Die Fraglichkeit des Heiligen

Im Rahmen der Veranstaltung "Heilige", 18.10.2018

Ein chaotischer Begriff

 

Bergwanderer kennen das Phänomen: Vom Tal aus sieht der Gipfel harmlos aus; die Besteigung ist augenscheinlich ein Kinderspiel. Nähert man sich aber dem Berg, zeigt sich dieser voller Schrunden, Steilwände, Abgründe; vorgelagert sind Höhen, die man zuvor gar nicht bemerkt hatte. Täler fallen ab, in die man mühsam hinunterklettern muss, ehe es wieder aufwärts geht. Bald ist zu erkennen: Der Gipfelsturm wird ein hartes Stück Arbeit.

Ähnlich ergeht es dem, der den Begriff des Heiligen – als Adjektiv oder als Substantiv verstanden – analysieren soll. Auf den ersten Blick erscheint er ziemlich problemlos. Wir verwenden ihn in schier zahllosen Wendungen und Kompositionen, weshalb die gemeinte Sache doch eigentlich sehr klar und ganz und gar nicht fraglich sein sollte. Es gibt heilige Orte und heilige Zeiten, heilige Gegenstände und heilige Vollzüge (Riten), heilige Zustände und heilige Gräber. Man spricht von der heiligen Stadt Jerusalem und dem heiligen Gral, von heiligem Zorn und von heiliger Stille. In Trier existiert der Heilige Rock. Im Nahen Osten werden heilige Kriege (Dschihad) geführt. Die Nachfolgeinstitution des Imperium Romanum nannte sich Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Man kann mit jemandem seine heilige Not haben, bis einen heiliger Eifer zur Besserung der Zustände antreibt. Heilige Zeiten können bestimmte Jahresabschnitte in der Liturgie sein (Ostern oder Pfingsten) oder auch nur seltene Ereignisse („alle heiligen Zeiten kommt ein Bus“). Bei den Schwaben heißt sogar manchmal ein flaches Walzwerkstück aus Metall heilig – das „heilige Blechle“. Selbst einen vierbeinigen Heiligen gibt es, den Heiligen Stuhl, auf dem die Heiligen Väter thronen, die allesamt Väter gar nicht sein dürfen und heiligmäßig manchmal wirklich nicht waren.

Damit stehen wir bei den heiligen Personen. Da ist das Tohuwabohu noch größer. Wir übergehen den Umstand, dass solche in nahezu allen Religionen verehrt werden, wobei beachtliche Differenzen im Verständnis der Heiligkeit herrschen, und bleiben im Bereich des Christentums. Dort erscheint Heiligkeit geradezu als Synonym für die gesamte Gemeinschaft der Christen, für die Kirche. In der Ekklesiologie ist sie eine Wesenseigenschaft der Kirche, die ihr unverlierbar gegeben ist, ebenso wie die Einheit, Katholizität und Apostolizität. Sie gehört so selbstverständlich zu ihr, dass sie geradezu zum protokollarischen Epitheton geworden ist. Die ganze Gemeinschaft der Glaubenden firmiert als heilige Kirche, obschon man beim besten Willen heute nicht mehr über die multiple Sündenverfallenheit der Institution hinwegsehen kann. Aber auch das lässt sich nicht abstreiten: In nicht mehr überbietbarer Vielfalt präsentiert sich in der Glaubensgemeinschaft das Spektrum großartiger und Bewunderung erregender Menschen, die als Heilige firmieren. Da gibt es Päpste wie Leo den Großen oder Johannes Paul II., Bettler wie den ungezieferstarrenden Benedikt Josef Labre (1748-1783), Herrscherpersönlichkeiten wie Kaiser Heinrich II. oder Herzogin Hedwig von Schlesien, bierselige Klosterpförtner wie Konrad von Parzham. In die offizielle Schar der Heiligen sind aufgenommen weltgeschichtlich bedeutsame Persönlichkeiten wie Katharina von Siena, welche das Papsttum wieder nach Rom brachte, geniale Gelehrte wie Thomas von Aquin, aber auch Figuren, deren Historizität arg bezweifelt werden darf. Das war mitunter ihrem Ruhm nicht im Mindesten abträglich. Man kann an den Drachentöter Georg oder die Musikpatronin Caecilia denken (die zu dieser Ehre durch einen Übersetzungsfehler gelangt ist). Zu den besonders verehrten Vierzehn Nothelfern rechnet der hl. Vitus, ein heiliger Knabe, dessen Konturen sich im Wabern der Legenden auflösen. Was nicht gehindert hat, dass er mindestens 41 Patronate hält – darunter über Niedersachsen, über die Bierbrauer, die Kesselschmiede, gegen die Krankheit Chorea Huntington (Veitstanz) und das Bettnässen; er ist zuständig für gute Ernten und die Bewahrung der Keuschheit. Schon von den Anfängen an rechneten die Blutzeugen zu den Heiligen, doch bald gesellte man ihnen besonders fromme Asketen, glaubensstarke Hierarchen, politische Führer zu; und schlussendlich konnten alle frömmigkeitsstarken Christenmenschen als Heilige verehrt und angerufen werden. Aber auch kirchlich verurteilte und deswegen vom Staat exekutierte Ketzer und Hexen gehören zum Chor der Heiligen – so wie La Pucelle, die Jungfrau von Orleans: Jeanne d’Arc. Und dann gibt es noch die Frau Eger, Putzfrau im Nürnberger Pfarrhaus, Pflegerin ihres lebenslänglich ans Bett gefesselten Mannes. Sie kennt keiner, aber für mich ist sie das leuchtendste Beispiel christlicher Liebe und Fröhlichkeit, das mir begegnet ist – eine heiligmäßige Christin.

Die Kirchenleitung hat schon früh versucht, in diese immer weniger überschaubare „Wolke von Zeugen“ (Hebr 12,1) eine gewisse Ordnung und Systematik hineinzubringen. Seit 997 existiert das Instrument der Kanonisation, erstmals für den Augsburger Bischof Ullrich angewendet. Ursprünglich war es Sache der Bischöfe, seit Alexander III. (reg. 1159-1181) ist es Reservat der Päpste. Wir werden darauf später zurückkommen. Im Moment ist nur festzustellen, dass seine Handhabung manchmal sehr problematisch gewesen ist. Die Heiligsprechung war stets auch im weitesten Sinne politisch motiviert. Nicht durchweg gelangten wirklich jene Menschen zur Ehre der Altäre, die heroische Tugendhaftigkeit gelebt hatten, sondern manchmal kamen Personen dazu, die sich gerade ins kirchenpolitisch-theologische Programm der jeweiligen Päpste und ihrer Berater trefflich einfügten. Dann konnten sie ebenso großzügig die gleichen kanonischen Vorschriften übergehen, die sie sonst rigoros beachteten, wenn ein Kandidat nicht so recht ins Konzept passte. Da war im ersten Fall das kanonisch geforderte Wunder nicht mehr so wichtig, wie etwa im Fall Imelda Lambertinis, einer Verwandten Benedikt XIV. Im zweiten Fall verlangte die Heiligsprechungs-Kongregation einfach mehr Wunder als vorgeschrieben, so etwa in der Causa der Südamerikanerin Maria Anna de Gesù de Paredes y Flores. Gelegentlich verhalf auch einfach ein wenig Schokolade gegen die Hartleibigkeit der Konsultoren, wie etwa bei der Heiligsprechung des Jesuiten Francesco de Gerolamo. Stefan Samerski hat in seiner Habilitationsschrift alle Selig- und Heiligsprechungsprozesse zwischen 1740 und 1870 minutiös untersucht und solche Fakten wie die angeführten und noch zahlreiche andere erstaunliche Ergebnisse festgehalten.

Faktisch führte die Praxis des Heiligen Stuhles auch zu einem gravierenden Ungleichgewicht bei den kanonisierten Persönlichkeiten. Betrachtet man den Generalkalender des Römischen Messbuchs, so sieht man auf den ersten Blick: Die heiligen Männer überwiegen. Frauen kommen gewöhnlich nur vor, wenn sie Herrscherinnen oder Nonnen gewesen sind. Nur drei Mütter werden mit Gedenktagen und Festen geehrt, und dies stets wegen ihrer Kinder: Anna, Mariens Mutter, diese als Jesu Mutter selber und endlich Monika, die Mutter Augustins. Die Messformulare im Commune für die Heiligen sind typologisch geordnet. Vor der Liturgiereform firmierten die verheirateten Bekennerinnen unter der Bezeichnung „nec virgo nec martyr“, also unter der Zweifachverneinung „weder Jungfrau noch Märtyrin“. Man kann sich nur schwer der Bemerkung enthalten: Und dennoch heilig!

Es wäre freilich falsch, wollte man in diesen Fakten nur den Reflex des lange die Kirche beherrschenden patriarchalischen Denkens sehen. Das Kanonisierungsverfahren ist eine sehr aufwendige Prozedur, die zweierlei voraussetzt: Jemand muss ein intensives Interesse an seiner Einleitung haben und außerdem reichlich Geld. Es ist verständlich, dass es vornehmlich Institutionen wie eine Diözese, eine Adelsfamilie oder ein Orden sind, die das Verfahren in Gang bringen und es auch finanzieren können: Es erhöht das Prestige beträchtlich, wenn man einen eigenen Heiligen im Sozialverband vorweisen kann. Da sind die Kosten leicht unter Werbung zu verbuchen. Gewöhnliche Väter oder Mütter, Putzfrauen oder Pflegerinnen und Pfleger besitzen keine Lobby und niemand wird den gewaltigen Apparat für sie in Bewegung setzen. Frau Eger hat keine Chance – eine Heilige war sie dennoch für alle, die sie kannten.

Schließlich darf man nicht unterschlagen, dass das Thema Heilige auch ein ökumenisches Problem darstellt. Während die östlichen Kirchen den Heiligen einen außerordentlich großen Raum in Liturgie und Kult einräumen, kam es im Westen im 16. Jahrhundert zum Dissens zwischen Rom und den Reformatoren. Er brach an den hypertrophen spätmittelalterlichen Formen der katholischen Heiligenverehrung auf. Bernhard Kötting fasst sie so zusammen: „Es sind a) die Spezialisierung und Zuständigkeitserklärung der Heiligen für bestimmte Aufgaben; b) die Reliquienteilung und Reliquienhäufung als Unterpfand der Hilfe vieler Heiliger; c) der Wunderglaube und die Wundersucht“. Es konnte geradezu zur Verkehrung (lateinisch perversio) der heilsgeschichtlichen Verhältnisse kommen. Wenn beispielsweise Christus die Fürbitten der Heiligen erhört, gewährt er nicht ein Geschenk, sondern erfüllt seine Pflicht. Im Dom von Florenz existiert ein Fresko von einem unbekannten Meister des 14. Jahrhunderts. Maria bittet ihren Sohn für die vor ihr knienden Menschen. Sie sagt: „Lieber Sohn, gedenke der Milch, die ich dir gab, und habe mit ihnen Erbarmen“. Erst daraufhin wendet sich Christus durch den Hl. Geist an den Vater. Damit ist ein öfters festgehaltener Gedanke ins Bild gesetzt: Da der Sohn als Mensch unter dem vierten Gebot steht, muss er tun, was seine Mutter sagt. Der folgerichtige Schluss der Beter: Wenn man ganz sicher sein will, betet man zu Maria, nicht zu Gott. Aus der exklusiven Mittlerschaft Christi gemäß der Schrift (1 Tim 2,5) wurde so bestenfalls eine sekundäre Vermittlungsinstanz. Man muss auch in Rechnung stellen, dass die exzessive Heiligenverehrung damals an den Gedenkstätten ihres Lebens konzentriert war, zu denen große Wallfahrten zogen. Sie waren mit dem Ablasswesen verknüpft.

Reformatorischer Protest konnte da nicht ausbleiben. Er bezog sich zwar nicht auf die Existenz und Vorbildhaftigkeit der Heiligen, wohl aber – neben der Ablassproblematik – auf deren Anrufung als Fürbitter. Denn diese stieß sich mit dem Grundartikel von der Ausschließlichkeit der Gnade für die Rechtfertigung. Solus Christus – nur von Christus allein konnte sie gewirkt und vermittelt werden. So wurde bald im Zuge der konfessionellen Abgrenzungen die Zuwendung zu den Heiligen zum katholischen Proprium, dessen Perhorreszierung zum Kennzeichen des Reformatorischen. Besonders hat sich das auf dem Gebiet der Mariologie ausgewirkt: Hier gab es die gravierendsten Übertreibungen in der altkirchlichen Frömmigkeit. Maria wurde für die Reformer des 16. Jahrhunderts nahezu exklusiv katholisch. Weil sie die Mutter Christi als biblische Gestalt aber nicht ganz aus dem christlichen Gedenken tilgen konnten, versteckten sie sie so gut es ging.

Wir lassen es hier genug sein. Es dürfte sich hinreichend deutlich gezeigt haben, dass der scheinbar so unproblematische Begriff, den wir uns angesehen haben, höchst komplex, ziemlich abgründig, voller Untiefen ist. Er macht ein ganzes Fass voller Fragen auf. Erkenntnistheoretisch jedenfalls lässt sich jetzt schon sagen: Er ist ein analoger Begriff. Die Unähnlichkeit der damit bezeichneten Gegenstände ist größer als ihre Ähnlichkeit. Damit freilich erhebt sich die entscheidende Frage, worin diese Ähnlichkeit besteht, was also der gemeinsame Nenner ist. Was versteht man unter Heiligkeit, den Heiligen und etwas Heiligem?

 

Ein biblischer Begriff

 

Eine entscheidende Antwort dürfen wir von der Grund-Glaubensurkunde der Christen erwarten, von der Heiligen Schrift. Tatsächlich kommen das Wortfeld heilig und verwandte Begriffe dort überaus häufig vor. Die sehr ausführliche Zürcher Bibel-Konkordanz führt fast zehn engstens bedruckte Spalten mit Belegen an. Versucht man aus dieser Fülle eine Synthese der biblischen Auffassung von heilig zu erheben, gelangt man zu einem frappierenden Befund. Man kann ihn in zwei Sätzen artikulieren:

 

  1. Nicht ist heilig außer Gott;
  2. alles ist heilig in Gott.

 

Die Basis der Heiligkeitstheologie der Schrift ist ohne Zweifel die Berufungsvision des Propheten Jesaja (Jes 6,1-4). „Im Todesjahr des Königs Usija“ schaut der Seher Gott auf einem „hohen und erhabenen Thron sitzen und die Säume seines Gewandes füllten den Tempel aus“. Die Serafim seines himmlischen Hofstaats singen seinen Lobpreis: „Heilig, heilig, heilig ist der HERR der Heerscharen. Erfüllt ist die ganze Erde von seiner Herrlichkeit“ (V.3). Die Gottesdienstgemeinde nahezu aller christlichen Konfessionen rezitiert dieses Lob im Sanctus der Eucharistie- bzw. Abendmahlsfeier. Das hebräische Wort kadosch bedeutet ausgesondert. Was kadosch ist, ist gegenüber allen anderen Dingen transzendent. Absolute Transzendenz aber kommt allein Gott zu. Die dreimalige Wiederholung des Wortes macht das deutlich. Heilig ist also lediglich Gott, dessen Glanz die ganze Erde erfüllt. Im Vergleich zu ihm ist nichts heilig, weil nichts außer ihm Gott ist. Gott allein ist heilig. Heiligkeit ist eine absolut exklusive Bezeichnung für ihn.

Dann aber werden wir gewahr, dass ungeachtet dieser Grundaussage alles Mögliche kadosch sein kann: Es gibt heilige Zeiten wie den Sabbat (Gen 2,3) oder das Erlassjahr (Lev 15,12). Räume können heilig sein, z.B. Kanaan (Ex 15,3; Jes 11,9) oder Orte von Gotteserscheinungen (Ex 3,5; Jos 5,15). Kadosch sind Dinge, z.B. der Tempel (Ex 30,25-29; 40,9-11 ff.), die Geräte der Stiftshütte und diese selber (Lev 8,10; Ex 29,37). Auch Menschen verdienen dieses Attribut wie etwa die Priester (Ex 30,23-32; 40,9-11).

Auf dieser Schiene bewegt sich später das Neue Testament besonders. Hier sind Heilige schlechterdings alle Christen und Christinnen. Sie sind auch alle Priester. Paulus adressiert den ersten Brief an die Gemeinde von Korinth: An die Kirche Gottes, die in Korinth ist – die Geheiligten in Christus Jesus, die berufenen Heiligen (1 Kor 1,2). Ähnlich lautet das Initium des Römerbriefs (Röm 1,7) und des zweiten Korintherbriefs (2 Kor 1,1). Bei den Deuteropaulinen steht es nicht anders: Auch der Brief an die Epheser (Eph 1,1) und jener an die Kolosser (Kol 1,2) bezeichnen alle Gemeindemitglieder ohne Ausnahme als Heilige. Das hindert den Apostel allerdings keinen Moment daran, diesen Heiligen bei Bedarf ganz gehörig den Kopf zu waschen und ohne Blatt vor dem Mund die gemeindlichen Missstände anzuprangern. Begnügen wir uns mit einige Beispielen aus dem Ersten Korintherbrief: Da setzt er sich auseinander mit Streitsucht (1 Kor 1,10-17), Wichtigtuerei (4,6-8), Blutschande (5,1-13), Prozesshanselei (6,1-11) und Unzucht (6,12-30). Das alles und noch mehr gibt es in der Gemeinde der Heiligen am Isthmus von Korinth! Dass die Bezeichnung der Getauften als Heilige urkirchlicher Standard war, bekundet u.a. auch die Apostelgeschichte. Da wird berichtet: „Auf einer Reise zu den einzelnen Gemeinden kam Petrus auch zu den Heiligen in Lydda(Apg 9,32).

Im Zentrum der Betrachtung steht also nicht wie später der ethische Hochstand einzelner Gemeindemitglieder, sondern die bereits durch die Kirchenmitgliedschaft gegebene neue christliche Existenz, die allen zukommt.

Sie hat gewiss ihre Konsequenzen für das konkrete Leben als Christenmenschen, aber diese sind als Folgen von Natur aus sekundär. Im Einzelnen bewährt sich die Heiligkeit subjektiv einmal durch das christliche Leben in der Welt (vgl. Apk 13,7.10), dann durch die Verbundenheit der „Heiligen“ untereinander. So verstehen die mazedonischen Christen die von Paulus angeregte Sammlung für die bedrängte Jerusalemer Gemeinde als „Gemeinschaft des Dienstes für die Heiligen (2 Kor 8,4; vgl. auch Röm 16,16 und Kol 1,4).

Wir begnügen uns mit diesen Belegen, die unschwer vermehrt werden könnten, und fragen am Ende dieser raschen Übersicht, wie die anfangs konstatierte Dialektik gelten gelassen werden könnte: Nichts ist heilig außer dem Dreimal Heiligen – alles ist (wenigstens grundsätzlich) heilig. Der scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn wir die Fundamentallehre der gesamten Bibel vor Augen halten, nach welcher Gott als der Schöpfer und Erlöser der Welt offenbar wird. Sicherlich: Gott ist der absolut und restlos Transzendente und als eben solcher in sich – vom Wesen her – heilig. Dann kann konsequenterweise nur er allein und einzig heilig sein. Ein anderes Heiliges wäre mithin ebenfalls Gott. Die absolute Heiligkeit Gottes ist, mit anderen Worten, mit dem Monotheismus und seiner inneren Notwendigkeit selbst gegeben. Nur ist Gott kein nackter Gott, der monadenhaft in sich selber west. Er hat sich in der Schöpfung und den Geschöpfen geäußert. Sie sind sein Werk. Entsprechend dem alten Adagium agere sequitur esse (das Tun folgt dem Sein) trägt das Werk stets Spuren des Erschaffenden, das Gottgeschaffene also Gottes Spuren. Darauf beruht die ganze Theorie von der natürlichen Theologie, wie sie schon bei Paulus im Kern zu finden ist. Die Menschen sind immer schon vor Gott verantwortlich, denn es ist ihnen offenbar, was man von Gott erkennen kann; Gott hat es ihnen offenbart. Seit Erschaffung der Welt wird nämlich seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit(Röm 1,19 f.). Wenn also Gott erkennbare Spuren setzt, dann muss in ihnen notwendig, wenigstens in etwa, sein innerstes Wesen ansichtig werden, also seine Heiligkeit. Was also (und soweit etwas) gottbezogen, gottverbunden, gottgeschaffen ist, ist (es) logischerweise auch heilig. Heiligkeit ist mithin ursprünglich ein ontischer Begriff: Er sagt etwas über das Wesen, die Natur, den inneren Charakter eines so bezeichneten Objekts aus.

Damit aber haben wir ein entscheidendes Element kreatürlichen Heiligseins ausgemacht. Dieses ist nichts anderes als die konstitutive Gottbezogenheit der Schöpfung und der Geschöpfe. Diese ist graduell: Beim Menschen als Gottes Ebenbild ist sie anders als bei einem Tier oder bei unbelebter Materie. Je nach Individualität wird beim Menschen nochmals ein immenses Spektrum der Relationen zu Gott festzustellen sein. Jeder ist heilig, aber jeder in seiner Weise, auf seine eigene, unverwechselbare, unnachahmliche Art. Menschen können daher füreinander zwar Vorbild, aber nie Blaupause der eigenen Heiligkeit sein. Das ist eine Folge der Analogizität des Begriffs.

Eine wichtige Rolle nimmt die Intensität des Lebens aus der Heiligkeit bei den einzelnen Menschen ein, also ihre Welt- und Menschenzuwendung entsprechend der biblischen Vorgaben. Versucht man konkret zu bestimmen, was der Inhalt der die Heiligkeit begründenden Gottesbeziehung ist, so stößt man auf die Spitzenaussage der Bibel über Gott, formuliert im Ersten Johannesbrief: „Gott ist Liebe(1 Joh 4,8. 16b). Die Gestalt jedweder Heiligkeit, der göttlichen wie der geschöpflichen, ist mithin die Liebe in allen ihren Formen und Gestalten, ausgenommen sind weder eros noch agape. Das Maß der Liebe, halten wir fest, ist das Maß der Heiligkeit.

Daraus folgt für die Betrachtung der einzelnen heiligen Menschen eine bedeutsame Feststellung. Manche der kanonisierten Personen haben ein geradezu exzessiv zu nennendes religiöses Leben gepflegt. Man darf getrost jene früher im Brevier stehende Nachricht ins Reich der Legende verweisen, wonach der hl. Nikolaus von Myra bereits als Säugling an der Mutterbrust die damaligen Fasttage beobachtet habe. Aber durchaus glaubwürdig wird uns in den seriösen Viten von Verhaltensweisen, Taten, Überlegungen berichtet, die, vorsichtig formuliert, an den Grenzen des psychologisch Normalen liegen. Nur ein einziger, zudem ziemlich bekannter Beleg: Als Halbwüchsiger stahl Augustinus mit seinen Freunden – adulescentuli neqissimi, eine Bande von Taugenichtsen, nennt er sie – ein paar Birnen, weniger aus Hunger denn aus Spaß am Abenteuer, wie das viele Jungen vor und nach ihm getan haben. Doch als der reife Bischof seine „Confessiones“ schreibt, macht er aus dem Bubenstreich einen Beweis für seine maßlose Schlechtigkeit, seine Liebe zur abgrundtiefen Sünde. „Von dem festen Grunde, der Du bist“, betet er zu Gott, „sprang (meine Seele) ab ins reine Nichts: denn nicht ein Etwas begehrte sie, ob auch schändlicherweise, sondern das Schändliche selbst“. Viele Seiten kreist er geradezu besessen um diese Thematik. Man versteht alles das nur, wenn man solche unzweifelhaften Übertreibungen als Ausdruck einer alles verzehrenden Liebe zu Gott interpretiert. Wie jede Liebe ist auch sie maßlos bis hin zu Zuspitzungen, die in der Normalperspektive ganz einfach als verrückt erscheinen. Es gibt den amour fou. Er kann Heilige als Ausdruck ihrer Gottesliebe erfassen. Für weniger Heilige erscheint er schlicht als abwegig. Auch das gehört zur Fraglichkeit des Heiligen.

Halten wir uns alle die Überlegungen nochmals vor Augen, so löst sich nicht allein der scheinbare Widerspruch in der Heiligkeitslehre der Bibel auf. Wir erkennen auch, dass heilig als analoger Begriff rechtens einer chaotisch anmutenden Fülle von Objekten zukommt, die sich manchmal widersprüchlich zueinander zu verhalten scheinen. Damit hängt ein weiteres Charakteristikum zusammen, dem wir nun die Aufmerksamkeit zuwenden wollen: Die Geschichtlichkeit des Begriffs.

 

Ein geschichtlicher Begriff

 

Heilig ist in der Heiligen Schrift, so sahen wir, ein Relationsbegriff. Er besagt eine näher zu bestimmende Teilhabe an Gottes Sein. Heilig sein, so könnte man auch sagen, bedeutet, Gemeinschaft mit Gott zu haben. Damit ist mitgesagt, dass alle, welche sie besitzen, auch untereinander in Gemeinschaft stehen. Oder in liturgischer Terminologie: Wenn du und wenn ich Kinder Gottes sind, sind wir zueinander Geschwister, „Brüder und Schwestern“. Aus diesem Prinzip entwickelte sich im Lauf der Kirchengeschichte die theologische und spirituelle Betrachtung der Gott besonders verbundenen Menschen, der Heiligen im speziellen Sinn.

Als solche werden seit der Mitte des 2. Jahrhunderts zunächst, wie schon einmal erwähnt, die Blutzeugen angesehen. Jesus hatte gesagt, dass niemand eine größere Liebe hat, als wer sein Leben für die Freunde hingibt (Joh 15,13). Das hatten die Märtyrer als Gottes Freunde buchstäblich getan. Es bedurfte dann keiner großen Untersuchungen mehr, um einen solchen Menschen zum Heiligen zu erklären. Es hat zwar in der Kirchengeschichte wieder und wieder Situationen gegeben, die von Christen das Glaubensbekenntnis bis zum Blutvergießen abverlangten, aber auch lange Zeiten friedlich-unangefochtenen Lebens. In ihnen wurde sehr bald deutlich, dass manche Leute ihre Gottesliebe auch ohne gewaltsamen Tod auf herausgehobene, vorbildliche, radikale Weise (bis zur asketischen Selbstaufgabe schier) realisierten – eminente Kirchenführer, Jungfrauen, Witwen; Herrscher, kurz im Lauf der Zeiten Menschen aller Altersstufen, beider Geschlechter, jeglichen Berufes, an allen nur denkbaren Orten. Dabei verschob sich der Primärmaßstab der Beurteilung: Nicht mehr das ontische Moment, sondern das ethische trat in den Vordergrund. Die Heiligen mutierten zu christlichen Tugendhelden, Schwergewichten der Frömmigkeit – mit einem Wort, zu Ausnahmechristen. Als solche kam ihnen auch, verglichen mit den restlichen Christenmenschen, eine besondere Gottesnähe zu. Sie waren Gottes Freunde par excellence.

Damit aber waren die Heiligenverehrung und die Heiligenanrufung geboren. Den Menschen des römischen Rechts- und Kulturraumes war das Institut des Patronats vertraut: Sozial schwache Menschen, die Klienten, suchten sich einen mächtigen Mann, der ihre Interessen um den Preis der Gefolgschaft vertrat, den patronus. Die Gottesfreunde waren solche potenten Persönlichkeiten. Ehrte man sie und folgte man ihnen, durfte man darauf vertrauen, von allem Übel bewahrt zu bleiben. Sie würden bei Gott Fürsprache in den zahlreichen Nöten und Ängsten der vorneuzeitlichen Menschen einlegen. Entsprechend ihren Lebensschicksalen wurden ihnen spezielle Zuständigkeiten für spezielle Nöte zugeschrieben. Naheliegend war es, den Heiligen den Schutz der Orte anzuvertrauen, an denen sie gewirkt hatten oder der Gemeinschaften, denen sie zugehörig waren. So ist Klara von Assisi Patronin von Assisi und des Ordens der Klarissinnen. Aber auch besondere Ereignisse der Heiligen-Biographie boten Anhaltspunkte für Schutzzuweisungen, auch wenn sie nicht jedem so recht nachvollziehbar sein mochten. So erhob Pius XII. 1958 die gleiche heilige Klara zur Patronin des Fernsehens. Als streng klausurierte Nonne war ihr die Teilnahme am Begräbnis von Bruder Franz verwehrt. Wunderbarerweise aber schaute sie diese in einer Vision: Television also avant la lettre.

Als Dank für alle Hilfe der Heiligen ehrten die Gläubigen die Überreste ihrer einstigen Existenz, vor allem das Grab, ihr einstiges Wohnhaus und besonders ihre materiellen Hinterlassenschaften (Gewänder, Bücher, Gefäße); diese wurden als heilige Reliquien verehrt. Weiter galten ihre Bilder als wirkmächtige und Leben stiftende Verkörperung ihrer selbst. Wallfahrten entstanden zu den Orten ihrer Biographie, neu entstehende religiöse Gemeinschaften (Orden, Kongregationen, Bruderschaften) stellten sich unter ihren Schutz. Es entstanden jetzt auch die Unzuträglichkeiten, von denen wir im ersten Abschnitt gesprochen haben.

Das Heiligenwesen rief daher schon früh die kirchlichen Autoritäten auf den Plan. Sie reagierten zum ersten dadurch, dass sie der unkontrollierten Ausdehnung des Heiligenkults mit einem kanonischen Verfahren zu steuern suchten. Jetzt trat endgültig das sittlich-ethische Moment nach vorn: Kandidaten mussten ein „heroisches Tugendleben“ geführt haben, um überhaupt ins römische Visier zu gelangen. Außerdem musste wenigstens ein verbürgtes Wunder von den Antragstellern nachgewiesen werden, welches auf Fürsprache des Betreffenden geschehen war. Der Grund für diese Forderung: Das positive Urteil des Papstes über ihn, die Kanonisation, wurde als ein Akt seiner Unfehlbarkeit angesehen. Mit dem Wunder war sichergestellt, dass jemand wirklich „im Himmel“ sein musste; sonst erwiese sich Gott als Lügner. Damit war der Papst definitiv abgesichert. Hier braucht nicht weiter diskutiert werden, dass damit ein höchst problematisches Kriterium aufgestellt wurde.

Im Lauf der Jahrhunderte bildeten sich verschiedene Verfahren zur Kanonisierung heraus. Derzeit gilt die von Johannes Paul II., inzwischen selbst kanonisiert, veröffentlichte Apostolische Konstitution Divini perfectionis magister „zur Durchführung von Kanonisationsverfahren“, die unter dem Datum vom 25. Januar 1983 unterzeichnet ist, also am gleichen Tag wie der derzeit geltende Codex Iuris Canonici. Sie ist in allen Ausgaben dieses Gesetzeswerkes mit abgedruckt. Im Wesentlichen handelt es sich um ein Prozessverfahren, welches in drei Stufen abläuft. Am Anfang steht die Erhebung des Diözesanbischofs. Er kann tätig werden auf Verlangen eines einzelnen Gläubigen oder kirchlich anerkannter Gruppen. Es steht also jedem Katholiken und jeder Katholikin frei, einen solchen Antrag bei seinem Diözesanbischof für eine katholische Person zu stellen, die mindestens fünf Jahre tot ist. Bei günstigem Ausgang seiner Nachforschungen übermittelt der Bischof die Akten an die römische Heiligsprechungskongregation mit dem Ersuchen um weiteres Procedere. Dort befindet man über sein Verfahren und übernimmt es gegebenenfalls in die eigene Regie. Am Ende steht ein Urteil der Kongregation, welches dem Papst zur endgültigen Entscheidung vorgelegt wird. Ihm steht allein das Recht zu, darüber zu befinden, ob der in Frage stehenden Person „eine amtliche Verehrung in der Kirche (cultum publicum ecclesiasticum) zu erweisen ist“. Deren erste Stufe ist die Beatifikation oder Seligsprechung. Sie besagt, dass jemand einen partikulären Kult erfahren kann, z. B. in einem Bistum, einem Land oder einer kirchlichen Gemeinschaft. Die zweite Stufe ist, nach einem erneuten Verfahren, die Heiligsprechung, mit der die Erlaubnis zur gesamtkirchlichen Verehrung verbunden ist. Wie schon gezeigt wurde, leidet das an sich so objektiv und sachlich erscheinende Vorgehen an mehreren Schwächen. Die Auswahl der Kandidaten durch die verschiedenen Instanzen wie auch der Entscheidungsmodus ist sehr subjektiv, bedingt durch die jeweiligen Interessen der Beteiligten, aber auch durch die Finanzen der an der Kanonisation interessierten Kreise. Lange war eine Heiligsprechung ein seltenes Ereignis, das sich meist auf Personen bezog, die schon lange verblichen waren. Die Resonanz bei den Gläubigen war dann nicht selten entsprechend bescheiden. Johannes Paul II. hat dagegen durch zahllose Kanonisationen eine Heiligeninflation ausgelöst. Das „Ökumenische Heiligenlexikon“ hat ausgerechnet, dass von 1978-2004, seinem letzten vollen Pontifikatsjahr, 1316 Beatifikationen und 483 Sanktifikationen erfolgt sind – das sind mehr Menschen, als alle Päpste vorher zur Ehre der Altäre erhoben haben. Da befanden sich zwar endlich auch moderne Personen darunter, doch weil sie noch vielen Menschen persönlich bekannt waren, erschienen manche Entscheidungen als sehr diskussionsbedürftig. Man muss wohl eingestehen, dass insgesamt die Heiligenverehrung dadurch nicht gestiegen ist.

Zum zweiten reagierte die amtliche Kirche auf den Heiligenkult dadurch, dass sie ihn in geordnete Bahnen zu lenken suchte und den ärgsten Übertreibungen Einhalt zu gebieten suchte – nicht immer mit durchschlagendem Erfolg. Die Weichen hat bereits das Konzil von Trient 1563 gestellt. Die Richtlinien sind bis heute gültig; spätere höchstinstanzliche Dokumente, die substantiell Neues beibringen, gibt es nicht. Zwei Gedanken möchte ich hervorheben: Die Kirchenversammlung äußert den „nachdrücklichen Wunsch (vehementer cupit)“, dass alle Missstände „völlig abgeschafft werden, so dass keine Bilder einer falschen Lehre oder solche, die den Ungebildeten Gelegenheit zu einem gefährlichen Irrtum geben, aufgestellt werden“. Des Weiteren „soll jeder Aberglaube bei der Anrufung der Heiligen, der Verehrung der Reliquien und dem heiligen Gebrauch der Bilder beseitigt, jeder schändliche Gelderwerb ausgeschaltet und schließlich jede Mutwilligkeit (lascivia) gemieden werden“. Man darf füglich darüber streiten, welchen Erfolg diese Mahnungen in der Gesamtkirche gehabt und auch heute noch haben.

Der zweite Gedanke des Dekrets, den ich betonen möchte, bezieht sich auf die Notwendigkeit der Verehrung von Heiligen. Entsprechend der allgemeinen Tendenz des Konzils, die spätmittelalterliche Praxis zu schützen, hält es an der grundsätzlichen Legitimität des Heiligenkults fest. Zugleich macht es deutlich, dass es sich dabei um einen uralten Brauch (usus) der katholischen Kirche handelt, nicht aber um einen glaubensverpflichtenden und glaubensnotwenigen Bestandteil der Lehre. Die Heiligen zu verehren ist „bonum atque utile, gut und nützlich“ – nicht weniger und nicht mehr. Der Heiligenkult ist also kein articulus stantis et cadentis Ecclesiae. Es wäre schön, würde das auch besser im ökumenischen Gespräch bedacht. Ein katholischer Christ, der mit ihm wenig anfangen kann (die Marienverehrung eingeschlossen), ist unter dogmatischem Blickwinkel ein ebenso guter Gläubiger wie einer, dem die Heiligen ganz wichtig für seine Spiritualität sind.

Von liturgischer Bedeutung waren die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils, die ganz in der Linie des Tridentinums liegen. Der Kirchenkalender war mit Heiligenfesten geradezu überwuchert. Dass das Kirchenjahr eigentlich ein Christusjahr ist, in dem die Mysterien des Erlösers im Blickfeld stehen müssen, war nur schwer noch erkennbar. Dem sucht die Liturgiekonstitution gegenzusteuern: „Die Feste der Heiligen sollen nicht das Übergewicht haben gegenüber den Festen, welche die eigentlichen Heilsmysterien begehen“. Nur solche Gedenktage sollen im Generalkalender stehen, die „wirklich von allgemeiner Bedeutung sind“. Im Jahr 1969 publizierte die Ritenkongregation den neuen „Römischen Kalender“ entsprechend der vom Konzil vorgegebenen Linie. Demnach gibt es einschließlich der vierzehn Marienfeste insgesamt 182 Heiligentage, also ziemlich genau an jedem zweiten Tag. Seitdem sind es noch einige mehr geworden, veranlasst durch nachvatikanische Kanonisierungen. Daneben stehen die zahlreichen Partikularkalender der Diözesen, Nationen, Gemeinschaften, die weitere Heilige anzeigen. Im deutschen Sprachgebiet kommen so noch weitere 67 Eigenfeiern hinzu.

Man darf also von einer Ernüchterung bei der Zuwendung zu den Heiligen sprechen, ganz offiziell in der Liturgie, gewiss aber auch im Leben der Gläubigen bei uns zulande. Damit ist aber noch nicht wirklich etwas über die theologische Bedeutung der Heiligen gesagt. Was „gut und nützlich“ ist, sollte immer und je unsere Aufmerksamkeit, unsere Beachtung finden.

 

Ein theologischer Begriff

 

In der Einladung zu dieser Tagung steht: „Heilige gehören nicht der Vergangenheit an, sie sind Boten der Aktualität des Glaubens“. Ich versuche in diesem Sinne und als Zusammenfassung der bisherigen Überlegungen, den Stellenwert der Heiligen/des Heiligen mittels einiger Thesen darzulegen, die selbstverständlich ausbaufähig, je ausbaubedürftig sind – auf jeden Fall sollten sie das Nachdenken anregen können.

Erstens: Das Thema heilig/Heilige ist ein Hauptthema der Gotteslehre im strengen Sinn. Der Begriff heilig artikuliert die absolute Transzendenz, die unendliche Vollkommenheit, die grenzenlose Mächtigkeit, die restlose Güte Gottes und kann daher im eigentlichen und vollen Sinne nur von ihm prädiziert werden. Daraus ergibt sich alle weitere theologische Betrachtung.

Zweitens: Heilig ist abgeleitet, d. h. aufgrund der grundlosen Zuwendung Gottes an Nichtgöttliches, wie sie die christlich-jüdische Offenbarung lehrt, ein schöpfungstheologischer Begriff. Logisch gesehen heißt das: Er ist relational und analog. Wenn und weil der absolute Gott das Kontingente ins Dasein ruft, haftet diesem die Spur seiner Herkunft an. Von der Schöpfung kann, immer auf Gott bezogen und immer eingedenk der Distanz zwischen Creator und Kreaturen, eine gewisse Vollkommenheit, eine gewisse Potentialität zur Transzendenz behauptet werden. Alle diese Begriffe sind im Begriff der Heiligkeit enthalten. Deswegen kann die Schöpfungserzählung auch sagen: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Und siehe, es war sehr gut“ (Gen 1,31). Zum Glaubensbekenntnis gehört somit die Reaktion der Leute auf Jesu Wirken: „Er hat alles gut gemacht“ (Mk 7,37).

Drittens: Damit werden wir zur Erkenntnis geführt: Unser Begriff ist ein christologischer Begriff. So wie die Welt in heilsgeschichtlicher Betrachtung nun einmal ist, existiert unübersehbar in ihr das Unvollkommene, das Böse, das Begrenzte und Beschränkte – das Unheilige, mit einem Wort. Zur grundlosen Zuwendung Gottes an seine Kreaturen gehört, sagt die christliche Offenbarung, seine heilige Treue gegenüber allen Kreaturen. Sie veranlasst ihn zu jener grundlegenden Erneuerung, die menschliche Heiligkeit wieder ermöglicht. Diese Erneuerung geschieht durch die Heilstat Jesu Christi, des Sohnes Gottes. Sie ist also aus schöpfungstheologischer Sicht eine Vermittlung der ursprünglichen Heiligkeit und des daraus resultierenden Heiles. Man zählte ehedem die Jahre nach Christus als anni reparatae salutis, als Jahre des erneuerten Heiles. Da dies die exklusive Tat Christi ist, ist er allein der Heils- und Heiligkeitsmittler (vgl. 1 Tim 2,5 f.). Im Blick auf die Geschichte des Heiligenkults ist also mit allem Nachdruck zu sagen: Heilige können nicht das Heil selbst vermitteln, weder direkt noch indirekt. Sie schenken keine Gnade und sind auch nicht eine Art Vorzimmerpersonal Gottes, mit dem man sich gut stellen sollte, um den Chef gnädig zu stimmen. Alle Gnade kommt durch Christus.

Viertens: Weil aber die Heiligen zu Gott gehören, ist der Begriff heilig auch ein ekklesiologischer Begriff. Weil Heiligsein Gottbezogenheit, Gottesgemeinschaft bedeutet, wenn auch in verschiedener Dichte, bilden die Geheiligten unter sich eine Gemeinschaft. In der religiösen Sprache: Sie sind Kinder Gottes. Damit erweist sich der Begriff als partizipativ. Ein heiliger Mensch schenkt und erfährt im anderen Menschen das Gute, das die Liebe Gottes ist. Wo immer also Liebe ist und Güte, da ist mitten unter den Menschen Gott gegenwärtig. In diesem und nur in diesem Sinne, also abgeleitet, kann man von einem „Heilsaustausch“ mittels der Heiligen sprechen. Dass sie ihn vollziehen, darum kann man bitten, darauf darf man hoffen, weil sie Glieder der Kirche sind: Sie erfüllen die damit gegebene Pflicht zur Nächstenliebe, meinte bereits Origenes. An dieser Stelle ist auch die Fürbitte der Gläubigen recht geortet. Ihre Grundmelodie lautet: „Hilf mir, dass ich Gott mehr liebe und alle Hindernisse überwinde, die mich davon abhalten“. Wie die Verhältnisse sind, hat bereits Paulus plastisch erklärt: Die Christen verhalten sich zueinander wie die Glieder eines Leibes. Kraft ihrer jeweiligen Eigenschaften tragen sie zum Funktionieren des Gesamtkörpers bei, der aber als solcher vom Lebensprinzip, beim Apostel ist dies das Haupt, gesteuert ist (vgl. 1 Kor 12,12-31a). Das Haupt Christus vermittelt der gesamten Kirche Gottes Heiligkeit, aber in diese Vermittlung sind alle ihre Glieder einbezogen. Diese haben je eigene Funktionen; die Heiligen im engeren Sinne spielen dabei eine besonders heilsame Rolle.

Fünftens: Heilig ist daher auch ein Begriff der christlichen Spiritualität. Das Konzil von Trient hat den Bischöfen die Sorge um den rechten Heiligenkultus deswegen aufgetragen, weil er, nüchtern und richtig vollzogen, wesentliche Punkte der seelsorglichen Verkündigung freisetzt. Er ist deswegen „gut und nützlich“, weil er auf die Gestalt christlicher Spiritualität aufmerksam machen kann. Kanonisationen haben, erinnern wir uns, eigentlich das Ziel, einen bestimmten, auf diese oder jene Weise herausragenden Christenmenschen, für die konkrete, d.h. für die heutige Kirche als Muster exemplarischen Christseins hervorzuheben: seine Mildtätigkeit, seine Frömmigkeit, seine Christustreue angesichts von Bedrängnis oder gar Tod, seine Askese usw. Solche Menschen aber leben überall und immer, sie sind unterschiedlich nach Geschlecht, Alter, Rasse, Nation, Beruf, Lebensumständen etc. Niemand ist von vornherein daran gehindert, seine Heiligkeit zu verwirklichen nach allen seinen Kräften. Diese Feststellung schließt je mich ein. Die Heiligen machen uns darauf aufmerksam, dass Kirche in erster Linie nicht eine Lehrgemeinschaft, sondern eine Lebensgemeinschaft ist. Der Sinn des Lebens liegt nicht in einer passgenauen Orthodoxie. Er liegt in einer gottesförmigen Orthopraxis. Beim Jüngsten Gericht fragt der Menschensohn, so das Matthäusevangelium (Mt 15,31-46), mit keinem Sterbenswort danach, ob wir den Katechismus der Katholischen Kirche geglaubt, zu allen päpstlichen und bischöflichen Verlautbarungen Ja und Amen gesagt, die Kirchengebote genau befolgt haben. Er fragt nicht einmal nach unserem Gottesverhältnis. Er will lediglich wissen, ob wir liebende Menschen – also eben Heilige – waren, die den geringsten Bruder und haarscharf in ihm Gott ernst und ans Herz genommen haben. Solches freilich kann in der Gnade Gottes jeglicher Mensch: Jeder also ist potentiell heilig, zur Heiligkeit berufen und befähigt. In diesem Sinne sind die Heiligsprechungen lediglich seelsorglich bedingte Hinweise für ein christlichen Leben, bestimmt für die Christen und Christinnen in der Gemeinschaft der Kirche. Dazu ist die – sowieso unerreichbare – Vollständigkeit bei der Erfassung heiligen Personals weder verlangt noch möglich. Der Seher von Patmos sieht „eine große Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen; niemand konnte sie zählen“ (Apok 7,9).

Sechstens: Heilig ist schließlich ein eschatologischer Begriff. Das Streben nach Vollkommenheit in der Gottes- und Menschenbeziehung wird lebenslänglich wieder und wieder durchkreuzt von der Schwäche, von der Sündhaftigkeit eines jeden menschlichen Individuums. Sie können zur Heillosigkeit führen. Die Sünde ist eine nicht hinweg zu eskamotierende Realität in der Geschichte. Heiligkeit ist zu keiner Stunde ein Besitz, sie hat den Charakter eines Weges. Man kann sich verlaufen, Umwege machen, sich verirren. Gegen Ende seines Lebens lobten die Leute des Poverello Reinheit und Heiligkeit. Es war im Winter, und Franziskus formte aus dem Schnee eine große und sechs kleine Kugeln. „Das können morgen meine Frau und meine Kinder sein“, kommentierte er sein seltsames Tun. Die Endgültigkeit der Heiligkeit eines Menschen erscheint erst im Moment seines Todes, wenn der Lebensweg abgeschlossen ist. Zugleich erfährt sie darin ihre Vollendung. Diese ist Gott selber, die nicht mehr überbietbare und beseligende Gemeinschaft mit ihm. Heilig sein heißt in summa nichts anderes als „im Himmel sein“.

 

Zum Beschluss

 

Über die Fraglichkeit des Heiligen nachzudenken lautete die uns gestellte Aufgabe. Dabei wurden wir in das blutvolle Leben der Kirche hineingezogen, mit allen ihren Schwächen, mit ihren Aufgaben und mit ihrem Lehrgut, vor allem aber auch mit ihrer bleibenden Gottverbundenheit. Aus diesem Gemenge ergeben sich die vielen Fragen, die sich gestellt haben. Heiligkeit ist kein unproblematischer Begriff, wie immer man die Analyse angeht. Doch hinter aller Bedenklichkeit, damit zu operieren, steht nicht weniger als die Herrlichkeit Gottes selber. Er ist der dreimal, der einzig Heilige. Man kann dankbar sein, dass ein solcher Satz nicht im Abstrakten, im Nebel, im Mythos verbleibt, sondern dass seine Wahrheit wieder und wieder aufleuchtet in den Männern, Frauen, Kindern, die wir die Heiligen nennen. Von ihnen kann man, fraglos, nicht genug hören, von der Betrachtung ihres Lebens, Leidens und Wirkens kann man, hat man sich erst darauf eingelassen, nur schwerlich ablassen. Dazu ist unter anderem auch diese Tagung da.

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