Die Geschichtsphilosophie von Karl Marx

Eine Nachzeichnung der Hauptlinien

Im Rahmen der Veranstaltung Von Hegel zu Marx, 14.02.2023

© Gaston Vuillier / Wikimedia Commons, Public Domain

Die Frage nach der Geschichtsphilosophie von Karl Marx ist für jede systematisch orientierte Beschäftigung mit seinem Werk zentral. Eine geschichtsphilosophische Fundierung des Marxschen Denkens erscheint mit dem von ihm selbst propagierten Anspruch, keine Philosophie mehr zu sein, als unvereinbar. Fasst man das Marxsche Theorieprogramm als Philosophie auf, bleibt zu klären, ob er eine plausible philosophische Konzeption historischer Prozesse vorgelegt hat. Dabei geht es um die Phase der Selbstverwirklichung der menschlichen Gattung, die sich unter den Vorzeichen der Entfremdung und Verdinglichung vollzieht.

Einleitung

Wenn Marx von Geschichte spricht, ist immer die als „Vorgeschichte“ (MEGA2 II.2, 101) bezeichnete Phase gemeint, in der die Menschen sich ihr Gattungswesen und damit auch ihre Geschichte noch nicht bewusst angeeignet haben. In der marxistischen Orthodoxie kommt dem sogenannten „Feuerbach-Kapitel“ in dem 1932 von den damaligen Editoren zu einem einheitlichen Werk namens Die Deutsche Ideologie transformierten Buch die Rolle eines Gründungsdokuments zu. Darin sei, so die Behauptung, der Grundstein des sogenannten „historischen Materialismus“ gelegt worden, welcher im Kern die marxistische Geschichtskonzeption darstelle. Sie sei von da an – die Manuskripte zur deutschen Ideologie entstehen im Zeitraum 1845–1847 – das Herzstück der durch Friedrich Engels und Karl Marx stetig weiter entwickelten materialistischen Theorie gewesen.

In der Tat lässt sich im Marxschen Denken eine metaphysisch anspruchsvolle Geschichtsphilosophie nachweisen. Diese ist durch die spezifisch linkshegelianische Interpretation der Philosophie Hegels sowie die damalige Debattenlage geprägt. Das in der Rezeption tradierte Bild des historischen Materialismus muss dagegen als Artefakt der Editionsentscheidungen der Nachlassverwalter des Marxschen Werkes im 20. Jahrhundert im Zusammenspiel mit den theoretischen und politisch-praktischen Bedürfnissen der Hauptvertreter des Marxismus-Leninismus zurückgewiesen werden. Marx wollte seine philosophische Anthropologie des Gattungswesens empirisch fundieren. Aber der geschichtsphilosophisch gewendete Essentialismus seiner 1844 in Paris entwickelten Konzeption prägt das Marxsche Denken bis in seine Kritik der politischen Ökonomie hinein entscheidend.

Deutsche Ideologie

Die Grundzüge ihrer Geschichtsphilosophie entwickeln Engels und Marx in Auseinandersetzung mit Feuerbach; die diversen Textfragmente wurden von späteren Herausgebern dann als erstes Kapitel der Deutschen Ideologie unter dem Namen „Feuerbach-Kapitel“ zusammengestellt. Aufgrund der überaus komplizierten Quellenlage muss jeder Antwort auf die Frage nach der Geschichtsphilosophie in diesen Manuskripten eine Bemerkung zur Editionslage vorangestellt werden.

Als Die Deutsche Ideologie 1932 in zwei voneinander abweichenden Ausgaben posthum erscheint, vereinen sich in ihr drei sich gegenseitig durchdringende und wechselseitig stützende Mythen. Der erste Mythos besagt, es habe sich bei diesen Manuskripten um eine unveröffentlichte, im Wesentlichen aber von Engels und Marx fertiggestellte Monografie gehandelt. Dem zweiten Mythos zufolge enthält diese Monografie die Grundlage des Marxismus in Gestalt einer von Friedrich Engels später „historischer Materialismus“ getauften Geschichtskonzeption. Den Ort, an dem dieser Theorieschatz zu heben sei, nennt der dritte Mythos: im sogenannten „Feuerbach-Kapitel“.

Aufgrund dieser drei Mythen versuchten die diversen Editionen des 20. Jahrhunderts, um das immer stärker werdende Bedürfnis nach einer festen Grundlage für den sich entwickelnden Marxismus zu stillen, das unterstellte Werk aus den Manuskripten zu vollenden. Entscheidend für dieses Projekt war es, aus den Theoriefragmenten, in denen Engels und Marx ihre eigene Geschichtskonzeption in Abgrenzung zum Linkshegelianismus zu entwerfen versuchten, ein konsistentes Kapitel zu komponieren. Die mittlerweile vorliegende Kritische Edition hat den ersten und den dritten Mythos als haltlos erwiesen. Damit wird auch dem zweiten Mythos, d. h. dem Lehrgebäude des sogenannten historischen Materialismus, die Grundlage entzogen.

Die Herausgeber der Kritischen Edition haben die diversen Manuskripte zu Feuerbach als eigenständige Fragmente sichtbar gemacht und zugleich in ihren sachlichen Zusammenhang gestellt. In diesem Konvolut zu Feuerbach finden sich die zentralen Elemente der Geschichtskonzeption von Engels und Marx. Die Verfasser legen großen Wert darauf, dass jede Geschichtstheorie von kooperierenden Menschen und sozialer Interaktion ausgehen muss. Sie identifizieren drei wesentliche Momente der geschichtlichen Entwicklung: Jede Gesellschaft zeichne sich zu einem gegeben historischen Zeitpunkt ihrer Entwicklung durch eine spezifische historische Entwicklungsform der drei Grundmomente Produktivkraft, gesellschaftlicher Zustand und Bewusstsein, d. h. eine spezifische Form der gesellschaftlichen Selbstinterpretation und -organisation (in rechtlichen, moralischen, politischen oder religiösen, d. h. ideologischen Formen) aus.

Mit der Produktion sind die Selbsterhaltung der Individuen durch Arbeit sowie die Reproduktion der Gattung, beides soziale Verhältnisse, gemeint. Die von Engels und Marx skizzierte Geschichtskonzeption unterscheidet sich von der idealistischen Geschichtsphilosophie, indem das Bewusstsein der Menschen weder der erste, noch der primäre, noch ein von den anderen Faktoren unabhängiger Faktor ist. Das Bewusstsein des Menschen ist als ein von der physischen Beschaffenheit des Menschen und seiner Umwelt geprägtes sowie ein soziales, durch Anerkennungsprozesse vermitteltes Phänomen auch im materialistischen Geschichtsmodell eine relevante Größe.

Die arbeitsteilige Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft ist für Engels und Marx – neben dem Privateigentum – einer der wichtigsten Faktoren zur Erklärung der Entfremdung des Menschen. Sobald in einer Gesellschaft die Trennung von materieller und geistiger Arbeit vollzogen ist, muss das sich verselbständigende Bewusstsein zur Erklärung der geschichtlichen Veränderungen mit in Betracht gezogen werden, auch wenn es in einer materialistischen Theorie nicht als autark gelten kann. Es hängt von der spezifischen Konstellation von Produktionskraft und gesellschaftlichem Zustand ab, welche kausale Rolle das Bewusstsein im Lauf der Geschichte einnimmt. Diese spezifische Konstellation determiniert zwar nicht, welche kausale Rolle das Bewusstsein konkret einnehmen wird, grenzt aber seinen Wirkungskreis und Inhalt ein.

Dem von Engels und Marx verwendeten Geschichtsbegriff zufolge sind geschichtliche Ereignisse Handlungen von Menschen, die Neues im Sinne der Veränderung der Gesamtkonstellation der bürgerlichen Gesellschaft über den Generationenwechsel hinweg hervorbringen. Es handelt sich um Veränderungen, deren Zustandekommen man durch die drei von ihnen identifizierten Momente erklären kann. Sie entwickeln eine empirisch informierte Geschichtsphilosophie, die an historischen und naturwissenschaftlich feststellbaren Tatsachen ausgerichtet ist. Dabei gehen sie in ihren ­Überlegungen auch der Frage nach dem Ursprung der Entfremdung nach. Sie berufen sich auf anthropologische und biologische, jedenfalls kontingente und empirisch überprüfbare Aspekte, um eine Erklärungslücke in der von Marx 1844 entworfenen Entfremdungskonzeption zu schließen.

Engels und Marx betonen mit ihrer Rede vom „sozialen Verhältnis“ (MEGA2 I.5, 28) und der „sozialen Tätigkeit“ (ebd.), dass die Geschichtsphilosophie keine apriorischen Robinsonaden der Vertragstheorie entwerfen dürfe (und solcher Konstrukte auch nicht bedürfe). Ihnen zufolge können die von ihnen identifizierten Grundlagen kontingent sein (es handelt sich also nicht um ahistorische Grundverfasstheiten des Menschen). Außerdem lässt ihre Konzeption es zu, dass sie im Laufe der Geschichte in ganz unterschiedliche Ausprägungen auftreten können.

Engels und Marx bestimmen ihren Begriff von Geschichte zum einen negativ durch Abgrenzung von der idealistischen Geschichtsphilosophie. Sie werfen der „große[n] historische[n] Weisheit der Deutschen“ (MEGA2 I.5, 27) vor, in das Apriorische und Spekulative zu flüchten, „weil sie da sicher zu sein glaubt vor den Eingriffen des ‚rohen Faktums‘“ (ebd.). Als idealistisch attackieren Engels und Marx solche Geschichtskonzeptionen, in denen das Selbstbewusstsein, die Vernunft oder Ideen in der Geschichte als autarke Kräfte fungieren. Dagegen grenzen sie ihre eigene Konzeption durch den Hinweis auf die Abhängigkeit des Bewusstseins und der Gesellschaftsformation von den Produktionsverhältnissen ab. Zum anderen bestimmen sie ihren Geschichtsbegriff positiv mittels dreier Merkmale: Charakteristisch für einen Prozess als „geschichtlich“ ist erstens, dass es menschliches Handeln darstellt – Engels und Marx sprechen durchgehend von der geschichtlichen Tat. Zweitens muss es eine Handlung sein, die eine Veränderung bzw. etwas „Neues“ hervorbringt, die drittens über Generationen hinweg wirkt.

Haben Engels und Marx mit ihrer neuen Konzeption den Bereich der Geschichtsphilosophie generell verlassen? Oder ist ihre Kritik nur gegen deren idealistische Varianten gerichtet? Ihre Kritik ist jedenfalls mit einer auf Fortschritt ausgerichteten Interpretation der Geschichte verträglich. Da die Marxsche Metaphysik des Gattungswesens eine teleologische Struktur besitzt, ist eine szientistische Verengung der Position von Engels und Marx hermeneutisch unplausibel. Auch die Behauptung der beiden, ohne zureichende Entwicklung der Produktivkräfte und eine weltgeschichtlich universale Revolution könne eine Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht gelingen, weil „mit der Nothdurft auch der Streit um das Nothwendige wieder beginnen u. die ganze alte Scheisse sich herstellen müßte“ (MEGA2 I.5, 38), ist mit einer teleologischen Erklärung der Geschichte vereinbar. Denn mit dieser drastisch formulierten Behauptung ist nur gesagt, dass die Aufhebung der Entfremdung materielle Vorbedingungen hat und es für sie keine philosophische Erfolgsgarantie gibt: Scheitert die Revolution, stellen sich die Entfremdungsphänomene wieder ein.

Die These, dass bei Engels und Marx mehr im Spiel ist als eine rein empirische und ‚naturwissenschaftliche‘ Erklärung historischer Ereignisse, wird durch das folgende Zitat belegt:

„Übrigens ist es ganz einerlei was das Bewußtsein alleene anfängt, wir erhalten aus diesem ganzen Dreck nur das eine Resultat, daß diese drei Momente, die Produktionskraft, der gesellschaftliche Zustand, & das Bewußtsein in Widerspruch unter einander gerathen können & müssen, weil mit der Theilung der Arbeit die Möglichkeit, ja die Wirklichkeit gegeben ist, daß die geistige & materielle Thätigkeit daß der Genuß & die Arbeit, Produktion & Consumtion verschiedenen Individuen zufallen, & die Möglichkeit, daß sie nicht in Widerspruch gerathen, nur darin liegt, daß die Theilung der Arbeit wieder aufgehoben wird.“ (MEGA2 I.5, 32)

Die hier zu beobachtende Häufung modaler Ausdrücke verweist auf die essentialistische Metaphysik des Gattungswesens. Es sind vor allem die Kategorie des Widerspruchs und die – im nächsten Zitat verwendete – Kategorie der Totalität, die ein Beweisziel formulieren, welches kategorial außerhalb der Reichweite rein empirisch ausgerichteter Theorien liegt:

„Diese Geschichtsauffassung beruht also darauf, den wirklichen Produktionsprozeß, & zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln & die mit dieser Produktionsweise zusammenhängende & von ihr erzeugte Verkehrsform, also die bürgerliche Gesellschaft in ihren verschiedenen Stufen als Grundlage der ganzen Geschichte aufzufassen & sie sowohl in ihrer Aktion als Staat darzustellen, wie die sämmtlichen verschiedenen theoretischen Erzeugnisse & Formen des Bewußtseins, Religion, Philosophie, Moral &c &c aus ihr zu erklären u. ihren Entstehungsprozeß aus ihnen zu verfolgen, wo dann natürlich auch die Sache in ihrer Totalität (u. darum auch die Wechselwirkung dieser verschiednen Seiten auf einander) dargestellt werden kann.“ (MEGA2 I.5, 45)

Die von Engels und Marx vorgelegte Geschichtskonzeption sollte deshalb als eine empirisch informierte, an historischen und naturwissenschaftlich feststellbaren Tatsachen ausgerichtete Geschichtsphilosophie verstanden werden. Darüber hinaus enthält sie eine Teilantwort auf die Frage nach Ursprung und Notwendigkeit der Entfremdung. Sie wird in den Manuskripten von 1845–47 in der biologischen Verfasstheit des Menschen sowie in kontingenten Ereignissen verortet. Einmal entstanden, entfaltet sie sich in den sozialen Institutionen der Arbeitsteilung und des Privateigentums bis zu dem Entwicklungsstadium, in dem die Voraussetzungen ihrer Aufhebung vorliegen.

Bis heute sind viele Interpreten der Ansicht, dieses Theorieprogramm stelle überhaupt keine Form der Philosophie, a fortiori also auch keine Geschichtsphilosophie mehr dar. Stattdessen liege mit dem historischen Materialismus eine empirisch fundierte, funktional analysierende und mit kausal explanatorischen sowie prognostischen Aufgaben betraute Konzeption ohne metaphysische Anleihen vor. Unsere Diagnose fällt entgegengesetzt aus. Wenn man, und dies ist wissenschaftlich alternativlos, die Relevanz der kritischen Textedition anerkennt, führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass 1843 bis 1847 die formativen Jahre des geschichtsphilosophischen Denkens von Engels und Marx gewesen sind. Eine materialistische Wende, die sich der Narration des orthodoxen Marxismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts zufolge in einem Buch Die Deutsche Ideologie vollzogen haben soll, lässt sich nicht nachweisen.

Die mit den Textbefunden der Kritischen Ausgabe am besten verträgliche Deutung ist vielmehr, dass wir es mit einem durch die linkshegelianischen Debatten vorangetriebenen Prozess zu tun haben, in dem Marx seiner von Hegel inspirierten philosophischen Anthropologie gemeinsam mit Engels eine empirische Plausibilisierung gegeben und mit dem Proletariat einen politischen Träger eingeschrieben hat. An den für ihre philosophische Explikation der Vorgeschichte einschlägigen Stellen finden sich stets modale Aussagen und aus der Hegelschen Philosophie entnommene philosophische Theoreme, die sich nahtlos der von Marx entwickelten Metaphysik des menschlichen Gattungswesens einfügen lassen. In dieser Linie stellt die Kritik der politischen Ökonomie von Marx den Versuch dar, die kausalen Implementierungsmechanismen, durch die sich das menschliche Gattungswesen in den ökonomischen Prozessen empirisch Bahn bricht, in Form einer kritischen Sozialphilosophie zu bestimmen.

Kritik der politischen Ökonomie

Ab 1850 widmet Marx sich seinem philosophischen Forschungsprogramm einer Kritik der politischen Ökonomie, welches er bis zu seinem Tode betreibt und unvollendet hinterlässt. In diesen drei Jahrzehnten verfasst Marx zum Broterwerb journalistische Arbeiten und ist immer wieder auch als Organisator der Arbeiterbewegung politisch und publizistisch aktiv. Doch der Schwerpunkt seiner theoretischen Forschungen liegt auf seiner Analyse des Kapitalismus. Während dieser dreißig Jahre ändern sich das Gesamtkonzept und die Publikationsstrategie von Marx mehrfach. Der Anspruch aber, eine empirisch fundierte und interdisziplinär informierte Theorie des Kapitalismus in Form einer kritischen Sozialphilosophie zu entwickeln, die zugleich das Potential hat, revolutionäre politische Veränderungen anzuleiten, bleibt durch die unveröffentlichten Entwürfe, Manuskripte und Exzerpte hindurch konstant. Erschienen ist von diesem Forschungsprogramm zu Lebzeiten von Marx nur eine kurze Monografie mit dem Titel Zur Kritik der politischen Ökonomie: Erstes Heft im Jahre 1859 sowie Das Kapital, welches 1867 in erster und 1872 in zweiter Auflage von ihm selbst veröffentlicht werden konnte.

Neben dieser Ausgabe in Erstauflage und letzter Hand kommt noch die französische Übersetzung, die – parallel zur zweiten deutschsprachigen Auflage – ab 1872 von Marx vorbereitet erscheint. Alle weiteren Auflagen und Übersetzungen des ersten Bandes von Das Kapital sind editionsphilologisch problematisch. Dies gilt auch für den zweiten und den dritten Band des Kapital, die Friedrich Engels aus dem Nachlass von Marx herausgibt sowie für den sogenannten vierten Band des Kapital, der unter dem Titel Theorien über den Mehrwert von Karl Kautsky in den Jahren 1905–1910 in vier Bänden aus dem Nachlass herausgegeben worden ist. Mittlerweile liegen die Texte von Karl Marx, die zu seinem Programm einer Kritik der politischen Ökonomie zu zählen sind, in Kritischer Edition in der zweiten Abteilung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA2) vollständig vor. Damit hat die Marxforschung nun die Möglichkeit, die originalen Texte von Marx und die verschiedenen editorisch bearbeiteten Versionen seines Hauptwerks Das Kapital auf der soliden Grundlage einer wissenschaftlich edierten Ausgabe zu rezipieren.

1867 ist es endlich so weit. Gedrängt von seinen Freunden und Mitstreitern, die endlich dem Proletariat und deren politischer Führung die theoretischen Grundlagen der Kapitalismuskritik bereitstellen wollen, veröffentlicht Karl Marx Das Kapital, den ersten Band seiner Kritik der politischen Ökonomie. Er tut dies im Grunde widerwillig, weil er seine Theorie als eine holistische Ganzheit (durchaus im Sinne des Hegelschen Systems) versteht, deren einzelne Teile sich in ihrer Bedeutung nur als Momente des Ganzen erfassen lassen. In diesem Buch verbinden sich drei Ansprüche miteinander: die theoretische Durchdringung des gegenwärtigen Kapitalismus als einer sich ausdifferenzierenden und selbst stabilisierenden Totalität, die philosophische Kritik dieser Gesellschafts- und Produktionsform als eine dem Menschen inadäquate Lebensform sowie die Grundlegung einer wissenschaftlich angeleiteten politischen Praxis zur Überwindung des Kapitalismus.

Karl Marx versteht den Kapitalismus seiner Gegenwart als letzte Stufe der Vorgeschichte, in der „alle Produktivkräfte entwickelt“ sind. Es handelt sich ihm zufolge um die „letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses“, deren Überwindung zugleich die Überwindung der antagonistisch getriebenen historischen Entwicklung darstellt. „Vorgeschichte“ ist diese, so ist Marx zu verstehen, weil sich die Menschheit in ihr bisher nicht hat adäquat realisieren können. Damit sind die Rahmenbedingungen für unsere Frage nach den ­geschichtsphilosophischen Annahmen und Konzeptionen, mit denen Marx im Kapital operiert, genannt.

Die entscheidende Frage ist nun, an welcher Stelle und auf welcher Ebene seiner Analyse des Kapitalismus seine Geschichtsphilosophie in die Kritik der politischen Ökonomie eingelassen ist. Bevor dargestellt wird, wo sich die geschichtsphilosophische Rahmung von Marx’ Kritik der politischen Ökonomie finden lässt, gehe ich kurz auf zwei in der Marxforschung zwar weit verbreitete, systematisch aber irreführende Vorschläge ein. Die Gründe, weshalb beide Vorschläge weder zur Struktur der Marxschen Argumentation noch zu seinem methodischen Selbstverständnis passen, werden im dritten Schritt erläutert. Dabei wird zugleich eine alternative Antwort auf die Frage nach der geschichtsphilosophischen Dimension des Kapital unterbreitet.

Den ersten Vorschlag hat Engels als logisch-historische Methode unterbreitet. Wenn die historische Entwicklung von einfachen zu immer komplexeren gesellschaftlichen Strukturen fortschreitet, und wenn dies mit der begrifflich-philosophischen Entwicklung der Kategorien, die Marx im Kapital in seiner Kritik der politischen Ökonomie entfaltet, vom Abstrakten zum Konkreten gleichgesetzt werden kann, dann stellt die begrifflich-kategoriale Entwicklung zugleich die Explikation der geschichtsphilosophisch identifizierbaren Merkmale der historischen Prozesse dar.

Alternativ (oder auch ergänzend) zu der Deutung von Engels ist zweitens versucht worden, das von Marx im Kapital überaus reichliche Material der empirischen, in erster Linie sozialwissenschaftlichen und historischen Forschung, als Ort seiner Geschichtsphilosophie innerhalb des Programms einer Kritik der politischen Ökonomie zu begreifen. Diese Strategie ist dadurch motiviert, dass Karl Marx nach 1845 immer wieder bekundet hat, keine philosophische Theoriebildung mehr betreiben, sondern eine andere Art von Wissenschaft verfolgen zu wollen. Für diese Deutung spricht prima facie zudem, dass Marx im Kapital in der Tat umfangreiche empirische Daten und Quellen heranzieht. Gegen diesen Versuch, aus der Kritik der politischen Ökonomie eine Art empirische Einzelwissenschaft zu machen, sprechen jedoch sowohl der begriffliche Aufbau, den Marx im Kapital entfaltet, als auch die Tatsache, dass eine empirisch-historische Darstellung gar keine Geschichtsphilosophie darstellt. Beachtet man jedoch die modale Geltungsstärke der Marxschen Aussagen, dann lassen sich seine Annahmen nicht auf eine empirische Darstellung historischer Prozesse reduzieren. Ganz im Einklang mit dem von Engels und Marx in den Jahren 1845–47 entworfenen Forschungsprogramm will Marx durch die angeführten Daten die eigene philosophische Theoriebildung mittels empirischer Forschungsergebnisse absichern und plausibilisieren.

Deshalb möchte ich im dritten Schritt nun eine Alternative vorstellen, die sowohl zur Argumentationsstruktur im Kapital als auch zum berühmten Vorwort der Kritik der politischen Ökonomie: Erstes Heft aus dem Jahre 1859 passt. Dort hatte Marx, seine eigene Methode zusammenfassend, geschrieben (die Kursivierungen sind meine Hervorhebungen; MQ):

„Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schooß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. […] Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprocesses […]. Mit dieser Gesellschaftsform schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“ (MEGA2 II.2, 101)

Die Operatoren „alle“, „nie“ und „letzte“ lassen sich durch den Rekurs auf empirische Daten nicht begründen, sondern bedürfen stärkerer Prämissen. Es liegt nahe, diese als geschichtsphilosophische Grundlage anzusehen, die für ihre Begründung ihrerseits philosophischer Voraussetzungen bedarf. Auch die Redeweise von der „Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft“ unterstellt, zumal diese Produktionsweise zum Zeitpunkt der Äußerung dieser Behauptung ja real existiert, ein geschichtsphilosophisch fundiertes Phasenmodell.

Im zweiten Abschnitt des sechsten Kapitels handelt Marx im Kapital die s. g. „‚Ursprüngliche‘ Accumulation“ (MEGA2 II.5, 574) ab. Unter „ursprüngliche Accumulation“ wird „der historische Scheidungsprozeß von Producent und Produktionsmittel“ verstanden (MEGA2 II.5, 575). In diesem Prozess spielt „Gewalt die große Rolle“ (MEGA2 II.5, 575) und er „erscheint als ‚ursprünglich‘, weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produktionsweise bildet“ (ebd.; vgl. auch MEGA2 II.5, 608). Solange die kapitalistische Gesellschaftsform noch dabei ist, sich herauszubilden, nutzt die Bourgeoisie die „Staatsgewalt, um den Arbeitslohn zu ‚reguliren‘“ und den Arbeitstag zu verlängern; ein – wie Marx in diesem Zusammenhang schreibt – „wesentliches Moment der s. g. ursprünglichen Accumulation“ (MEGA2 II.5, 592). In seiner Darstellung der historischen Vorgeschichte des Kapitalismus beschränkt Marx sich auf die Benennung der entscheidenden Phasen:

„Historisch epochemachend in der Geschichte des Scheidungsprozesses sind die Momente, worin große Menschenmassen plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenz- und Produktionsmitteln geschieden und als vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleudert werden.“ (MEGA2 II.5, 576)

Wichtig für unseren Zusammenhang ist dabei, dass Marx sich dezidiert gegen die Identität von begrifflich-philosophischer und historischer Entwicklung ausspricht: Diese „Geschichte nimmt in verschiednen Ländern verschiedne Färbung an und durchläuft die verschiedenen Phasen in verschiedner Reihenfolge“ (ebd.). Die „klassische Form“ (ebd.), welche Marx dabei England attestiert, kann nicht aus dem empirischen Material induktiv gewonnen worden sein, sondern stellt eine Ordnungsleistung seiner begrifflich-logischen Theoriebildung dar. Ist die kapitalistische Produktionsform etabliert, wird die Gewalt abgelöst durch Sozialisation:

„Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt.“ (MEGA2 II.5, 591)

Neben diesen Prozess einer Internalisierung der Herrschaftsverhältnisse tritt eine interne Weiterentwicklung: „Sobald die kapitalistische Produktion einmal auf eigenen Füßen steht erhält sie nicht nur jene Scheidung [von Arbeiter und Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit; MQ], sondern reproducirt sie auf stets wachsender Stufenleiter“ (MEGA2 II.5, 575). Dabei werden nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Kapitalisten selbst enteignet. Diese „Expropriation vollzieht sich durch das Spiel der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion selbst, durch die Koncentration der Kapitalien“ (MEGA2 II.5, 609). Am Ende dieses Konzentrationsprozesses wird ein Zustand erreicht, in dem die „Koncentration der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit […] unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigenthums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriirt“ (MEGA2 II.5, 609). Erst das „Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist“ (ebd.).

Mit dieser Aussage greift Marx sämtliche im 1859er Vorwort genannten Aspekte wieder auf. Mit dem Monopol sind alle internen Entwicklungsmöglichkeiten des Kapitalismus realisiert; diese Produktionsform ist daher in ihrem geschichtlichen Potential erschöpft. Damit ist der Antagonismus dieser Produktionsform auf die Spitze getrieben und letztere muss in eine andere übergehen, um für die vergesellschaftete Arbeit eine neue Form zu finden. Zu unterscheiden sind die ‚ursprüngliche Akkumulation’ als Vorgeschichte des Kapitalismus von dem gesamten, antagonistisch verfassten Prozess der Entwicklung der Produktionsweise bis hin zur kapitalistischen, die Marx als „Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft“ (MEGA2 II.2, 101) charakterisiert. Die Kennzeichnung „Vorgeschichte“ steht dabei für drei Merkmale: (i) die antagonistische Verfasstheit der Produktionsform, (ii) die Ungeplantheit sowie (iii) die analog zu Naturprozessen ungesteuert ablaufende Gesetzmäßigkeit der historischen Entwicklung.

Am Ende des Abschnitts über die s. g. „‚Ursprüngliche‘ Accumulation“ (MEGA2 II.5, 574) fasst Marx diese seiner Kritik der politischen Ökonomie zugrundeliegende geschichtsphilosophische Konzeption zusammen:

„Die kapitalistische Produktions- und Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigenthum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigenthums. Die Negation der kapitalistischen Produktion wird durch sie selbst, mit der Nothwendigkeit eines Naturprozesses, producirt. Es ist Negation der Negation. Diese stellt das individuelle Eigenthum wieder her, aber auf Grundlage der Errungenschaften der kapitalistischen Aera, der Cooperation freier Arbeiter und ihrem Gemeineigenthum an der Erde und den durch die Arbeit selbst producirten Produktionsmitteln.“ (MEGA2 II.5, 609f.)

Die geschichtsphilosophische Dimension seiner Konzeption wird daran deutlich, dass Marx die beiden von ihm unterschiedenen Phasen (ursprüngliche Akkumulation und kapitalistische Produktionsform) mit den Mitteln der hegelschen Logik – als Negation und Negation der Negation – organisiert. Diesen sachlichen Zusammenhang zu entschlüsseln war für den damaligen Leser allerdings nahezu unmöglich. Der Sache nach handelt es sich um die Konzeption, die Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten ausgearbeitet und, gemeinsam mit Friedrich Engels, in den Manuskripten zur Deutschen Ideologie weiterentwickelt hatte. Beide Texte erschienen erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, sodass den Rezipienten bis dahin das nötige Hintergrundwissen fehlte, um die Grundlagen dieser Konzeption zu entschlüsseln. Marx hatte zwar in dem Vorwort seiner Schrift Zur Kritik der politischen Oekonomie im Jahre 1859 auf diese Vorgeschichte hingewiesen. Dabei nannte er aber nur die in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern publizierten Texte von Engels und seiner selbst; außerdem verwies er auf die erst posthum unter dem Titel Die Deutsche Ideologie veröffentlichte „Kritik der nachhegelschen Philosophie“ nur mit dem Hinweis, dieses „Manuskript der nagenden Kritik der Mäuse“ (MEGA2 II.2, 102) überlassen zu haben. Ohne den Diskussionskontext der Jahre 1844–47 vor Augen zu haben, ist es nicht möglich, die philosophisch-anthropologischen Grundlagen der geschichtsphilosophischen Konzeption von Marx zu erkennen. Daher konnte es den zeitgenössischen Lesern nicht gelingen, die spezifische Art und Weise, mit der Karl Marx die hegelsche Dialektik zum Einsatz gebracht hat, zu entschlüsseln. Auf letzteres Problem versuchte er zwar im „Nachwort“ zur zweiten Auflage des Kapital zu reagieren (vgl. MEGA2 II.6, 709f.). Aber dies blieb letztlich für lange Zeit erfolglos – nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil Friedrich Engels und Karl Marx unausgesprochen unterschiedliche Auffassungen über das Verhält­nis von hegelscher und marxscher Dialektik hatten.

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