Als Antwort und in Reaktion auf den Vortrag von Dr. Johannes Oeldemann werde ich versuchen, die Position meiner Kirche in der heutigen Situation der Auseinandersetzung über die Wege der Orthodoxie in der Ukraine zu erklären. Dabei möchte ich vor allem juridische und psychologische Aspekte akzentuieren.
I.
Ich gehöre zu der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, kurz UOK. Das ist ihr offizieller Titel seit 1990, nachdem sie durch die Änderungen in der Sowjetunion und die Befreiung vom Druck des atheistischen Staates breitere Rechte bekommen hatte. Laut dem offiziellen Statut der UOK ist sie „durch die Russische Orthodoxe Kirche mit anderen lokalen Orthodoxen Kirchen verbunden“. Ihre Gegner fordern jedoch, dass sie auch offiziell in ihrem Titel zeigen müsse, dass sie ein Teil des Moskauer Patriarchats ist. Laut einem ukrainischen Gesetz, das jedoch noch nicht in Kraft ist, müssten die Gemeinden unserer Kirche in ihrem Titel deutlich zeigen, dass ihre Kirchenleitung sich in einem „Aggressor-Staat“ befindet.
Das war die Position des ukrainischen Staates und seiner Abgeordneten in der Präsidentenzeit von Petro Poroschenko. So bleibt sie auch jetzt, obwohl die aggressive antirussische Rhetorik in den Wahlen des letzten Jahres von den ukrainischen Bürgern wenig unterstützt wurde. Poroschenkos Wahlkampf-Slogan „Armee! Sprache! Glaube!“ wurde nur von einem Viertel der Bevölkerung unterstützt und die Stimmen für ihn kamen vor allem aus der Westukraine.
Diese Bemerkungen zur Bezeichnung der Kirche und zu den Wahlen zeigen, dass die Frage der Entstehung der neuen autokephalen Kirche in der Ukraine nicht nur eine Frage der Konkurrenz zwischen der sogenannten Ukrainischen und der sogenannten Russischen Kirche ist. Vor allem betrifft sie die Beziehungen zwischen dem Staat und der Kirche. Nicht weniger wichtig ist die Frage der Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen der Ukraine. Denn bis 1939/40 gehörten die Gebiete der heutigen Westukraine zu Polen und Rumänien, während der größere Teil der heutigen Ukraine seit Mitte der 17. Jahrhunderts bis Ende des 20. Jahrhunderts zu Russland gehörte.
Eine andere Bemerkung im juridischen Bereich bezieht sich auf den Titel der neu gegründeten kirchlichen Struktur. Die Beobachter im Ausland kennen diese als „Orthodoxe Kirche der Ukraine“, kurz OKU. So wird sie auch in dem Tomos genannt, mit dem dieser Kirche vom Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios von Konstantinopel die Autokephalie verliehen wurde. Aber in den offiziellen Registern des Justizministeriums der Ukraine ist sie als „Ukrainische Orthodoxe Kirche“ verzeichnet, und nur in Klammern folgt die Abkürzung „OKU“. Das bedeutet, dass der Staat in der Auseinandersetzung zwischen den beiden konkurrierenden Kirchen über die ukrainische Identität aktiv mitspielt und bewusst ein Durcheinander mit den Titeln entstehen lässt. Dazu muss man wissen, dass in der Ukraine größere kirchliche Organisationen wie die UOK und die OKU, aber auch andere kirchliche Strukturen, bis jetzt keinen Status der juristischen Person haben. Vor dem Staat sind sie nur „Vereinigungen“ der lokalen religiösen Gemeinden. Das bedeutet, dass es juristisch gesehen eigentlich nur konkrete lokale religiöse Gemeinden gibt.
Laut dem neuen Gesetz vom Januar 2019 über die Änderungen der Zuordnung der religiösen Gemeinden sind sie frei, ihre Zugehörigkeit zur UOK bzw. zur OKU zu wählen. Im Blick auf die erwähnte Spielerei mit den Titeln der Kirchen wird klar, dass der Staat im religiösen Bereich eindeutig auf der Seite einer der kirchlichen Strukturen steht oder gestanden hat. Das widerspricht den öffentlichen Erklärungen der staatlichen Behörden über Garantien der Freiheit und Frieden zwischen den religiösen Gemeinschaften, wozu sie theoretisch aufgerufen sind.
Die staatlichen Beauftragten wollten bewusst, dass die Mehrheit der Gemeinden unserer Kirche sich durch diese Prozedur des Namenwechsels automatisch in der Struktur der neuen Kirche befindet. Genauer gesagt, sollte jede lokale Gemeinde unserer Kirche vor die Wahl gestellt werden: Die erste Möglichkeit wäre, sich deutlich mit der russischen imperialistischen Staatspolitik zu assoziieren, was von vielen nicht gewünscht wird. Die zweite Möglichkeit, die mit der Verweigerung von juridischen Änderungen im Gemeindestatut verbunden gewesen wäre, bestand darin, dass die Gemeinden sich plötzlich in der neuen kirchlichen Struktur mit dem alten Namen „Ukrainische Orthodoxe Kirche“, aber mit dem neuen Oberhaupt Metropolit Epiphanij (statt Metropolit Onufrij) befinden könnten.
Ich finde es wichtig, sich bewusst zu machen, dass wir in der Ukraine immer noch das Erbe der sowjetischen atheistischen Standards in den Beziehungen zwischen dem Staat und der Kirche spüren. Die gläubigen Menschen sind eher toleriert vom Staat, der keine Probleme sieht, die Kirchen als Instrument der Nationsbildung zu benutzen. Während es in der Sowjetzeit um atheistische Propaganda ging, wird nun – im Kontext des Konflikts mit Russland – die Idee des Nationalstaates in den Vordergrund gestellt. Als Bestätigung dieser Idee diente unter Präsident Poroschenko der zweite Teil des Slogans „Armee! Sprache! Glaube!“
Die Position der ukrainischen Sprache wurde durch das Gesetz „über Garantien der Verwendung der ukrainischen Sprache als Staatssprache“ stark unterstützt. Dieses Gesetz wurde Ende April 2019 vom Ukrainischen Parlament verabschiedet. Weniger als einen Monat später hat der neue Präsident Selenskyj dieses Parlament aufgelöst. Dieses Gesetz zielt vor allem darauf, die Verwendung der russischen Sprache in der Ukraine deutlich zu begrenzen – sowohl in den Medien, als auch in der öffentlichen Sphäre. Auch hier ist es wichtig zu bemerken, dass die Idee wieder in der Abgrenzung gegenüber Russland besteht. Das Problem ist jedoch, dass sie vor allem die ukrainischen Bürger betrifft, die in der Zentral- und Südost-Ukraine leben und Russisch als Muttersprache verwenden. Die Frage der Sprache ist hier eng mit der Frage der Kultur und der Identität verbunden.
Wenn man diese beiden Aspekte – Kirche und Sprache – zusammennimmt, sieht man, dass die staatliche Politik des ehemaligen Präsidenten Poroschenko auf eine strenge Ukrainisierung und Abgrenzung gegenüber Russland zielte. Das wichtigste Problem, das ich hier sehe, betrifft die Rolle des Staates in Bezug auf die Gesellschaft: Soll der Staat eine ethnisch und kirchlich monolithische Gesellschaft aufbauen oder soll er eher den eigenen Bürgern dienen und ihr Leben innerhalb der staatlichen Grenzen verbessern?
II.
Bislang habe ich die Kirchenpolitik und ein wenig die „Sprachenpolitik“ aus der juridischen Perspektive erläutert. In einem zweiten Schritt möchte ich die Folgen dieser Politik beschreiben und vor allem die psychologische Wahrnehmung dieser Politik erklären. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, wie diese Politik von der Leitung unserer Kirche gesehen wird. Denn sowohl das Oberhaupt Metropolit Onufrij als auch viele andere ständige Mitglieder der Synode unserer Kirche gehören zu der älteren Generation, die noch durch die Erfahrungen in der Sowjetzeit geprägt ist. Damals gab es für die gläubigen Menschen zwei prinzipielle Möglichkeiten: entweder Anpassung an die Staatspolitik oder schweigender Widerstand gegenüber dem Staat.
An dieser Stelle erlaube ich mir, zwei Stellen aus der Bibel zu zitieren. Im Lukas-Evangelium sagt Jesus: „Wird der Menschensohn, wenn er kommt, den Glauben auf der Erde finden?“ (Lk 18,8). Etwas früher stehen im selben Lukas-Evangelium auch andere Worte: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn euer Vater hat beschlossen, euch das Reich zu geben“ (Lk 12,32). Heutzutage wird die Ukrainische Orthodoxe Kirche oft wegen des Exklusivismus in ihrer Einstellung zu anderen, „unkanonischen“ orthodoxen Christen des Landes kritisiert. Aber im Blick auf die erwähnten Bibelzitate kann man diesen Vorwurf auch etwas anders formulieren, nämlich als Ausdruck eines christlichen Radikalismus. Ähnliche Formen des Radikalismus sehe ich in der Konzentration auf Christus in der „Barmer Theologischen Erklärung“ der Evangelischen Kirche und in der Betonung des priesterlichen Zölibats seitens der katholischen Kirche in heutigen Debatten. Hier kommt die Idee der Auseinandersetzung mit dem Geist dieser Welt bzw. der Modernität ins Spiel.
Im ukrainischen Kontext der Auseinandersetzung der Kirchen vergleicht man gewöhnlich die Zahlen der Gemeinden. Diese sind ungefähr 12.000 (UOK) gegenüber
7.000 (OKU), also vergleichbare Zahlen. Die Abteilung für religiöse Angelegenheiten im Kulturministerium der Ukraine führt aber auch Statistik über die Zahl der Klöster und ihrer Mitglieder, Mönche und Nonnen. Ich nehme hier die Daten für das Jahr 2019: Zu meiner Ukrainischen Orthodoxen Kirche gehören demnach 215 Klöster und fast 4.700 Mönche und Nonnen. Zum Kiewer Patriarchat, aus dem die neue kirchliche Struktur im Wesentlichen hervorgegangen ist, gehörten 63 Klöster und nur 230 Mönche und Nonnen. Das bedeutet, dass der Unterschied in der Zahl der Menschen des geweihtes Lebens fast das 20-fache beträgt: 4.700 gegenüber 230.
Meines Erachtens zeigen diese Zahlen, dass in der Ukrainischen Orthodoxen Kirche das Potenzial zur Absonderung gegenüber der staatlichen Politik viel stärker als bei ihrem Konkurrenten ist. Die Tendenz zum christlichen Radikalismus, die sich bei den Orthodoxen im Wachstum des Mönchtums äußert, ist eine starke Position. Sie kann vom Staat sowohl positiv als auch negativ benutzt werden. Ich persönlich plädiere dafür, dass dieses Potenzial durch karitative Tätigkeit der Ordensleute konstruktiv verwendet wird. Aber bei einer kurzsichtigen Politik kann der Staat hier auch Kritiker und Gegner bekommen.
Wenn man diese Idee des Radikalismus auf konkrete Namen bezieht, sieht man eine deutliche Gegenüberstellung: Auf der einen Seite steht der sogenannte Patriarch Filaret, der inzwischen über 90 Jahre alt ist und der es trotz seiner Mönchsweihe geschafft hat, drei Kinder zu zeugen – Fakten, die gerade um 1990 breit bekannt geworden sind. Auf der anderen Seite steht Metropolit Onufrij, der im Jahre 1971 Mönch geworden ist und damit zwei Drittel seines ganzen Lebens Mönch ist. Fast 20 Jahre lang, bis zur Unabhängigkeit der Ukraine, war er im Kloster in Sergijev Posad bei Moskau tätig. Ich bin davon überzeugt, dass in der Auseinandersetzung zwischen den kirchlichen Strukturen von Filaret und Onufrij die Frage des Wesens der Kirche wichtiger ist als die Nationalfrage. Der Erste vertritt hier die Idee der Anpassung der Kirche an die politischen Umstände. Der Zweite ist ein echter Mönch und häufiger Besucher des Berges Athos, der das Wesen der kirchlichen Existenz in der Absonderung und im Widerstand gegenüber der „gefallenen“ Welt sieht.
Die Probleme der letzten Monate, die es seitens der neuen kirchlichen Struktur mit Patriarch Filaret gibt und die nach einer Spaltung innerhalb der neuen OKU aussehen, geben dieser Struktur eine Chance, sich als Kirche zu entwickeln, mit einem strengen Kern im geistigen Leben. Statt die Übertritte der Gemeinden zu zählen, sollte sie lieber positive Beispiele des kirchlichen Lebens produzieren und zeigen. Eine erkennbar christliche Identität wäre nach den Jahrzehnten der atheistischen Prägung für eine Kirche deutlich wichtiger als die nationale Identität. Ob die OKU diese Linie der Entwicklung wählt, bleibt noch eine offene Frage.
In der heutigen Situation ist die Frage der Einigung der ukrainischen Gesellschaft besonders wichtig. In den letzten Jahren haben wir gesehen, wie die Frage des ethnischen Nationalismus zur Unterstützung der staatlichen Unabhängigkeit verwendet wurde. Die Ukraine und ihre Kirchen kamen in die Versuchung, ihre Rolle im geopolitischen Spiel der großen Mächte zu suchen – und das auf beiden Seiten. Die Gegner meiner Kirche erinnern uns daran, dass die Frage der Autokephalie der Orthodoxen Kirche der Ukraine im Interesse der staatlichen Sicherheit und der Unabhängigkeit von Russland liege. Es sei schließlich bekannt, dass Patriarch Kyrill von Moskau manchmal an den erweiterten Sitzungen des russischen Verteidigungsministeriums teilnimmt.
Als Antwort auf diesen Vorwurf wird dann oft auf die Treffen des amerikanischen Außenministers Michael Pompeo mit Metropolit Epiphanij verwiesen. Wie die Medien berichten, haben sie sich im Laufe der letzten Monate schon einige Male getroffen – sowohl in der Ukraine als auch in den Vereinigten Staaten. Aus der Biographie von Herrn Pompeo weiß man zudem, dass er vor seiner Berufung zum Außenminister Chef der „Central Intelligence Agency“ (CIA) gewesen ist. Dazu kommt auch das Treffen von Außenminister Pompeo mit dem Präsidenten der Ukraine Selenskyj. Am 31. Januar 2020, kurz vor unserer Konferenz, hat Pompeo gesagt: „Russland darf der Verteidigung der fundamentalen Rechte in der Ukraine nie im Wege stehen“ und betont, dass „der ukrainische Staat die neue autokephale Kirche der Ukraine vor Russland verteidigen sollte“. Damit ist deutlich, dass eine Verflechtung der weltlichen und der kirchlichen Politik schwer zu vermeiden ist. Das stellt uns wieder vor die Frage der Beziehungen zwischen Staat und Kirche. Und es zeigt uns die Versuchung einer Säkularisierung der Kirchen.
In der Frage der Zugehörigkeit der kirchlichen Gemeinden und der orthodoxen Bevölkerung insgesamt sieht man eine wichtige Spaltung. In soziologischen Umfragen äußert sich die Mehrheit der Ukrainer für eine unabhängige Kirche. Ihr Slogan wäre: „Weg von Moskau!“ Aber bei den Übertritten der Gemeinden sieht man, dass diese Mehrheit oft unfähig ist, in ihren neu erhaltenen Kirchengebäuden ein tägliches Gemeindeleben zu organisieren. Sie sind Christen vor allem dem Namen nach und in den sozialen Netzwerken, aber kaum Kirchenbesucher.
Die Ukrainische Orthodoxe Kirche schafft es dagegen, den Kern der Gemeinden bei sich zu behalten. Bei ihr gibt es jedoch eine Versuchung, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen. Bleibt sie eine „kleine Herde“ der treuen Christen? Oder findet sie die Kraft, ihre Position deutlicher in der Öffentlichkeit zu formulieren und zu erklären? Die Antwort auf diese Frage wird den Platz dieser Kirche in der ukrainischen Gesellschaft bestimmen.
Auf jeden Fall sollten kleine Schritte in der Zusammenarbeit der beiden großen orthodoxen Kirchen der Ukraine eine positive Wirkung auf die Vertiefung ihrer christlichen Identität haben. Wie auch in den großen Prozessen der ökumenischen Annäherung auf der Weltebene sollten die orthodoxen Kirchen in der Ukraine weiter weg von der politischen und geopolitischen Agenda und näher zum christlichen Kerygma kommen.