Ein “Handbuch zum literarischen Katholizismus im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts”

Fragen an ein Projekt

Im Rahmen der Veranstaltung "Rückkehr der Religion – passé?", 21.11.2022

©tilialucida, canva

Im Folgenden möchte ich Ihnen mit dem im Vortragstitel genannten Handbuch ein Unternehmen vorstellen, dessen Anfänge in die ersten Jahre nach meiner Berufung an die Katholische Universität Eichstätt im Jahr 2002 zurückreichen und das hoffentlich in absehbarer Zeit ein glückliches Ende finden wird. Ich gehe dabei aber nicht auf die mehrjährige Entstehungsgeschichte dieses Projekts ein, zu der freilich einiges Bedenkenswerte zu sagen wäre, sondern konzentriere mich in fünf Abschnitten auf bestimmte Kernpunkte und Leitlinien, die bei seiner Ausführung federführend waren. Diese Abschnitte tragen die Überschriften Das Projekt, Der Literaturbegriff, Das Beobachtungsfeld, skizzieren dann eine Erweiterung des Beobachtungsfeldes und schließen mit der „alles entscheidenden Frage“.

Das Projekt

Worum es dabei geht, können Sie der folgenden Ankündigung auf der Website des Aschendorff-Verlages entnehmen:

„Das vorliegende Handbuch ist ein Spiegel katholischen Geisteslebens im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts. Mehr als 300 werkbiographische Artikel porträtieren das Schrifttum katholisch sozialisierter Autorinnen und Autoren aus literatur-, intellektuellen-, bildungs- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive. Damit fassen sie nicht nur den Begriff des ‚literarischen Katholizismus‘ neu, nämlich von einem weiten Literaturbegriff her, der über die belletristische auf die lebensbegleitende, theoriegeleitete und publizistische Produktion katholischer Autorinnen und Autoren hin ausgreift. Indem neben die ‚großen‘ eine Fülle kaum noch bekannter Namen tritt, erschließt sich ein neuer Blick auch auf den Kulturkatholizismus des vergangenen Jahrhunderts als Vielstimmigkeit ‚des‘ Katholischen: als innere Pluralität und Pluralisierungsdynamik.“

Das ist, wie Sie sehen, von einem gewissen Optimismus getragen: Das „vorliegende“ ist ja erst ein im Entstehen begriffenes Handbuch. Aber es wird doch erkennbar, dass ihm eine gefestigte Konzeption zugrundeliegt. Als ein „Spiegel katholischen Geisteslebens“ behandelt es die Literaturproduktion katholisch sozialisierter, d. h. katholisch getaufter und in einem katholischen Umfeld aufgewachsener Autorinnen und Autoren im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts, also auch mit Ausgriffen nach Österreich und in die Schweiz. Dass das Lexikon mit einem „weiten Literaturbegriff“ arbeitet, bedeutet, dass gar nicht in erster Linie die sog. Schöne Literatur, also Romane, Dramen, Erzählungen und Gedichte bekannter Autoren (wie R. Schneider oder W. Bergengruen) und Autorinnen (wie E. Langgässer) im Mittelpunkt stehen, wenngleich sie natürlich nicht ausgespart bleiben, sondern dass das Schrifttum katholischer Autorinnen und Autoren in seiner ganzen Breite Berücksichtigung findet: theologische Werke vor allem, wenn sie über die Grenzen einer wissenschaftlichen Fachöffentlichkeit hinaus gewirkt haben (Guardini!), aber auch lebensbegleitende Literatur wie Brautbücher oder Titel, die Jugendliche durch ihre Pubertät begleitet haben; dann die geschichtsphilosophische und kulturkritische Essayistik z. B. Haeckers u. a.; ferner ethnologische und sprachwissenschaftliche Werke, bei denen katholische Autoren Einflussreiches geleistet haben, u. v. a. m.

Nebenbei: Letzteres ist auch wissenschaftsgeschichtlich von Interesse; mag die deutschsprachige Historiographie im 19. Jahrhundert protestantisch dominiert worden sein, so gilt für die Völkerkunde, dass sie in manchem verdeckt katholisch geprägt ist. (Und wem, wenn er nicht gerade im Internet darauf gestoßen ist, wäre bewusst, dass der Erfinder der Plansprache Volapük der katholische Geistliche Johann Martin Schleyer [1831–1912] war?) – Deutlich wird, was das Lexikon nicht ist: Es sammelt weder, wie der alte ‚Kosch‘, katholische Vertreter der verschiedensten Stände und Berufe in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, sondern konzentriert sich allein auf ihren literarisch-publizistischen Beitrag zum katholischen Geistesleben des 20. Jahrhunderts. Und es ist auch nicht ein Lexikon des politischen Katholizismus, noch weniger ein katholisches Martyrologium des 20. Jahrhunderts.

Wie es sich mit der im letzten Satz des bei Aschendorff publizierten Textes angesprochenen Vielfalt und „Vielstimmigkeit“ ‚des‘ Katholischen im 20. Jahrhundert verhält, verdeutlicht Ihnen ein Blick nur auf die ersten neun der in diesem Lexikon behandelten Autoren und Autorinnen. Es sind dies:

  • Herbert Achternbusch (1938–2022), Erzähler, Dramatiker, Filmemacher und Schauspieler
  • August Adam (1888–1965), Theologe, Schriftsteller, Pädagoge
  • Karl Adam (1876–1966), Priester u. Theologe
  • Theodor W. Adorno (1903–1969), Gesellschaftsphilosoph
  • Otl Aicher (1922–1991), Kommunikationsdesigner
  • Magda Alberti (1864–1932), Konvertitin, Erzählerin
  • Alois Albrecht (geb. 1936), Priester, Autor geistlicher Lieder, Spiele und Szenen
  • Elisabeth Alexander (1922–2009), Schriftstellerin (Romane, Kurzgeschichten, Gedichtbände, Kinderbücher), kritische Parteigängerin der Frauen- und Studenten-
    bewegung
  • Stefan Andres (1906–1970), Erzählungen und Dramen

Vermutlich erst mit Stefan Andres begegnet hier ein Autor, der zumindest noch einigen von Ihnen mit seinen Romanen und Erzählungen als Repräsentant christlicher Literatur und Angehöriger der „Inneren Emigration“ bzw. einer Literatur des Exils bekannt ist. Aber Herbert Achternbusch, der bayerisch-anarchische Religionsprovokateur? Natürlich gehört er hinein – nur Katholiken, so ist einmal gesagt worden, seien gewisser Blasphemien fähig; sie zeigen sich, wie Günter Grass und andere, dem Katholischen durch die Negation verbunden.

Über den durch sein Buch Das Wesen des Katholizismus weltberühmt gewordenen, sich in manchem mit dem Nationalsozialismus in Übereinstimmung wähnenden Karl Adam muss hier kein Wort verloren werden – ihm gebührt ein ausführlicher (und kritischer) Artikel; aber Theodor W. Adorno? Nun, er war katholisch getauft, unterhielt zeitlebens teils enge Beziehungen zu führenden Vertretern des katholischen Geisteslebens wie dem Komponisten Ernst Krenek oder dem Kösel-Verleger Heinrich Wild und empfahl den katholischen Philosophen Hermann Krings auf ein philosophisches Ordinariat an der LMU München.

Der rebellische Otl Aicher gehörte bekanntlich zum Kreis um die Geschwister Scholl, verkehrte mit Muth und Haecker und schrieb ein Erlebnis- und Bekenntnisbuch (innenseiten des krieges, 1985), das den in Wittgenstein und Wilhelm von Ockham Belesenen u. a. als einen kompromisslosen Kritiker von Militarismus, Nationalsozialismus und Faschismus ausweist – zur debatte hat kürzlich anlässlich seines 100. Geburtstags an ihn erinnert (Otl Aicher. Der Gestalter und Mensch, 1/2023, S. 38).

Die religiös suchende Magda Alberti, verheiratet mit einem protestantischen Pfarrer, verfasste Erzählungen, die ihren schwierigen Weg in die katholische Kirche nachzeichnen, indes Elisabeth Alexander reichlich unfromme Gedichte produzierte; der ihr gewidmete Artikel in der 2. Auflage von Killys Literaturlexikon bucht sie als eine „Meisterin der kurzen Form“, referiert aber auch Zuschreibungen wie „Rebellin“, „Plebejerin“ und „Pornographin“. Auf dieses Ende läuft die oben zitierte „Pluralisierungsdynamik“ ‚des‘ Katholischen gewiss nicht zu – aber es zeigt sich doch, was im Übergang von der 1932 gestorbenen Alberti zu der ein Jahrzehnt zuvor (1922) geborenen Alexander in diesem literarischen Feld in Bewegung geraten konnte.

Der Literaturbegriff

Werfen wir damit kurz einen Blick auf den Literaturbegriff, der dieses Lexikon leitet. Er stammt von dem Heidelberger Germanisten Wilhelm Kühlmann, der wesentlicher Wegbereiter in einer Phase der Vorgeschichte des Handbuchs war, und lautet:

„Literarischer Katholizismus versteht sich als Inbegriff […] einer Lese-, Schreib-, Verlags- und Zeitschriftenkultur, deren Vertreter in ehemals oder aktuell katholisch, traditionalistisch oder reformistisch definierten Frage- und Diskurszusammenhängen denken, schreiben, argumentieren, symbolisieren und sich in überwiegender Anzahl, jedoch durchaus verschiedener Färbung und Intensität dazu im Rahmen ihrer persönlichen Werteorientierung reflektiert bekennen – wenn auch oft je verschieden in verschiedenen Lebensphasen bis hin zur totalen Negation. Entscheidend bei dieser Definition ist die objektiv feststellbare Zuordnung von Autoren, Werken, periodischen Publikationen und literarischen Institutionen zu den im katholischen Kulturraum virulenten Erinnerungsbeständen, Wissensbindungen, Diskursen und Vernetzungen.“

Neben seiner definitorischen Schärfe liegt der Weitblick dieses Literaturbegriffs u. a. darin, dass er katholische Autorschaft weniger von der Glaubensbindung, also einem subjektiven und Schwankungen unterworfenen Datum her fasst, als vielmehr von den Diskursfeldern, in denen sie sich bewegt. Das hängt mit einer Veränderung im Begriff katholischer Autorschaft selbst zusammen, die einmal Hans Maier, bei mehreren Tagungen auf Schloss Hirschberg übrigens einer der wichtigsten Anreger auf der ersten Wegstrecke hin zu diesem Lexikon, wie folgt auf den Punkt brachte: „Im 19. Jahrhundert war ein katholischer Schriftsteller ein katholischer Schriftsteller; im 20. Jahrhundert ist er einer, der als Kind katholisch war.“ Das heißt: Viele derer, die sich heute im Feld des literarischen Katholizismus bewegen, haben das katholische Milieu ihrer Kindheit als lebensprägend erfahren, sich aber teilweise auch aufgrund dort erlittener Erfahrungen von der kirchlichen Bindung weitgehend gelöst und schreiben über das Katholische aus der Wendung gegen sie. Das gilt nicht für alle! Aber es folgt daraus: Martin Mosebach gehört ebenso ins Lexikon wie Josef Winkler.

Das Beobachtungsfeld

Wenn man diesen weitgefassten, aber gut handhabbaren Literaturbegriff zugrundelegt: welche Beobachtungsfelder und Beobachtungsmöglichkeiten auf diesem Feld des ‚literarischen Katholizismus‘ erschließen sich dann? Sie können sich diese Frage beantworten, wenn Sie mit mir einen Blick auf eine relativ zufällig ausgewählte Doppelseite aus einem sehr wertvollen Findemittel werfen: die von dem österreichischen Bibliothekar Friedrich Rennhofer erarbeitete Bücherkunde des katholischen Lebens. Sie können dem Titel ablesen, dass Rennhofer im Erscheinungsjahr dieser Bücherkunde, 1961, bereits mit einem weitgefassten Literaturbegriff arbeitet, bevor ihn Kühlmann seiner definitorischen Präzisierung zugeführt hat; von katholischem „Leben“ ist ja bei Rennhofer die Rede in all seinen (auch lebensabschnittsspezifischen) Bewandtniszusammenhängen und der darauf bezogenen Literatur.

Zunächst etwas ganz Äußerliches: die Auflagenzahlen. Zwei Auflagen erreichen jeweils Titel von A. Franke, H. Spaemann, P. Eismann, H. Adam, A. Brems, R. Bösinger, Ph. Craw­ford, Cl. Pereira. Drei Auflagen: J. Kunz, E. Rommerskirch, P. Louis., P. Eismann, M. Raymond, G. Schmid. Vier Auflagen: A. Krautheimer, E. Lutz, H. Hilger, G. Schmid. Fünf Auflagen: P. Schulte, der „fliegende Pater“. Sechs Auflagen: F. Mahr, K. Tilmann. Zuweilen ist auch nur die Zahl der gedruckten Exemplare angegeben: 13.–22. Tsd. A. Fuger, 24.–28. Tsd. G.A. Lutterbeck, 27.–31. Tsd. K. Tilmann.

Gewiss alles keine sensationellen ‚Bestseller‘, aber doch: Diese Bücher – alles „Jugendbücher“ – fanden offensichtlich ihre Leser, hier besonders unter den männlichen katholischen Jugendlichen („Mädchenbücher“ führt Rennhofer unter diesem Lemma separat); sie taten ihre Wirkung, wie unauffällig die immer gewesen sein mag.

Dann können wir bestimmte Verlagsorte identifizieren; Konturen einer katholischen Verlagslandschaft treten hervor, die das ‚Dritte Reich‘ überdauert hatte und um einzelne Neugründungen nach dem Krieg bereichert worden war: Innsbruck (Tyrolia), Graz (Styria), Luzern (Rex-Verlag), Einsiedeln (Benziger), Freiburg (Herder), München (Don Bosco-Verlag), Donauwörth (Cassianeum), Nürnberg (Glock&Lutz), Würzburg (Arena-Verlag), Regensburg (Pustet, Habbel), Aschaffenburg (Pattloch), Köln (Bachem), Düsseldorf (Haus Altenberg), Kevelaer (Butzon&Bercker), Recklinghausen (Paulus-Verlag), Paderborn (Bonifatius), und einige andere. Viele davon sind noch im 19. Jahrhundert gegründet worden, der 1918 gegründete Matthias-Grünewald-Verlag ist hier eine Ausnahme – auch darin, dass er den (nicht-katholischen, aber einflussreichen) Friedrich Wilhelm Förster verlegt, mit dessen Büchern zur Lebensführung. Ein Buch für junge Menschen und Lebenskunde. Ein Buch für Knaben und Mädchen der Verlag hohe Auflagen erzielt (147.–151. und 96.–100. Tsd.).

Schließlich die Titel als Trendanzeiger: Da fallen die Bücher der Lebensführung und -begleitung für den Heranwachsenden ins Auge wie Jungen von heute – Männer von morgen. Eine Lebenskunde, hrsg. von E. Bercker, Unterwegs zum Mann von J. Vienjean und A. Lötscher; Aufbruch ins Leben. Ein Buch der Selbsterziehung für junge Menschen von F. Mahr oder Zwischen 13 und 17 von Clemens Pereira SJ; dann die Missions- (Christus im Urwald von P. Louis) und Märtyrergeschichten, wobei bei den Missionsgeschichten das Abenteuerliche einen (zusätzlichen) stofflichen Leseanreiz bietet (Glocken am Kururu. Das Abenteuer einer Indianermission von A. J. Burks), bei den Märtyrererzählungen zeitgemäß, wenngleich nicht immer, die antikommunistische Stoßrichtung mitläuft (Junger Held der neuen Zeit. Der Blutzeuge Christi Alois Grodze aus Slowenien [1923–1943]. Ein Opfer des gottlosen Kommunismus von G. Schmid; Ders.: Buben im Sturm. Vom siegreichen Kampf junger Helden und Märtyrer aus allen Zeiten der Kirchengeschichte; Ders.: Bubentrotz, Bubentreue. Von Kämpfen und Siegen junger Glaubenshelden; Kl. Tilmann: Todesverächter. Ein Tatsachenbericht aus der Geschichte der Kirche in Korea; R. Bleistein: Fu-Lin und der Rote Tiger. Eine Erzählung über ein Schicksal der Christen in China; G.A. Lutterbeck: Die Jagd über die Inseln. Eine Erzählung aus den Kämpfen der japanischen Kirche).

Beispielhafte Entwicklungsgeschichten zeichnen an ungewöhnlichen Lebensläufen den Weg vom „Sportler zum Heiligen“ (M. Korda: Vom Sportler zum Heiligen. Stefan Kaszap) oder vom „Cowboy zum Trappisten“ (!) nach (M. Raymond: Ein Mensch wird fertig mit Gott. Vom Cowboy zum Trappisten. [Leben von John Green Hanning]). Daneben finden wir Gebetbücher, Bücher für die Werkarbeit, für die Gruppen- und Führerschulung (F. Feuling: Der junge Christ. Ein Buch der Jungführer; A. Brems: Die Runde der Treuen. Werkstoff zur Schulung und Bildung katholischen Jungführertums), Christusbücher (L. Esch S.J.: Jesus Christus, Lehrer und Meister. Das Leben des Herrn als Antwort auf die tiefsten Fragen junger Menschen) und anderes.

Insgesamt zeichnen sich schon bei dieser flüchtigen Betrachtung die Umrisse einer intensiven, milieuspezifischen Lesersozialisation durch das katholische Buch im Jugendalter ab. Zum Rezipienten katholischer Literatur wurde man offensichtlich nicht erst im Erwachsenenalter und mit Bergengruen-Lektüren, sondern aufgrund einer ihnen vorgeschalteten Buch- und Lesekultur, bei der Abenteuerliches und Spannendes zusammen mit vorbildhaft zur Nachfolge aufrufenden Lebensläufen und eindringlich vorgetragenen Lebenshaltungen prägend wirken konnten. Es scheint mir deshalb unzweifelhaft, dass gerade die Autoren solch nachwirkenden, aber im Kanon ‚großer‘ katholischer Dichtung fehlenden Schrifttums in einem Lexikon des literarischen Katholizismus ihren Platz finden müssen. Wer kennt noch Peter Dörfler oder den wegen seines pathologischen Antisemitismus unerträglichen W. Matthießen mit der allerdings milieuecht und atmosphärisch eindringlich in der Düsseldorfer Altstadt der 1920er Jahre angesiedelten Jugenderzählung Das rote U?

Eine Erweiterung des Beobachtungsfeldes

Aus diesem Einblick in die Lesersozialisation (und Leserlenkung!) jugendlicher Leser im katholischen Milieu ergibt sich indes die weitergehende Frage, wie sich das Verhältnis von Katholiken zum Buch überhaupt und insbesondere zu solchen Werken der ‚Schönen Literatur‘ gestaltete, die aus der Feder nicht-katholischer Autorinnen und Autoren stammten. Wie weit war es Katholikinnen und Katholiken möglich, an einer literarischen Kultur teilzuhaben und sich auf sie einzulassen, die außerhalb ihres Milieus und ohne die Rückversicherung an dessen künstlerische, sittliche und religiöse Wertbindungen entstanden war?

Das ist eine Frage, deren Beantwortung zwar nicht mehr zum Aufgabenbereich des Handbuchs gehört, die aber doch in dem Wahrnehmungshorizont eingeschlossen ist, aus dem es hervorgeht. Deshalb auch hierzu ein abschließendes Beispiel – die Schilderung eines Gruppenabends aus einer 1930 in 2. Auflage erschienenen broschierten Kleinschrift (Johannes Dombrowski; Otto Schreiber: Langenau. Gedanken zur Führerschule. Potsdam: Verlag der Neudeutschen Ostmark ²1930 [Burgwacht; Bd. 3], S.63f.). (Ob ihr Verfasser mit jenem Johannes Dombrowski identisch ist, der 1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde, ließ sich bisher nicht ermitteln. Er war aber mit großer Wahrscheinlichkeit Mitglied im Bund Neudeutschland.) Das Zitat ist etwas lang, aber, wie Sie sehen werden, aufschlussreich für die angesprochene Fragestellung. Die Kleinschrift im Original ist beibehalten, Sperrungen wurden durch Kursivierung wiedergegeben:

„Als [rainer maria] rilke [1926, TP] starb, lag sein name in der luft, ich hielt daher bald einen dichterabend über ihn. Der abend sollte einheitlich werden, eine geschlossene wirkung erzeugen. Ich überlegte also die grundstimmung, auf die ich abzielen könnte. So liegt um eichendorff eine froh-romantische, um hölderlin eine klassische, um george eine melancholisch-romantische stimmung; rilke war mir immer unheimlich, traurig, tiefsinnig und etwas dämonisch. Ich zeichnete also auf einen großen karton mit schwarzer kohle die totenmaske rilkes, ließ die gruppe im dunklen zimmer an einem langen tisch sitzen und brannte vor der totenmaske am oberen tischende zwei kerzen an, wir sangen dreistimmig „es fiel ein reif“. Die in erschütternder kürze berichtete tragik zweier menschen verfehlte ihr wirkung nicht. Um sie noch zu stärken, spielten dann die geigen ein verhaltenes polyphones musikstück, die stimmung war da. Mit gedämpfter stimme sprach nun einer ganz wenige worte von rilkes verschlossener melancholie, von seinem leben, dem verschwommenen gottesbegriff, aber auch von seinem steten unruhigen suchen nach gott, von der kraft seines liebenden herzens und von seinem seltsamen tod. nun war die einstellung auf den mittelpunkt geschaffen. alle konzentration war bisher auf diesen punkt erfolgt, darum wurde nun das erste gedicht gelesen.“

Dieses erste Gedicht ist das An Gott („Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehen; wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören…“), danach, nach diesem gewaltigen auftakt, folgen Der blasse Edelknabe spricht, Es tauchten tausend Theologen, das herrliche stück, Ein Pilgermorgen und als letztes der Rilkeschen Gedichte das über Franz von Assisi „O wo ist er, der aus Besitz und Zeit…“. Es beschließt jedoch nicht diesen Abend: „ein lied, das abendgebet und ‚morgenstern der finstern nacht‘ gaben das ende.“

Zwar „seltsam“ war an Rilkes Tod gar nichts – er starb an Leukämie, und er hat den höllischen Qualen dieser Erkrankung ein letztes Gedicht abgerungen, das wie kein anderes die Vereinzelung durch den Schmerz in Worte und Verse fasst als ein Zeugnis ganz außergewöhnlicher, dichterischer wie menschlicher Fassungskraft („Komm du, du Letzter, den ich anerkenne, / heilloser Schmerz im leiblichen Geweb…“). Aber man muss sich nur der einflussreichen (und in manchem treffenden) Kritik Guardinis an Rilkes Deutung des Daseins von 1953 erinnern, um zu sehen, wie hier, ein Vierteljahrhundert zuvor, bereits die Grundlagen einer spezifisch katholischen Rilke-Rezeption gelegt worden sind. Denn katholisch ist sie in Zielrichtung wie Verfahren: Künste (Bildkunst, Gesang und Geigenspiel) und stimmungsvolle Requisiten (Kerzenschein im zuvor verdunkelten Zimmer) schaffen so tastend wie zielbewusst („die stimmung war da“!) eine Atmosphäre der Konzentration und Verinnerlichung, bei der Rilke zwar nicht ins Katholische zurückgeholt wird. Die Distanz gegenüber dessen freireligiös-kirchendistanziertem, „verschwommene[m] gottesbegriff“ bleibt deutlich.

Aber er gehört mit seinem „suchen nach gott“ doch zu jenen Exempelfiguren, die sich dem Unterwegssein der Jugend zur Seite stellen lassen, und kann deshalb mit abschließendem Abendgebet und Angelus Silesius’ Morgenstern der finstern Nacht ins Katholische – wenn eben nicht zurückgeholt, so doch darin eingehegt werden. Ein Handbuch, das einen Eintrag über Spuren des Katholischen im Werk des (katholisch getauften) Rilke zu erwägen hätte, könnte an solchen konfessionskulturellen Besonderheiten seiner Rezeption nicht vorübergehen; sie gehören gewissermaßen zu den meist unsichtbar bleibenden Substrukturen der auf ihnen errichteten Literaturkathedralen.

Die alles entscheidende Frage

In einem Gesprächsband (Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiographie. Im Gespräch mit Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow, München 2021, S. 228) hat der im Dezember letzten Jahres verstorbene Philosoph Dieter Henrich gesagt: „Ich erinnere mich oft an eine Bemerkung des früh gestorbenen Musikwissenschaftlers Carl Dahlhaus: Projekte machen könne jeder, aber sie wirklich bis zu Ende auszuführen, das sei die seltene Ausnahme.“ Wie könnte dann die alles entscheidende Frage anders lauten als: Wann erscheint das opus denn endlich? – Nun, angekündigt ist es für Ende 2024.

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