Der Fortschritt der Akademieausgabe zeigt: Leibniz hat sich ein Leben lang mit theologischen Fragen beschäftigt. Er zeigt auch: Seine Philosophie erwächst aus dem Versuch, theologische Kontroversen zu lösen und die christliche Weltsicht gegen die Gefahr des Atheismus zu verteidigen. Es ist also nicht falsch, zu sagen, dass Leibniz zeit seines Lebens auf die Theologie, ihre Fragestellungen und Lösungen rekurriert hat. Diese besser zu begründen und ihre Kontroversen durch vernünftige Überlegung zu lösen, war eines seiner zentralen Motive: Teil jener vernünftigen Liebe zu Gott (amour éclairé), die allumfassend ist, da die Welt Teil hat an der Vernunft und Güte Gottes, die es überall zu befördern gilt.
Lässt sich das Leben des Leibniz deuten als ein Abarbeiten an Fragen der christlichen Religion, so ist es lohnenswert, auch die Frage zu stellen, inwiefern sich die christliche Theologie umgekehrt an seiner Position abgearbeitet hat. Diese Rezeptionsgeschichte ist mehr als gelehrte Bezugnahmen historiographisch aufzulisten. Die Transformation christlichen Denkens durch Leibniz, der Anspruch der Konvergenz von Christentum und Vernunft und die damit verknüpften ökumenischen Initiativen mussten für die Theologie selbst zum Referenzpunkt, zu dem man sich positionieren musste, werden. Diese Positionierung erfolgte stets in Bezug zu dem, was von Leibniz’ Denken im jeweiligen Zeitalter bekannt war. Im Folgenden sollen wichtige Stationen dieser bis heute andauernden Rezeptionsgeschichte skizziert werden.
Die im 18. Jahrhundert bekannten Quellen
Leibniz stand am Beginn einer Epoche, die zu einer tiefgehenden Transformation der Theologie und zu einem grundlegenden Wandel aller Lebensverhältnisse geführt hat, der Aufklärung. Die Theologie gegen den Atheismus zu verteidigen, die Glaubenssätze vernünftig neu zu durchdenken und die Spaltung der Konfessionen zu überwinden, waren Intentionen, die die Theologie des 18. Jahrhunderts in Variationen fortführte. Oft rekurrierte man nicht auf Leibniz direkt, denn die wenigsten seiner Überlegungen waren publiziert und der Nachwelt bekannt. Lange Zeit bildeten die populärphilosophischen Essais de théodicée (1710), deren Nachklang im erstmals 1717 veröffentlichten Briefwechsel mit dem englischen Theologen und Newton-Vertrauten Samuel Clarke und die beiden Ausgaben der Monadologie (1720 in deutscher und 1721 in lateinischer Übersetzung) die einzigen publizierten Schriften. Elemente seines Denkens wurden aber über die Wolff‘sche Philosophie indirekt und in einem neuen Bezugssystem transportiert. Sein ökumenisches Bemühen um eine Aufhebung der Kirchenspaltung erschloss sich lange Zeit nur bruchstückhaft aus Publikationen, in denen sich für das Thema relevante Stücke der Leibniz-Korrespondenz befanden. Im Wesentlichen war dies sein Briefwechsel mit Pellisson, Jablonski, Bossuet und der Band I der Werkausgabe von Louis Dutens mit Theologica. Doch war dies eher Anlass für knappe Reminiszenzen; wirkmächtig blieb die Theodizee. Der Zusammenhang von systematisch-theologischen Überlegungen, philosophischen Positionierungen und ökumenischen Vorschlägen konnte so nicht erfasst werden.
Leibnizrezeption über den theologischen Wolffianismus
Durch Christian Wolff (1679–1754) gewann das Denken des Leibniz zunächst großen Einfluss. Dass dieser nur die Gedanken von Leibniz geordnet und vulgarisiert habe, ist freilich ein Fehlurteil, das zu einem guten Teil auf den Hallenser pietistischen Wolff-Gegner Joachim Lange (1670–1744) zurückgeht, so in dessen „Anmerkungen“ und dann in seiner Modesta disquisitio (1724) zu Wolffs Deutscher Metaphysik. Lange warf Wolff vor, nur die Gedanken des Leibniz, besonders seine Lehre von der Monade und von der prästabilierten Harmonie, aufgegriffen und systematisiert zu haben. Kurz darauf kam die Titulierung Metaphysica Leibniz-Wolffiana auf, die auch Wolff-Befürworter übernahmen. Zwar wehrte sich Wolff schon 1727 in seinem Monitum ad commentationem luculentam, dass nur sehr weniges in seiner Philosophie von Leibniz stamme („paucissima sunt Leibnitii“), dennoch sprach nicht nur Kant immer wieder von der Leibniz-Wolffschen Schule.
Wolff hat sicher mehr als paucissima von Leibniz rezipiert, explizit oder implizit, gerade was die Lehre von Gott und von der menschlichen Seele betrifft. Andererseits hat er aber die Monadenlehre vor allem zur Deutung der körperlichen Substanzen gerade nicht übernommen. Die Lehre der prästabilierten Harmonie in Bezug auf das Leib-Seele-Problem sei zwar immerhin plausibler als diejenige des Aristoteles oder diejenige des Malebranche; durch Beweis zu eigen gemacht hat sich Wolff dieselbe aber nicht. Wolff war Eklektiker und hat vieles von Leibniz aufgegriffen, aber mitunter in den Zusammenhang seiner eigenen Lehre gebracht und aufwendig zu beweisen versucht bzw. und zum Ausgangspunkt für Syllogismen gemacht. Mit Leibniz trat er für eine „vernünftige Orthodoxie“ ein, nach der die Philosophie die Wahrheit der natürlichen Theologie beweisen, in Bezug auf die geoffenbarten Mysterien aber zeigen kann, dass diese nicht der Vernunft widersprechen, so dass der Glaubensakt nicht widersprüchlich ist, auch wenn nicht jede Wahrheit des Christentums philosophisch bewiesen werden kann.
Schon der frühe Wolff hatte theologische Anhänger, so Georg Bernhard Bilfinger (1693–1750), der an der philosophischen Fakultät in Tübingen lehrte und vorher u. a. als Schlossprediger dort gewirkt hatte. Er versuchte nicht nur Wolffs Philosophie zu erklären, sondern auch die von diesem behauptete Übereinstimmung derselben mit der Moralphilosophie der Konfuzianer nachzuweisen. In Tübingen war auch der Theologieprofessor Israel Gottlieb Canz (1690–1753) ein früher Anhänger Wolffs, der 1728 in Frankfurt ein Werk erscheinen ließ, das für Theologen die wichtigsten Kapitel der Philosophie von Leibniz und Wolff aufbereitete.
Johann Gustav Reinbeck (1683–1741), Propst an der Petrikirche in Berlin und Konsistorialrat, war ebenfalls einer der führenden frühen theologischen Wolffianer, der in neun Bänden die Wahrheit der Confessio Augustana als vernunftgemäß nachweisen wollte. In Jena baute Jakob Carpov (1699–1768) seine Dogmatik wollfianisch mit Hilfe der demonstrativ-syllogistischen „mathematischen“ Methode auf, nachdem er vorher Wolff in Marburg gegen die Vorwürfe Langes verteidigt hatte. Nach Wolffs Rückkehr nach Halle gewann er unter den Theologen immer mehr Anhänger, auch im katholischen Bereich. Nun begann, so Karl Aner, die „Vollblüte der Wolffschen Philosophie“. Besonders einflussreich wirkte in Halle Siegmund Jakob Baumgarten (1706–1757), der ungeachtet seiner pietistischen Prägung die demonstrative Methode Wolffs rezipierte und auf Dogmatik und Ethik anwandte.
Die katholische Theologie des 18. Jahrhunderts war durch die großen kirchlichen Orden geprägt. Einen wesentlichen Anteil an der Öffnung zur neuen Wolff’schen Philosophie und Theologie hatten hier die Augustinereremiten angeregt durch das römische Ordensgeneralat. Augustinereremiten wie Agnellus Kändler (1692–1745) und Gelasius Hieber (1671–1731) waren maßgebend an der bayerischen Akademiebewegung beteiligt, auch wenn diese später als „Loge der Wolffianer“ verschriene Akademie dann erst 1759 zustande kam. Auch die Klöster der Benediktiner und die Salzburger Benediktineruniversität wurden im 18. Jahrhundert Ausgangspunkte für eine Rezeption von Leibniz und Wolff. In Salzburg führte der spätere Ensdorfer Abt Anselm Desing (1699–1772) durch eine Reform der Studienordnung die neue Philosophie ein; der Benediktiner Berthold Vogel (1708–1772) aus Kremsmünster las in der Folge die Philosophia scholastica, indem er Leibniz rezipierte. Rezipienten der Leibniz-Wolffschen Philosophie waren in Österreich dann der Jesuit Sigismund von Storchenau (1731–1798), in München der aufgeklärte Theatiner Ferdinand Sterzinger (1721–1786), v.a. aber der Jesuit Benedikt Stattler (1728–1797), der sich an der Ingolstädter Universität offensiv zu Leibniz und Wolff bekannte und zentrale philosophische Thesen von beiden übernahm; in irenisch-ökumenischen Werken trat er für eine Annäherung der Konfessionen ein. Stattler hatte für die Geschichte des katholischen Denkens eine enorme Bedeutung; die Argumente seines „Anti-Kant“ bestimmten lange die kritische Ablehnung der Kant’schen Philosophie durch die meisten Katholiken.
Als Nachklang dieses philosophischen, antikantianisch ausgerichteten Leibnizianismus im katholischen Denkraum des 19. Jahrhunderts kann der Prager Priester Bernhard Bolzano (1781–1848) gelten mit seinem aufgeklärt-ethischen Verständnis von Religion, der als der „böhmische Leibniz“ bezeichnet, 1819/20 aber deshalb von seinem Prager Lehrstuhl entfernt wurde. Als Mathematiker, Logiker, Philosoph und Theologe setzte er sich intensiv mit Leibniz auseinander. In theologischer Hinsicht zeigt sich der Einfluss von Leibniz’ Monadologie bei ihm vor allem in seinem Werk Athanasia (1827), das den Unsterblichkeitsbeweis aus der Einfachheit der Monade aufgreift und weiterentwickelt; das Weiterleben nach dem Tod ergebe sich zudem aus der unendlichen Vervollkommnungsfähigkeit endlicher geistiger Seelenvermögen.
Der Zusammenhang zwischen Quellenlage, Rezeption und Leibnizbild
Der Umstand, dass von Leibniz nur wenige Schriften gedruckt vorlagen und die zeitweilige Dominanz von Christian Wolff implizierten für die theologische Leibniz-Rezeption drei fundamentale Weichenstellungen.
a) Rezipiert wurde eine philosophische Theologie, die apologetisch den Raum für eine Theologie der Offenbarung, für die Dogmatik eröffnen wollte, die aber selbst die dogmatische loci nicht behandelte. Dass Leibniz Zeit seines Lebens sich denkerisch mit den Glaubenssätzen dieser dogmatischen Theologie beschäftigt hat, dass er diese durchdenken und besser begründen wollte, blieb unbekannt.
b) Der theologische Wolffianismus konnte im evangelischen Deutschland seine Vorherrschaft nur kurz behaupten. Man hat ihn eine „Übergangstheologie“ genannt. Schon Baumgarten widmete sich am Ende seines Lebens mehr dem historischen als dem rationalen Beweis, eine Tendenz, die sein Schüler Johann Salomo Semler dann konsequenter weiterführen sollte. Wollte Wolff mit der Vernunft noch die Möglichkeit von Offenbarungswahrheiten nachweisen, die für die Vernunft unzugängliche Geheimnisse blieben, so wurde dies in Neologie und Rationalismus als unbefriedigend empfunden. Das Göttliche ist vernünftig und deshalb vernünftig erkennbar; heilsentscheidend für den Menschen kann nur sein, was er qua Mensch erkennen und handelnd befolgen kann. Leibniz wurde deshalb konsequenterweise bald als Wegbereiter des theologischen Rationalismus gesehen. Dass er explizit gegen die Sozinianer und die Deisten argumentiert hat, trat in den Hintergrund, obwohl Lessing sich explizit auf die antisozinianischen Argumente des Leibniz stützte.
c) Nicht nur der Zusammenhang von Theologie und Philosophie bei Leibniz wurde unzureichend erfasst, sondern auch wie eng seine ökumenischen Bestrebungen mit seinem sonstigen Denken, namentlich seiner Theologie und Philosophie, zusammenhingen. Deshalb brachte man seinen Unionsverhandlungen nur ein historisches Interesse entgegen, veranlasst durch besondere politische Umstände.
Die Deutung der Unionsbestrebungen des Leibniz
Ansätze, den inneren Zusammenhang zwischen Ökumene, Theologie und Philosophie bei Leibniz zu erfassen, gab es bereits im 18. Jahrhundert, nicht zuletzt bei katholischen Rezipienten. Zur bayerischen Akademiebewegung zählte etwa auch der Pollinger Augustinerchorherr Eusebius Amort (1692–1775), ein universaler, in der Philosophie bewusst eklektizistischer Gelehrter, der nicht nur die Philosophie des Leibniz aufgriff, sondern sich auch mit seinen ökumenischen Bestrebungen beschäftigte. Der Tübinger Theologe Christoph Matthäus Pfaff sprach als protestantischer Theologe den Lehrdifferenzen zwischen Lutheranern und Reformierten eine kirchentrennende Relevanz ab. Er kannte auch Leibniz’ Verhandlungen mit Jablonski; dennoch sind seine Aussagen über Leibniz’ Unionsbemühungen eher negativ. Nach einer Äußerung aus dem Jahr 1742 galt ihm Leibniz als „ein Irreligionaire“.
Ein später Rekurs auf die katholisch-evangelischen Verhandlungen von Leibniz erfolgte durch den Oberpfälzer Ex-Benediktiner Maximilian Prechtl (1757–1822). Dieser hatte bei den Jesuiten in Amberg studiert, war nach deren Aufhebung bei den Benediktinern in Michelsfeld eingetreten und lehrte am Amberger Lyzeum Dogmatik und Kirchengeschichte, bis er Anfang 1800 zum Abt seines Heimatklosters gewählt wurde. Nach der nie ganz verwundenen Säkularisation forschte er als Privatgelehrter zur Geschichte seines Klosters und bemühte sich um eine konfessionelle Annäherung. Gegenseitige Aufklärung und vorurteilslose Vernunftprüfung lasse eine Reunion als möglich erscheinen. Seine irenisch-ökumenische Hoffnung und optimistische Handhabe der historischen und philosophischen Vernunftprüfung blieben der katholischen Aufklärung in Abwehr radikal-antichristlicher Strömungen verpflichtet. 1815 erschien sein Werk: „Friedens-Benehmen zwischen Bossuet, Leibnitz und Molan für die Wiedervereinigung der Katholiken und Protestanten. Geschichtlich und kritisch beurteilt“. Neben den genannten Motiven klingt in der Vorrede ein weiterer Grund für die Erörterung der ökumenischen Pläne um Leibniz an: Die Hoffnung auf eine Stärkung des deutschen Vaterlandes durch eine religiöse Wiedervereinigung im Kampf gegen „Religions-Indifferentismus“. Inhaltlich schlug sich Prechtl auf die Seite Bossuets: Für ihn war es „der grosse Philosoph Leibniz“, der in die sachlich-vernünftige Verständigung politisch-eigennütziges Kalkül brachte und deshalb das Scheitern verursachte. „Allein Theologie war nicht das Fach“, so Prechtl, „in welchem Leibniz gleiche Stärke besaß“.
Diese Aufspaltung des Leibniz-Bildes zwischen einem systematisch denkenden Philosophen und einem Religionspolitiker bestimmte die theologische Debatte um Leibniz’ Reunionsbemühungen im 19. Jahrhundert. Diese wurde durch einen Paukenschlag von katholischer Seite eingeleitet. Seit 1821 erschien in Mainz die streng antiaufklärerische und antiprotestantisch am Papst und am restaurativen Katholizismus Frankreichs orientierte Zeitschrift „Der Katholik“. Deren Herausgeber, Andreas Räß und Nikolaus Weis, brachten 1820 die im deutschen Sprachraum erste Edition und Übersetzung von Leibniz’ Examen religionis christianae (damals Systema theologicum) genannt, mit einer Vorrede des Jesuiten Johann Lorenz Doller (1750–1820) heraus. Grundlage war eine französische Edition, für die der Generalsuperior von St. Sulpice, Jacques André Émery (1732–1811), aus Hannover eine Abschrift erhalten hatte. Dessen fehlerhafte, posthum erschienene Edition diente Räß und Weis als Vorlage. Leibniz sollte – gemäß dem Interesse der Mainzer – zum Katholiken und Konvertiten gemacht werden, das Systema wurde bereits vom französischen Herausgeber als das „religiöse Testament“ des Leibniz tituliert. Den Nachweis wollte Dollers 122 Seiten umfassende Vorrede führen. Seine Argumentation war eindeutig: Zuerst wies er nach, dass der hochgebildete Leibniz von Beginn an auf dem Boden der geoffenbarten Religion stand und weder Indifferentist noch Antitrinitarier, und deshalb auch kein davon angekränkelter „Neuprotestant“ gewesen sei. Danach wollte er mittels Ausschluss die Position des Leibniz immer näher bestimmen, indem er aufgrund seiner Abendmahls- und Freiheitslehre ausschloss, dass er reformiert oder altlutherisch gewesen sei. Im Herzen sei er Katholik gewesen, wie er 1691 an Madame de Boinon geschrieben habe. Seine ekklesiologischen Ansichten entsprachen am ehesten der katholischen Lehre. Da er Bossuet nicht mehr geantwortet habe, habe er ihm zugestimmt und sei Konvertit gewesen, auch wenn er aus Liebe zu seinem Hof es versäumt habe, seinen Übertritt öffentlich zu machen. All dies werde durch Leibniz’ System der Theologie bewiesen, das echt und eine echte Apologie der katholischen Religion sei.
Natürlich war diese Inanspruchnahme durch die ultramontanen Katholiken auf entschiedenen Widerspruch im protestantischen Lager gestoßen; die Absicht des Leibniz werde von den Katholiken völlig verkannt, so der Königsberger Kantnachfolger Wilhelm Traugott Krug (1770–1842) und der Göttinger Philosoph Gottlob Ernst Schulze (1761–1833), dessen Aenesidemus einst Fichte dazu veranlasste, die Resultate Kants tiefer gegen skeptische Zweifel zu begründen. Auch die erste Auflage der Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche wies alle Versuche zurück, ihn für die katholische Kirche zu vereinnahmen.
Aloys Pichlers Leibniz-Deutung
Dem konservativen, antiaufklärerischen Ultramontanismus stand zunächst auch der Münchener Kirchenhistoriker Ignaz Döllinger nahe, der den Protestantismus wegen seiner in seinen Augen negativen Folgen für die sittlich-ethische, freie Persönlichkeit historisch widerlegen wollte. Seit den 1860er Jahren wurde er aber dem Papsttum gegenüber immer kritischer, das seit dem Mittelalter die Kirchenverfassung in ein papales Herrschaftssystem verfälscht habe. Als Rektor der Münchener Universität in ihrem 400. Jubiläumsjahr 1872 entwickelte er ein Programm zur Wiedervereinigung der Konfessionen. Dabei kam er auch auf Leibniz zu sprechen: Dieser sei der hervorragendste Mann im damaligen Deutschland gewesen, „ebenso scharfsinnig wie vielseitig und von unermesslichem Wissen“. Die These, dass Leibniz heimlich Katholik gewesen sei, lehnte er ab. Das Systema sei als Dokument verfasst, um sich in den anderen hineinzuversetzen und dessen Position möglichst annehmbar darzustellen. Tatsächlich sei wohl niemals ein Protestant dem Papsttum so wohlwollend gegenübergestanden wie Leibniz.
Im Umkreis Döllingers entstand eine Gesamtdarstellung der Theologie des Leibniz durch seinen Schüler Aloys Pichler (1833–1874). Dieser wurde in München 1857 promoviert und war seit 1863 Privatdozent. Er war einer der begabtesten Schüler Döllingers, der sich ganz dem Döllinger’schen Programm, die konfessionellen Trennungen durch historische Forschung zu überwinden verschrieben hatte. Seine polemischen Schriften gegen das ultramontane Papsttum wurden auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. 1869 wurde er von der russischen Regierung nach St. Petersburg berufen, wo ihm ein Leben ganz für seine kirchenhistorischen Studien ermöglicht wurde. Wegen Bücherdiebstahls wurde er jedoch 1871 zu lebenslanger Haft in Sibirien verurteilt; 1874 auf Fürsprache des bayerischen Prinzregenten begnadigt, starb er wenige Wochen später, gerade 40-jährig. 1869/70 erschien auf über 1.100 Seiten eine Gesamtdarstellung von Leibniz’ Theologie. Leibniz sollte aus dem Schatten Wolffs und des Rationalismus herausgelöst werden, da er ein unverkürzt-christlicher Denker sei. Pichler behandelte nach einer allgemeinen Einführung dessen Gottes- und Schöpfungslehre, dann Anthropologie, Ekklesiologie und Sakramentenlehre und Eschatologie. Erst von hier aus beleuchtete er die Reunionsverhandlungen zwischen Leibniz und Bossuet, wobei er sich im ganzen Werk mit der Position des Leibniz identifizierte. Das kenntnisreiche Werk zeichnet sich durch große Quellennähe aus, auch wenn immer wieder zentrale Kategorien aus den Parteienkämpfen von Pichlers Gegenwart aufscheinen, in die Leibniz eingeordnet wird, ganz besonders in die Gegnerschaft zum Ultramontanismus. Leibniz war ihm ein echter Christ, der über allem Partikular-Konfessionellen stand und so die denkerische Grundlage für eine Reunion der Christen legen konnte, auch wenn er am Egoismus und der Machtpolitik seiner Zeitgenossen gescheitert sei. Im Lauf seines Lebens sei in ihm der Historiker gegenüber dem Philosophen stärker hervorgetreten: So habe er sich durch seine historischen Studien dem Katholizismus wieder ein Stück weit entfremdet, dem er philosophisch nahegestanden sei. Das Systema theologicum sei ein Produkt jener ersten Phase des Leibniz, auch wenn eine Einbettung in sein sonstiges Denken klar zeige, dass er auch damals kein Kryptokatholik gewesen sei. Sein wichtigster Grundsatz sei gewesen, dass nur das essentielle, alle Christen qua göttliches Recht verpflichtende Glaubenslehre sein könne, was die Kirche schon immer als solche geglaubt habe. Der einfache Bibelglaube bedürfe zwar im Falle seiner Bestreitung mitunter einer wissenschaftlichen Neuformulierung und Verteidigung, doch könne niemals etwas als heilsentscheidende Kirchenlehre aufgestellt werden, worüber in der Alten Kirche Freiheit geherrscht habe.
Das Leibnizbild in der protestantischen Theologiegeschichtsschreibung
In der protestantischen Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts diente Leibniz, durch die Brille des Wolffianismus interpretiert, meist als negative Kontrastfolie in der Absetzung vom theologischen Rationalismus. Friedrich Schleiermacher stand Leibniz von Beginn an kritisch gegenüber; die Theodizee stand im Zentrum seiner Ablehnung, unterwerfe diese doch Gott den Gesetzen des Verstandes und mache ihn zum Urheber des Bösen. Anstatt beim christlich-frommen Bewusstsein setze sie fälschlich rein spekulativ an: Sie sei nur „ein Erzeugniß der Speculation“. Diese Vorwürfe sollten die Sichtweise der protestantischen Theologie in der Folgezeit dominieren. Im erweckten und bekenntnisgebundenen Protestantismus kam der Heterodoxie-Vorwurf dazu: Nach Friedrich August Tholuck bedeute seine Lehre von der „besten aller möglichen Welten“ eine rationalistische Verfälschung von Sünden- und Erlösungsbewusstsein, da sie „nicht nur die Sünde, sondern auch die Offenbarung ausschließe. Sie habe den Satz, „Whatever is, is right“, zur Konsequenz. Den Vorwurf, die christliche Lehre von Sünde und Erlösung verfälscht zu haben, erhob auch der Marburger, später Hallenser Dogmatiker Julius Müller (1801–1878).
Leibniz galt bei Tholuck als Wegbereiter des Rationalismus, bei Ferdinand Christian Baur dagegen als Stufe einer höheren Synthese von Glauben und Wissen. In dieser Perspektive konnte ihn die liberale kulturprotestantische Theologie würdigen und als historische Voraussetzung des eigenen Denkens deuten. Für Adolf von Harnack bestand Leibniz’ theologische Leistung im Bruch mit dem augustinischen Menschenbild und dessen Sünden- und Gnadenlehre, die er durch einen freudigen Optimismus ersetzt habe. Nach Ernst Troeltsch kommt Leibniz eine Schlüsselstellung für die Herausbildung der neuzeitlichen Form des Christentums zu, der eine neue Gottesidee, die mit den modernen Wissenschaften vereinbar sei, in die Theologie eingeführt habe. Der Kern seiner Religionsphilosophie sei die Mystik, die innerliche Gegenwärtigkeit des Evangeliums im Subjekt. Heinrich Hoffmann
(1874–1951), Schüler von beiden, legte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Monographie zur Religionsphilosophie des Leibniz vor. Trotz der Erkenntnis, dass dieser an zahlreichen theologischen Problemen gearbeitet habe, bleibt die Sicht bestimmend, dass seine Bedeutung in der Wegbereitung des Rationalismus bestehe: „Zusammenfassend darf gesagt werden, dass Leibnizens religionsphilosophische Anschauung im Grunde die deistische war, dass aber dieses Grundschema noch durch mancherlei andere Tendenzen gekreuzt wurde. [. . .] Es kann kein Zweifel sein, dass die lebenskräftigen Elemente der Leibniz’schen Religionsanschauung auf der Seite dessen lagen, was er natürliche Theologie nannte.“
Das Bild von Leibniz als Wegbereiter des Rationalismus war es dann auch, das zur Kritik durch Lutherrenaissance und dialektische Theologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte; nach Karl Holl und Werner Elert verkannte Leibniz die sündhafte Gebrochenheit des Menschen. In seiner großen Theologiegeschichte deutete Emanuel Hirsch die Theologie des Leibniz als Verschiebung des reformatorischen Christentums hin zu einer Frömmigkeit, die sich aus der „universalen Anschauung rational-ethischen Gepräges“ nährt, auch wenn in ihr Luthers reformatorische Glaubens- und Gewissensreligion noch fortwirke. Für Karl Barth schließlich war Leibniz – so respektvoll er über ihn auch schrieb – der Prototyp einer unsachgemäßen Vermittlung von Vernunft- und Christusglaube, ein monistischer Optimismus, zu dem der sich offenbarende Gott sein Nein gesprochen habe.
Der lange Schatten der Rezeptionsgeschichte: Ausblick ins 20. Jahrhundert
Die Stationen der Leibnizrekurses in der christlichen Theologie waren geprägt von den äußeren Rezeptionsbedingungen: der fragmentarischen Kenntnis seines Werks und der einflussreichen Vermittlung seines Denkens durch Christian Wolff. Die Folge war, dass einseitig die natürliche, also die philosophische Theologie, im Zentrum der Rezeption stand. Leibniz wurde als Denker des Satzes vom zureichenden Grund, der Monade und der prästabilierten Harmonie und eines metaphysischen Optimismus gesehen. Als solcher war er – in der Gestalt des Wolffianismus – einflussreich, galt bald aber als Vorstufe des Rationalismus, den er ja an sich abgelehnt hatte. Die Theologie des 19. Jahrhunderts sah ihn deshalb entweder als (bloße) Vorläufergestalt ihres eigenen, kulturprotestantischen Denkens an, oder lehnte ihn als Wegbereiter einer rationalistischen Verfälschung des Christentums ab.
Die Vermittlung des Leibniz’schen Denken über die Theodizee und durch Wolff bedingte eine Einseitigkeit: Leibniz’ Abwehrstellung gegen Deismus, Sozinianismus und Rationalismus kam nur unzureichend in den Blick; seine Überlegungen zur materialen Theologie, zur Dogmatik, waren nahezu unbekannt; der Zusammenhang zwischen seinem philosophischen und theologischen Denken und seinen ökumenischen Bemühungen wurden nicht erfasst. Dies ist einer der Gründe dafür, dass die moderne ökumenische Bewegung im 20. Jahrhundert zunächst ohne nennenswerte Kenntnisse von Leibniz’ Überlegungen auskam. Die Gesamtdarstellung Aloys Pichlers zu seiner Theologie blieb die Ausnahme; durch den Bruch Döllingers mit der katholischen Kirche des I. Vatikanums und aufgrund des tragischen Schicksals von Pichler konnte auch sie keinen großen Einfluss entfalten.
Erst in jüngster Zeit hat die Akademie-Ausgabe und damit in Verbindung stehend die Leibniz-Forschung die Fülle an theologischen Überlegungen und Texten des Leibniz ans Licht gebracht. Die Einsicht, wie eng Philosophie, Theologie und Ökumene, aber auch andere Wissensbereiche bei Leibniz verbunden sind, prägt seither die Leibnizforschung und auch unsere Tagung. Ansatzweise hat auch eine neue, tiefergehende Rezeption seines Denkens in der christlichen Theologie begonnen, man denke vor allem an das Werk der emeritierten Erlanger Systematikers Walter Sparn. Dennoch steht eine breitere Rezeption seines Denkens noch aus, das für sich in Anspruch nimmt, Naturalismus, Rationalismus und Atheismus abzuwehren, die Geheimnisse des Christentums zu bewahren und vernunftgemäß neu zu durchdenken und so einen Beitrag zu leisten für Frieden, Einheit und Fortschritt der Christen
und ganzen Menschheit.