichen und Profiteure, miteinander, zumindest nicht öffentlich. Die Verhandlungen zwischen der deutschen und der namibischen Regierung, die 2015 begonnen wurden, stocken ebenfalls, ein genauer Zeitplan bis zu einem Abschluss wird nicht genannt.
Sie stocken auch deshalb, weil sich nicht unerhebliche Teile der Herero und Nama von den Verhandlungen ausgeschlossen fühlen, die nur auf Regierungsebene stattfinden. Sie drohen, keine Einigung der Regierungen anzuerkennen. In den USA gingen 2017 deshalb auch einige von ihnen vor Gericht, wo sie eine Beteiligung an den Verhandlungen und eine Wiedergutmachung erstreiten wollen. Im März 2019 lehnte ein Bundesgericht in New York die Klage ab, die Kläger gingen inzwischen in Berufung.
In weiten Kreisen der deutschen Politik wird zwar mittlerweile die Notwendigkeit einer Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit beschworen, eine diesbezügliche Selbstverpflichtung fand sogar Eingang in den Koalitionsvertrag der vierten Regierung Merkel, mit der konkreten Ausgestaltung dieser Aufarbeitung tut man sich aber schwer, wie das Beispiel Namibia zeigt. Dabei wäre kein anderes Land in Europa so sehr dazu berufen, hier proaktive und zukunftsweisende Schritte aufzuzeigen, hat Deutschland mit der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, den Versuchen ihrer Bewältigung doch gute Erfahrungen gemacht. Nach den Verbrechen im NS-Reich öffnete der – nicht immer freiwillige – selbstkritische Umgang mit der eigenen Geschichte den Deutschen wieder den Weg zurück in die internationale Gemeinschaft, den Kreis der zivilisierten Staaten, wie es damals oft hieß.
Es war das Eingeständnis historischer Schuld und die Übernahme von Verantwortung, auch verbunden mit dem Willen zur Wiedergutmachung, die gerade von den Opfern und ihren Nachkommen als Geste und Absicht gewürdigt wurden. Zwar ist „Wiedergutmachung“ letztendlich eine Unmöglichkeit angesichts der Natur der Verbrechen, aber als Versuch der Linderung auch der materiellen Folgen der Untaten, unumgänglich. Versöhnung ist nicht zum Nulltarif zu haben. Durch sie wird das rein Symbolische mit Leben gefüllt, die Grenze von der Rhetorik zur Praxis überschritten.
Zur Ernsthaftigkeit der Aufarbeitung des Holocaust zählte auch die Absicht, aus den Verbrechen zu lernen und eine Gesellschaft zu schaffen, in der Rassismus und Ausgrenzung keinen Platz mehr haben, in denen historische Fehler eingestanden, aus ihnen gelernt wird, in der Schuld und Verantwortung akzeptiert werden. In gewisser Weise ist der Umgang mit dem Völkermord an den Herero und Nama auch ein Testfall für die Nachhaltigkeit der Aufarbeitung der Verbrechen des Dritten Reiches. Und hier sieht die Bilanz nicht besonders positiv aus.
Es stellt sich die Frage, warum gerade im Fall des ersten Genozids des 20. Jahrhunderts dies nicht oder nicht in angemessener Weise geschieht, warum der Deutsche Bundestag 2016 zwar den Genozid des Osmanischen Reiches an den Armeniern anerkannte, den Völkermord an den Herero und Nama, den deutsche Soldaten direkt verübten, jedoch bis heute nicht; warum es keine offizielle Entschuldigung des Bundespräsidenten oder der Bundeskanzlerin gibt.
Notwendig wäre eine breite politische und zivilgesellschaftliche Diskussion darüber, wie die deutsche Gesellschaft mit dem ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts umgehen, und wie es sich zu den Folgen dieses Genozids in Namibia positionieren will. Stattdessen streitet die Politik um Begriffe, verhandelt darüber, ob der Begriff Genozid überhaupt angemessen sei. Dabei sind sich die Spezialist*innen, die Historiker*innen und Genozidforscher*innen hierin weitgehend einig. Schon der Begründer der UN-Völkermordkonvention von 1948, der jüdisch-polnische Jurist Raphael Lemkin, der vor der Wehrmacht aus seinem Heimatland fliehen musste, wertete den Fall als Genozid. Auch nach den Kriterien der UN-Definition von 1948, die besonderen Wert auf die Absicht legt, eine rassisch (oder anders) bestimmte Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten, kam es in Deutsch- Südwestafrika zum Genozid.
II.
Das Deutsche Reich wurde 1884 formal Kolonialmacht als Reichskanzler Otto von Bismarck deutsche Besitzungen in Togo, Kamerun und Südwestafrika unter deutschen Schutz stellen ließ. Wenig später folgten Deutsch-Ostafrika, das heutige Tansania, Ruanda und Burundi, sowie Besitzungen auf Neu Guinea und in der Südsee. 1898 kam noch das chinesische Tsingtao dazu. Damit war das deutsche Kolonialreich flächenmäßig das viertgrößte Kolonialreich seiner Zeit.
Als Deutschland seinen Anspruch über Südwestafrika erhob, lebten in dem Gebiet, das heute Namibia bildet, schätzungsweise 200.000-250.000 Menschen, davon ca. 100.000 Ovambo im Norden, ca. 80.000 Herero im Zentrum und 15.000-20.000 Nama im Süden des Landes, um nur die größten Gruppen zu nennen. Dazu kamen noch San und Damara sowie die Menschen im 1890 zur Kolonie gekommenen Caprivi-Streifen. Diese Zahlen sind wie alle Zahlen aus dem vorkolonialen Afrika mit Vorsicht zu verwenden, da es sich um reine Schätzwerte und Hochrechnungen handelt, die Missionare, Händler, Offiziere und Kolonialbeamte erhoben hatten.
1884 markiert zwar das Jahr der Schutzgebietserklärung, allerdings wurde das koloniale Engagement anfangs nur äußerst halbherzig vollzogen, favorisierte Bismarck doch eine Verwaltung durch private Kolonialgesellschaften. Vor allem wollte er keine deutschen Soldaten in Afrika einsetzen und sterben sehen. Als dieses Konzept des privaten Kolonialismus scheiterte, und der Staat einspringen musste, war er nicht bereit, großen finanziellen und personellen Aufwand zu betreiben. Die deutsche Kolonialherrschaft in Südwestafrika begann deshalb mit wenig mehr als einer symbolischen Besetzung, war Reichskommissar Heinrich Göring 1885 doch mit nur zwei Kollegen ins südliche Afrika gereist, um die zur internationalen Absicherung der Gebietsansprüche nötige „Verwaltung“ zu demonstrieren. Dieser Umstand straft auch die oft zu hörende kolonialapologetische Begründung Lügen, es sei bei der kolonialen Aufteilung Afrikas darum gegangen, der dortigen Bevölkerung, die im permanenten Kriege lebe, Frieden zu bringen. Dazu waren die Kräfte viel zu schwach. Auch der in den Schutzverträgen, die später als Legitimation für die koloniale Landnahme herangezogen wurden, versprochene Schutz konnte nicht gewährt werden.
Nur drei Jahre später schien das koloniale Projekt deshalb auch bereits gescheitert, denn der Herero-Chief Maharero vertrieb die deutschen Emissäre, nachdem er erkannt hatte, dass ihm die drei Deutschen den militärischen Beistand, den sie ihm versprochen hatten, gar nicht leisten konnten, aus seinem Land. Nun schickte das Deutsche Reich, um sein Gesicht nicht zu verlieren, militärische Verstärkung. Auch hier überwog die symbolische Bedeutung, denn die zwei Dutzend Soldaten, die mit dem ersten deutschen Landeshauptmann Curt von François nach Südwest kamen, waren zu keiner größeren Militäraktion fähig, allerdings konnten sie aufgrund ihrer waffentechnischen Überlegenheit auch nicht besiegt werden.
Hier zeichnete sich bereits ein Muster ab, das sich im Prinzip bis zum Krieg gegen die Herero und Nama von 1904 bis 1908 noch des Öfteren wiederholen sollte: Die Entsendung von offiziellen Vertretern des Reiches zog, sobald diese in Bedrängnis gerieten, ein weiteres, verstärktes militärisches Engagement des Reiches nach sich, da man in Berlin aus nationalistisch-propagandistischen Gründen keine Niederlage in Südwestafrika hinnehmen wollte.
Da die deutschen Truppen von den Herero aber auch nicht zu besiegen waren, einigte man sich auf einen Vertrag, mit dem sich Deutsche und Herero gegenseitig Hilfe versprachen. Der wohl charismatischste Anführer der Nama, Hendrik Witbooi, warnte seinen Herero Kollegen hellsichtig vor den weitreichenden Folgen dieses Bündnisses mit den Deutschen: „Diesen Schritt werdet ihr schwer bereuen; ewige Reue werdet ihr empfinden, dass Ihr Euer Land und die Regierungsrechte an die weißen Menschen abgetreten habt. Der Krieg, den wir gegeneinander führen, ist nicht so schlimm und schwer, wie Ihr meint.“
Wie richtig er die expansionistische Politik der Deutschen einschätzte, sollte er alsbald am eigenen Leib erfahren, denn Curt von François zettelte bereits 1893 einen Krieg gegen ihn an, indem er seine Festung Hornkranz überfallen und plündern ließ. Bereits hier kam es von deutscher Seite zum Massaker an Frauen und Kindern. Empört schrieb Hendrik Witbooi, die Deutschen hätten „den Ort auf greuliche Weise vernichtet, so wie ich es nicht gedacht hätte von einer weißen kultivierten Nation, die um die Gesetzmäßigkeit und den Ablauf des Krieges weiß, aber er hat meine Ehefrau und kleine Kinder, die noch an der Mutterbrust liegen, und größere Kinder mit Frauen und Männern erschossen“. Die dabei von Deutschen geplünderte Familienbibel Hendrik Witboois wurde erst im Frühjahr 2019 durch die Landesregierung Baden-Württembergs nach Namibia zurückgegeben.
Besiegen konnte von François die Witbooi jedoch nicht, und deshalb wurde er das Jahr darauf durch Theodor Leutwein abgelöst. Ihm gelang es, die Witbooi zu bezwingen, sie nach Gibeon umzusiedeln und zur militärischen Heeresfolge zu verpflichten, die diese erst 1904 aufkündigten. Fast zehn Jahre hielt der brüchige Frieden, ehe er in den Stürmen des Hererokrieges und des Genozids zerbrach. Um zu verstehen, wie es dazu kam, sind einige grundsätzliche Bemerkungen zur deutschen Kolonialherrschaft, zum Weg in den Krieg und zur Kriegführung gegen die Herero notwendig.
III.
Leutwein verfolgte seit seiner Ankunft eine Doppelstrategie. Zum einen forcierte er den Aufbau einer deutschen Verwaltung, zum anderen sicherte er diesen expandierenden Verwaltungskern durch seine „Häuptlingspolitik“ machtpolitisch ab: Er arbeitete formell mit den Führern der verschiedenen afrikanischen Gruppen zusammen und ließ – oberflächlich betrachtet – ihre Position unangetastet. Im Gegenzug unterstützten ihn Hendrik Witbooi und Samuel Maharero, um nur die wichtigsten Nama- und Herero-Führer zu nennen, mit Truppen. Dass es dennoch nur wenige Jahre später zum verzweifelten Widerstand kam, lag wesentlich am strukturellen Rassismus des kolonialen Unterfangens.
Deutsch-Südwestafrika war die einzige deutsche Siedlerkolonie, in der sich tatsächlich Deutsche in größerer Anzahl ansässig machen konnten und auch machten. Auch wenn Leutwein die traditionellen Herrscher im Amt beließ, musste der offiziell geförderte Zuzug von immer mehr deutschen Siedlern, und dies war gewissermaßen ja Programm in der Siedlerkolonie, die Probleme mit der afrikanischen Bevölkerung im Laufe der Zeit verschärfen, vor allem, da einige der deutschen Ankömmlinge ein ausgesprochenes „Herrenmenschentum“ an den Tag legten. Vor allem Vergewaltigungen, die von den traditionellen afrikanischen Eliten nicht mehr geahndet werden konnten, brachten die Bevölkerung nicht nur gegen die Deutschen auf, sondern untergruben zugleich die Stellung der afrikanischen Herrscher.
Letztere konnten nichts tun, da das für Europäer*innen und Afrikaner*innen getrennte duale Rechtssystem, es afrikanischen Autoritäten nicht erlaubte, über Weiße zu richten, während deutsche Gerichte Verbrechen an Afrikanern und Afrikanerinnen kaum ahndeten. Als dann noch eine Naturkatastrophe, die Rinderpest, nicht nur den materiellen Wohlstand, sondern ein zentrales Fundament ihrer Kultur und sozialen Organisation zu vernichten drohte, spitzte sich die Lage zu.
Es ist in der Forschung umstritten, wer 1904 den ersten Schuss abgab. Vieles deutet aber darauf hin, dass Provokationen eines untergeordneten Distriktchefs, eines Leutnants Zürn aus Okahandja, eskalierten. Fest steht, dass die Herero unerwartet erfolgreich waren und innerhalb weniger Tage bereits ganz Zentralnamibia mit Ausnahme der deutschen Militärposten besetzt hatten. Auch plünderten sie Siedlungen und Farmen, wobei sie 123 Deutsche töten. Es handelte sich dabei mit ganz wenigen Ausnahmen um Männer, die offenbar als legitime Kriegsgegner galten. Frauen und Kinder wurden dagegen bewusst geschont.
Da die Herero ihre anfänglichen Erfolge nicht zu einem schnellen, endgültigen Sieg über die Deutschen nutzten, konnten diese durch rasch entsandte Verstärkungstruppen die drohende Niederlage abwenden. Es folgte eine Phase kleinerer Gefechte, aber ohne entscheidenden Sieg der einen oder anderen Seite. Bereits zu diesem Zeitpunkt kam es durch Siedler zu Vergeltungsaktionen und Massaker, was auch noch die letzten friedlichen Herero in den Krieg trieb. Forderungen nach Rache und Vergeltung waren zu hören. Es hieß, man werde „aufräumen, aufhängen, niederknallen bis auf den letzten Mann, kein Pardon“ geben.
Schließlich musste Gouverneur Leutwein dieser den Völkermord vorwegnehmenden Rhetorik entgegentreten. Zwar vertrat auch er die Forderung nach einer bedingungslosen Kapitulation der Herero, warnte aber vor „unüberlegten Stimmen […], welche die Hereros nunmehr vollständig vernichtet sehen wollen“. Und das nicht nur aus humanitären Gründen: Abgesehen davon, dass sich ein Volk von 60 000 bis 70 000 Menschen „nicht so leicht vernichten“ lasse, werde man die Herero noch als „kleine Viehzüchter und besonders als Arbeiter“ brauchen, meinte Leutwein. Dagegen, dass man sie „politisch tot“ mache, ihre politische und soziale Organisation zerstöre und sie in Reservate zurückdränge, „welche für ihre Bedürfnisse gerade ausreichen“, hatte er nichts einzuwenden: Letzteres sah er als legitimes und sinnvolles Kriegsziel.
Eine Zukunft innerhalb eigener politischer und sozialer Strukturen, mit einem selbstbestimmten Anführer an der Spitze und mehr oder weniger großer Handlungsautonomie gestanden die Deutschen den Herero also bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu. Da Leutwein dennoch als zu nachgiebig angesehen wurde, entmachtete Berlin ihn bereits vier Wochen nach Kriegsausbruch. Man untersagte ihm am 9. Februar 1904 alle Friedensverhandlungen. Mit der Entscheidung, Lothar von Trotha zum Oberbefehlshaber der ständig verstärkten Schutztruppe zu machen, war der Weg zur weiteren Eskalation bereitet.
Generalleutnant von Trotha war ein Kolonialkriegsveteran, der sich als Kommandeur der Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika (1894-1897) und bei der Niederschlagung des Boxeraufstandes in China (1900) einen Ruf als besonders erbarmungsloser Militär erworben hatte. Deutsch-Südwestafrika kannte er nicht, allerdings stellte er sich den Konflikt als Teil eines „Rassenkrieges“ vor, der tobe. Er glaubte, dass Afrikaner „nur der Gewalt weichen“ würden, und war willens, diese „mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit“ auszuüben, um „die aufständischen Stämme mit Strömen von Blut“ zu vernichten.
Noch während seiner Anreise ermächtigte er seine Offiziere in Südwestafrika, alle bewaffneten „Rebellen“ sofort standrechtlich erschießen zu lassen. Wer den Deutschen Widerstand leistete, wurde hingerichtet. Widerstand gegen die Kolonialherrschaft war ein todeswürdiges Verbrechen; ein wichtiger Schritt hin zum Vernichtungskrieg und Völkermord, wenn es formal auch noch nicht Frauen und Kinder betraf.
Von Trotha wollte den Krieg mit einer grandiosen Entscheidungsschlacht siegreich beenden. Ein Plan, der fehlschlug. Zwar brachten die Kämpfe am 11. August 1904 am Waterberg, wohin sich ein Großteil des Herero-Volkes mit Frauen und Kindern sowie ihren Viehherden zurückgezogen hatten, die militärische Entscheidung zu Gunsten der Schutztruppe, aber der Großteil der Herero entkam der Einkesselung und floh in das weitgehend wasserlose Sandveld der Omaheke-Halbwüste im Osten des Schutzgebietes.
IV.
Damit war der Krieg im Grunde militärisch entschieden und die eigentlich genozidale Phase begann, denn die deutschen Truppen verfolgten die fliehenden Herero und trieben sie so immer weiter in Richtung Omaheke. Schon dabei müssen sich entsetzliche Szenen abgespielt haben, wie deutsche Augenzeugen berichten: „Kranke und hilflose Männer, Weiber und Kinder, die vor Erschöpfung zusammengebrochen waren, lagen, vor Durst schmachtend, in Massen […] im Busch, willenlos und ihr Schicksal erwartend.“ Auch kam es zu willkürlichen Erschießungen: „Hin und wieder fiel rechts und links ein Schuss im Dornbusch, wenn unsere Patrouillen auf Nachzügler stießen.“
Von Trotha ließ nun systematisch die bekannten Wasserstellen entlang des Wüstensaums besetzen, und ordnete am 2. Oktober 1904 in seiner berüchtigten Proklamation zudem an, alle aus der Omaheke zurückkehrenden Herero zu erschießen: „Die Hereros sind nicht mehr deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und anderer Körperteile abgeschnitten, und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. (…) Das Volk der Herero muß jedoch das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit dem Groot Rohr [Kanone; JZ] dazu zwingen. Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber oder Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen.“
Zur Wahrung des guten Rufes der deutschen Soldaten, so präzisierte er, sei der Befehl zum „Schießen auf Weiber und Kinder so zu verstehen“, „daß über sie hinweggeschossen wird, um sie zum Laufen zu zwingen.“ Er „nehme mit Bestimmtheit an, daß dieser Erlaß dazu führen“ werde, „keine männlichen Gefangenen mehr zu machen, aber nicht zu Grausamkeit gegen Weiber und Kinder“ ausarte. Diese würden „schon fortlaufen, wenn zweimal über sie hinweggeschossen“ werde.
Um diese Proklamation gibt es immer wieder Debatten. Apologeten der deutschen Politik führen an, dass Frauen und Kinder geschont werden sollten, ja auch die Männer „nur“ das Land hätten verlassen müssen. Hier ist der Kontext bedeutsam, in dem diese Proklamation erlassen wurde. Die Herero waren seit acht Wochen auf der Flucht, und entsprechend entkräftet. Selbst die deutschen Soldaten konnten bei der Verfolgung die Strapazen kaum ertragen. Diese entkräfteten Männer, Frauen und Kinder saßen im wasserlosen Gebiet fest, nur in Richtung Trockengebiet konnten sie fliehen. Das bedeutete aber den qualvollen Tod durch Verdursten.
Das galt auch für die Frauen. Wenn die deutschen Soldaten nur über ihre Köpfe schossen, so bedeutet dies de facto ebenfalls ihren wahrscheinlichen Tod, denn sie mussten in die Halbwüste zurück. Ähnliches gilt für die oft beschworene Aufhebung des Schießbefehls durch Berlin im Dezember 1904. Zu diesem Zeitpunkt war das Verbrechen bereits geschehen. Auch waren nicht humanitäre Gründe die Ursache für den Strategiewechsel, sondern die geänderte militärische Lage: Mittlerweile hatten auch die Nama den Krieg gegen Deutschland begonnen, und die deutschen Soldaten wurden im Süden des Schutzgebietes benötigt.
„Daß er [Trotha] die ganze Nation vernichten oder aus dem Land treiben will, darin kann man ihm beistimmen. […] Der entbrannte Rassenkampf ist nur durch die Vernichtung oder vollständige Knechtung der einen Partei abzuschließen. Das letztere Verfahren ist aber bei den jetzt gültigen Anschauungen auf Dauer nicht durchzuführen. Die Absicht des Generals v. Trotha kann daher gebilligt werden. Er hat nur nicht die Macht, sie durchzuführen“, schrieb Generalstabschef von Schlieffen an Reichskanzler von Bülow.
V.
Von Trotha hatte nicht die Macht, da die Nama einen sehr erfolgreichen Guerillakrieg gegen die deutschen Truppen führten. Sie hatten aus den Fehlern der Herero gelernt und vermieden eine offene Feldschlacht. Da sie das Land besser kannten und ihre kleinen Einheiten beweglicher waren, gelang es ihnen, die Vorteile der umfangreicheren und besser ausgerüsteten Schutztruppe auszugleichen diese allmählich zu zermürben. So brachten sie die Deutschen an den Rand der Niederlage, worauf die Schutztruppe auch hier eine Strategie der Vernichtung verfolgte, die bewusst Frauen und Kinder miteinschloss: Wasserstellen wurden besetzt, Nahrungsmittel vernichtet. Zugleich setzte man auf eine „Säuberung“ des Landes durch Masseninternierungen in Konzentrationslagern.
Eingerichtet unmittelbar nach der Aufhebung des Schießbefehls von Trothas, erfüllten die Konzentrationslager, so der zeitgenössische Begriff, unterschiedliche Funktionen. Neben der eigentlichen „Konzentrierung“ der Herero und Nama, um deren Unterstützung für die Kämpfer zu unterbinden, dienten sie auch als Arbeitslager, aus denen sich staatliche Stellen, aber auch Private, mit den dringend benötigten Arbeitskräften versorgen konnten. Zugleich sollten die Gefangenen zur Arbeit „erzogen“ und auf ihr Leben unter den strengen Kontrollbestimmungen der Nachkriegszeit vorbereitet werden.
Auch der Gedanke der Vergeltung spielte eine Rolle, wie etwa aus dem Schreiben des stellvertretenden Gouverneurs von Tecklenburg hervorgeht: „Je mehr das Hererovolk am eigenen Leibe nunmehr erst die Folgen des Aufstandes empfindet, desto weniger wird ihm auf Generationen hinaus nach einer Wiederholung des Aufstandes gelüsten. Unsere eigentlichen kriegerischen Erfolge haben geringeren Eindruck auf sie gemacht. Nachhaltigere Wirkung verspreche ich mir von der Leidenszeit, die sie jetzt durchmachen, ohne mit dieser Meinungsäußerung übrigens eine Lanze für die Proklamation des Generalleutnants v. Trotha v. 2. Oktober vorigen Jahres brechen zu wollen. Wirtschaftlich bedeutet der Tod so vieler Menschen allerdings einen Verlust.“
Das wohl berüchtigtste Lager wurde auf der Haifischinsel vor Lüderitzbucht an der südlichen Atlantikküste eingerichtet. Dort wurden sowohl Herero wie Nama interniert und ihrem Schicksal überlassen. Dabei bedeutete die Inhaftierung auf der Haifischinsel für viele schon wegen der rauen klimatischen Bedingungen den Tod. Kritik an den Internierungsbedingungen, die dazu führten, dass die Gefangenen „keinen Lebensmut mehr hätten“, wie ein Missionar es formulierte, wurde vom Militärkommando vom Tisch gewischt. So „lange er, etwas zu sagen hätte“, dürfe „kein Hottentott die Haifischinsel lebend verlassen“, habe ihm der lokale Kommandeur, Berthold Deimling zur Antwort gegeben, berichtete Missionar Laaf.
Zwischen Oktober 1906 und März 1907 kamen monatlich zwischen 143 und 276 Gefangene ums Leben. Insgesamt starben in diesem Zeitraum von 1.795 Gefangenen 1.032, von den 245 überlebenden Männern waren nur 25 arbeitsfähig, während sich die übrigen „nur noch an Stöcken fortbewegten“, schriebt Deimlings Nachfolger Ludwig von Estorff in einem Bericht. Die Situation besserte sich erst, als dieser das Lager im April 1907 um wenige hundert Meter auf das Festland verlegte. Wenn auch die Verhältnisse im Konzentrationslager auf der Haifischinsel besonders verheerend waren, zu einem Massensterben von Internierten kam es auch andernorts. Nach einer Aufstellung der Schutztruppe starben zwischen Oktober 1904 und März 1907 insgesamt 7 682 Gefangene. Das entspricht zwischen 30 und 50 Prozent der insgesamt Inhaftierten. Insgesamt fielen dem Genozid bis zu 80 Prozent der Herero und 50 Prozent der Nama zum Opfer.
Auch nach der Aufhebung der Kriegsgefangenschaft am 27. Januar 1908, an „Kaisers Geburtstag“, blieben die Entlassenen einer strikten Kontrolle unterworfen. Mit den drei Eingeborenenverordnungen hatte das deutsche Gouvernement 1907 die Grundlage eines deutschen Eingeborenenrechts geschaffen, das die rassische Privilegien-Gesellschaft festschrieb und Arbeitszwang für die gesamte afrikanische Bevölkerung einführte. Alle Afrikaner*innen mussten Passmarken tragen und wurden in Eingeborenenregister eingetragen, ihre Freizügigkeit wurde aufgehoben.
Bereits während des Krieges war fast das gesamte Land der Herero und Nama von deutscher Seite enteignet, ihre politischen Organisationen aufgelöst worden. Ihr Besitz, ja ihr Leben wurde nahezu vollständig den Plänen und Zielen einer deutschen Besiedelung und wirtschaftlichen Entwicklung Südwestafrikas unterworfen. Flankiert von Maßnahmen gegen Mischehen und generell sexuellen Beziehungen zwischen Deutschen und Afrikanerinnen strebte die deutsche Kolonialverwaltung den ersten Rassenstaat der deutschen Geschichte an. Der weitläufige südwestafrikanische Raum sollte auf der Basis von Rasse und Rassenhierarchie strukturiert werden. Afrikaner*innen waren weitgehend Entrechtete im eigenen Land. Wenn es dem kolonialen Staat auch nicht gelang, die Herero und Nama zu vernichten, so änderte diese Politik zusammen mit dem vorangegangenen Völkermord doch grundlegend die Macht- und Sozialverhältnisse in Deutsch-Südwestafrika. Und dass im heutigen Namibia das meiste Farmland immer noch in Hand weißer Farmer ist, nahm hier seinen Ausgang.
Für die Anerkennung des Genozids und den politischen Prozess einer Aussöhnung hat dies weitreichende Folgen. Da die sozioökonomische und auch die politische Struktur des heutigen Namibia auf den deutschen Völkermord und den kolonialen Rassenstaat zurückgeht, bleibt jede Entschuldigung, die nicht auch einen Beitrag dazu leistet, den Nachkommen der Opfer in ihrer schwierigen Situation heute zu helfen, leere Rhetorik.