“es stand Jerusalem um uns”

Judentum in Paul Celans späten Gedichten

Im Rahmen der Veranstaltung "Paul Celan. Ein Jahundertdichter", 30.11.2020

Paul Celan hat in seinem Werk nicht nur an die ermordeten Juden Europas erinnert – eine Erinnerung, die vielen Zeitgenossen in den Ländern der Täter mehr als unangenehm war –, sondern er hat in seinen Texten auf vielfältige Weise die Frage aufgeworfen, was jüdische Existenz nach der Schoah eigentlich bedeutet oder bedeuten kann. Es geht also, mit Adorno gesprochen, nicht allein darum, wie man nach Auschwitz noch dichten, sondern wie man nach Auschwitz, jenem ungeheuerlichen Zivilisationsbruch, überhaupt noch leben kann, wie der Denker der Frankfurter Schule sein eigenes Verdikt aus dem 1951 publizierten Aufsatz Kulturkritik und Gesellschaft in der Negativen Dialektik von 1966 modifizierte und teilweise revidierte. Celans Haltung gegenüber und die Auseinandersetzung mit seinem Judentum changiert im Verlauf der neunundvierzig Lebensjahre und dies ist in gewisser Weise symptomatisch für die soziohistorischen Gegebenheiten dieser Biographie. Einer mütterlicherseits eher assimilierten, väterlicherseits eher traditionsbewussten, doch nicht orthodoxen ostjüdischen Familie ent-stammend, besuchte Celan auf Wunsch des Vaters eine Zeitlang die hebräische Schule in Czernowitz, interessierte sich jedoch als Jugendlicher nicht für entsprechende zionistische Vereinigungen (anders als seine Großcousine Selma Merbaum), sondern vielmehr für säkular sozialistisch-anarchistische Bewegungen. In seiner Büchnerpreis-Rede wird er sich selbst als einen „auch mit den Schriften Peter Kropotkins und Gustav Landauers Aufgewachsenen“ bezeichnen. Doch vor allem galten seine Interessen schon als Jugendlicher der Dichtung, den Symbolisten, den Expressionisten und Rilke, später dann ebenso den Surrealisten. Auch wenn der Antisemitismus im Rumänien der Zwischenkriegszeit deutlich spürbar war, so ist es vor allem die Erfahrung der Deportation und des Lagers, die das Bewusstsein für die kollektive Dimension des Jüdischen in Celan beförderte. Dieses zwangskollektivierende Moment, die heteronome Zuschreibung des ‚Jüdischseins‘ durch die Nationalsozialisten, wird keineswegs von Celan fraglos identifikatorisch aufgefasst; vielmehr betont er auch immer das Fremdbleiben der Menschen untereinander, selbst da, wo es sich um Schicksalsgenossen handelt, die gemeinsam zu leiden haben. So heißt es von den „Geschwisterkinder[n]“ im Gespräch im Gebirg in ebenso deutlichem wie diskretem Bezug auf die Situation in den nationalsozialistischen Lagern: „[…] sie liebten mich nicht und ich liebte sie nicht, denn ich war einer, und wer will Einen lieben, und sie waren viele, mehr noch als da herumlagen um mich, und wer will alle lieben können, und, ich verschweigs dir nicht, ich liebte sie nicht, sie, die mich nicht lieben konnten […]“.

 

I.

Diese existenzielle Fremdheit, das Beharren auf dem „individuum ineffabile est“, dem Ungreifbaren des Seinsgrunds des Individuums, ist in einem hohen Maße Celans Werk eingeschrieben – und dies bestimmt auch das Verhältnis zum eigenen Judentum, welches daher niemals ein schlicht affirmatives sein konnte.

Es lassen sich mindestens vier unterschiedliche Dimensionen des Jüdischen bei Celan differenzieren, die jedoch intrinsisch miteinander verknüpft sind und die, wie noch zu sehen sein wird, gerade auch in späten Gedichten Celans präsent sind: zum ersten die traditionelle Bestimmung des Judentums als eine religiös begründete Gemeinschaft, basierend auf den Überlieferungen der heiligen Texte. Hierzu gehören die Auseinandersetzung mit dem Gottesbegriff und der Theodizee in der Folge der Schoah. Die zweite Bedeutungsdimension ist eng mit der ersten verbunden, bezeichnet sie doch die auf Jahrhunderten gründenden Traditionen der Diaspora, des Galut, eine Erfahrung der Heimatlosigkeit und des Exils, die sich in kulturellen Praktiken des Judentums, wie etwa einem spezifischen Verhältnis zur Sprache und zu den Sprachen, manifestiert. Hierzu zählen nicht nur die dezidiert jüdischen Namen wie Sulamith, Esther, Ruth und Jakob, sondern auch Einsprengsel des Jiddischen und Hebräischen in Celans Dichtung. Die dritte, auf den ersten Blick dominante Dimension jüdischer Existenz in Celans Dichtung ist die, über die schon einiges gesagt wurde, nämlich die der Opfer der Schoah, wie Celan betonte, wenn er gegenüber seinem damaligen Lektor Klaus Reichert in einem Brief vom 29. Mai 1967 formulierte, seine Gedichte seien „[…] für die Lebenden geschrieben, allerdings für diejenigen, die der Toten eingedenk bleiben (wollen)“. Die vierte und letzte Bedeutungsebene des Jüdischen bezieht sich auf die politische und gesellschaftliche Situation der Juden in der Gegenwart – und hier vor allem auf den Staat Israel, den Celan als eine geschichtliche Notwendigkeit erachtete. Diese vier Dimensionen des Jüdischen sind insbesondere kopräsent in Celans späten, im Kontext seiner Israel-Reise im Herbst 1969 entstandenen Gedichten.

Celan verfolgte von seinem Wohnort Paris aus die Geschicke Israels mit wachem Interesse und auch mit Sorge um die Existenz der jungen Demokratie, die von allen Seiten von ihren arabischen Nachbarn bedroht wurde. Die Situation eskalierte im Juni 1967, als der ägyptische Staatspräsident Gamal Abdel Nasser einen massiven Truppenaufmarsch an den Grenzen zu Israel befahl und Israel mit einem präventiven Militärschlag die ägyptischen Luftwaffenbasen ausschaltete, worauf Jordanien und Syrien als Verbündete Ägyptens ebenfalls in den Konflikt eingriffen, der als Sechstagekrieg mit dem Sieg Israels über die Vertreter der Arabischen Liga endete und eine wesentliche Etappe im Nahostkonflikt markierte. Drei Tage nach Beginn der Kampfhandlungen, am 8. Juni 1967, schreibt Celan an seinen Korrespondenzpartner Franz Wurm, einen in Zürich lebenden und aus Prag stammenden jüdischen Dichter und Übersetzer: „In mir ist Unruhe, der Dinge um Israel wegen, der Menschen dort, des Krieges und der Kriege wegen. Israel muß leben und dazu muß alles aufgeboten werden. Aber der Gedanke an eine Kette von Kriegen, an das Markten und Schachern der ‚Großen‘, während Menschen einander töten – nein, das kann ich nicht zu Ende denken.

Dieser Brief schließt mit dem beiliegenden Blatt des Gedichts Denk Dir, das auf den 7. und 8. Juni 1967 datiert ist, also unter dem unmittelbaren Eindruck der Berichte von den Kriegsereignissen in Palästina entstand:

DENK DIR

Denk dir:

der Moorsoldat von Massada

bringt sich Heimat bei, aufs

unauslöschlichste,

wider

allen Dorn im Draht.

Denk dir:

die Augenlosen ohne Gestalt

führen dich frei durchs Gewühl, du

erstarkst und

erstarkst.

Denk dir: deine

eigene Hand

hat dies wieder

ins Leben empor-

gelittene

Stück

bewohnbarer Erde

gehalten.

Denk dir:

das kam auf mich zu,

namenwach, handwach

für immer,

vom Unbestattbaren her.

Das aus vierundzwanzig Versen bestehende Gedicht ist ein Bekenntnis zum aus der leidvollen jüdischen Geschichte resultierenden Lebensrecht des Staates Israel, wie Celan dies in der zitierten Briefstelle betont. Zugleich – und dies ist charakteristisch für Celans Dichtung – wird im Gedicht die Problematik eines solchen Anspruches für die Haltung der eigenen Person exponiert, deren Ethik sich aus der Solidität nicht nur mit den jüdischen, sondern mit allen Opfern von Herrschaft, Krieg und Gewalt ergibt, wie die Briefpassage ja ebenfalls deutlich macht. Eine solche Position ist spätestens mit der Büchner-Exegese im Meridian und mit dem Bezug auf die Opfer der Atombombe im großen, den Band Sprachgitter von 1959 beschließenden Gedicht Engführung in Celans Werk klar umrissen. Dennoch ist Denk dir ein emphatischer Ausdruck für Celans Verständnis der historischen wie konkret lebenswirklichen Leistungen, die mit der Gründung und auch der Verteidigung des Staates Israel erreicht worden sind – ein Zeugnis der Solidarität des in der fernen Pariser Diaspora weilenden Juden Paul Celan mit Eretz Israel in Vergangenheit und Gegenwart. Die anaphorisch viermalig wiederkehrende Wendung „Denk dir:“, die jeden der vier Abschnitte des Gedichts einleitet, ist Ausdruck des Erstaunens (im Sinne einer kaum für möglich gehaltenen Vorstellung), zugleich wird damit durch die imperativische Gestalt ein Auftrag an das „Du“ adressiert. Für den im Pariser Exil lebenden osteuropäischen Juden Celan, dessen „Heimat“ Bukowina als eine stark vom Judentum chassidischer Provenienz geprägte Kulturlandschaft buchstäblich ausgelöscht wurde, ist die Formulierung „der Moorsoldat von Massada/ bringt sich Heimat bei“ von größtem Kontrast zu allen Bildern der Entwurzelung und der Verbannung, wie sie etwa die Gedichte des Bandes Die Niemandsrose beschwören, in denen die von ihrer jeweiligen Gesellschaft verfemten, ausgestoßenen und verfolgten Dichter von Ovid über Dante bis zu Mandel’štam als Schicksalsgenossen und als Zeugen für die eigene Existenz im Kontext der Anfeindungen der Goll-Affäre aufgerufen werden. Der „Moorsoldat von Massada“ hypostasiert zwei zutiefst im kollektiven Gedächtnis des Judentums verankerte historische Erfahrungen und bildet auf diese Weise eine Klammer von katastrophischer, aber auch widerständiger und wehrhafter jüdischer Existenz: Der Begriff des „Moorsoldaten“ verweist natürlich auf das gleichnamige Lied, das im Konzentrationslager Börgermoor bei Papenburg von Insassen dieses KZs, Johann Esser, Wolfgang Langhoff und Rudi Goguel, geschaffen wurde, und das die eigene Situation als Zwangsarbeiter im Lager und im umliegenden Moor thematisiert. Dieses Lied wurde, vor allem nach der Bearbeitung durch Hanns Eisler, zum Inbegriff der Lagerdichtung und Ausdruck einer trotzigen Widerständigkeit auch im Angesicht dieser existenziellen Bedrohung. Im ersten Abschnitt von Celans Gedicht klingen Motive an, die im Refrain und in der zweiten und dritten Strophe des Moorsoldatenlieds gestaltet sind. Die zweite und dritte Strophe lauten:

Hier in dieser öden Heide

ist das Lager aufgebaut,

wo wir fern von jeder Freude

hinter Stacheldraht verstaut.

Morgens ziehen die Kolonnen

in das Moor zur Arbeit hin,

graben bei dem Brand der Sonne,

doch zur Heimat steht der Sinn.

Das ‚Sich-Beibringen‘ von „Heimat“ erscheint in Celans Gedicht als eine aktive Konsequenz aus der Formulierung des Moorsoldatenlieds abgeleitet, als etwas, was nach der Befreiung erfolgt, ja erfolgen muss, da die ursprüngliche Heimat in Europa verloren gegangen ist – eine Erfahrung, die so viele Juden während der Alia, der Auswanderung nach Palästina gemacht haben, wo sie sich eine neue Heimat aufbauen mussten. Und Celans Formulierung „wider/ allen Dorn im Draht“ greift den die Gefangenen zur Passivität verdammenden „Stacheldraht“ („Hinter Stacheldraht verstaut“) aus dem Lagerlied wieder auf und wendet dieses Motiv ebenfalls zu einer widerständigen Geste. Dass Celan hier vom „Dorn“ spricht, stellt den Bezug zu seinem Gedicht Psalm aus der Niemandsrose her, welches in seinem Wortbestand auf die Dornenkrone und das Martyrium Christi anspielt. Zugleich wird durch diesen Gestus eine Umwertung der passiven Opfer des NS-Terrors zu aktiven, am Aufbau einer neuen „Heimat“ beteiligten Schaffenden vorgenommen, wobei die von Celans Briefpartner Franz Wurm zunächst kritisch kommentierte superlativische Formulierung „aufs/ unauslöschlichste“ (vgl. Celan/Wurm, S. 73) dem Prozess gewissermaßen das Signum indelebile einprägt und dieser so fast zu einer Ritualhandlung sakramental stilisiert erscheint. Mit dem Namen der am südlichen Rand des Toten Meeres auf einem Hochplateau gelegenen Festung „Massada“ wird ein Topos aufgerufen, der wie kein zweiter als Symbol für das Selbstverständnis des Judentums als einer wehrhaften Nation steht. Die von Herodes ausgebaute Palastfestung war Schauplatz des letzten Widerstandes während des Jüdischen Krieges gegen die römische Besatzungsmacht. Der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus, dessen Werk über den Jüdischen Krieg die wichtigste Quelle zu den Ereignissen bildet, schildert, wie sich nach dem Fall von Jerusalem im Jahr 70 n. Chr. auf der Bastion eine Gruppe von Zeloten mit ihren Familien unter der Führung von Eleasar ben Ja‘ir verschanzt hatte. Erst nach einer monatelangen Belagerung konnte im April 74 das römische Heer die Festung einnehmen, nachdem in der Nacht zuvor sich die gesamte dort ausharrende jüdische Bevölkerung, 960 Männer, Frauen und Kinder, den Tod gegeben hatte. Da Suizid für die gläubigen Juden eine schwere Sünde darstellt, waren zehn Männer ausgelost worden, die das blutige Werk ausführten. Mit dieser Niederlage setzte die endgültige Vertreibung der Juden aus ihrer Heimat ein, die Zeit der Diaspora begann. Doch ist in der jüdischen Überlieferung an den Ort nicht nur die Erinnerung an Niederlage und Vertreibung gebunden, sondern Masada fungiert vor allem auch als Grundmythos jüdischer Kampf- und Opferbereitschaft. Die Devise „Masada darf nie mehr fallen“ ist Teil der Staatsdoktrin des modernen Israels, Ausdruck des Willens, nie wieder Opfer fremder Gewalt zu werden, und zugleich auch der Grundmythos der militärischen Traditionen der israelischen Armee: Bis heute finden die Rekrutenvereidigungen in Masada statt.

Die Fügung „der Moorsoldat von Massada“ in Denk dir versinnbildlicht daher die Entwicklung von den Opfern der Geschichte zu wehrhaften und tätigen Verteidigern einer auch innerlich neu zu erringenden, zu ‚erlernenden‘ „Heimat“, als die sich jene Bewohner des Staates Israel bewähren, gerade auch in schwierigen Zeiten, als diese „Heimat“ militärisch bedroht wird, wie dies im Sechstagekrieg der Fall war. Zugleich ist das Gedicht aber auch eine Selbstermutigung des Dichters, die er an eine prominente Stelle, nämlich ans Ende seines 1968 publizierten Gedichtbands Fadensonnen platzierte. Das zeigt nicht zuletzt der Wechsel der Pronomen von „Er“ in der ersten zu „Du“ in der zweiten und dritten bis zum „Ich“ in der vierten Versgruppe an. Die Führung des „Dus“ durch die „Augenlosen ohne Gestalt“ im zweiten Versabschnitt, die zum ‚Erstarken‘ der Du-Instanz führen, verweisen auf die jüdischen Toten der Verfolgung vom Beginn der Vertreibung durch die Römer bis zu den Gemordeten der Schoah in der jüngsten Vergangenheit. Die „eigene Hand“ ist ein Terminus, der bei Celan die kreatürliche Individualität des Menschen symbolisiert, gleichzeitig aber auch für die Besonderheit der Tätigkeit steht – und dies vor allem auch in Bezug auf die Tätigkeit des Schreibens, wodurch dieses Motiv autoreflexive poetologische Züge trägt: „Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte.“ So heißt es im Brief Celans an Hans Bender vom 18. Mai 1960 (GW III, S. 177). Doch ist vordergründig auch das große gesellschaftliche Projekt der Kultivierung des Landes, die bereits im Zuge des zionistischen Aufbruchs nach Palästina, der Alia, sich formierende Kibbuz-Bewegung gemeint, wenn formuliert wird, „deine/ eigene Hand/ hat dies wieder/ ins Leben empor-/ gelittene/ Stück/ bewohnbarer Erde/ gehalten“. Die Bedingung für eine solche Art der Wiederbelebung der Heimat-„Erde“ ist der Aufstieg durch das Leiden, das ‚Empor-gelittene‘, wobei der durch das Wort hindurchgehende Zeilenbruch wie eine segmentierende Narbe die Spur der Verheerungen und des Leidens sprachgestisch festhält und markiert. Auch dies ist eine Dimension der Zeugenschaft des jüdischen Schicksals bei Celan. Die Bewegung dieser nun neuen historischen Erfahrung kommt wie eine Art der Epiphanie auf das „Ich“ der letzten Versgruppe zu, wobei ‚Name‘ und ‚Hand‘ wiederum als Identitätsmarker eingesetzt sind, hier adjektivisch als Komposita mit der Qualität des ‚Wachseins‘ verknüpft. Bei Celan figuriert der Gegensatz von Wachsein und Schlafen häufig, wie etwa in der Engführung, zu der Denk dir in diesem Punkt starke motivische Bezüge aufweist, als Gegensatz von Lebendig- und Totsein. In der Fassung, die Celan in dem Brief vom 8. Juni 1967 an Franz Wurm schickte, hatte es noch in einer beide Grundbegriffe synthetisierenden Fügung „handnamenwahr“ geheißen. Noch relevanter ist allerdings die Veränderung bezüglich der Schlusswendung. In der Fassung für Franz Wurm lautete der letzte Vers: „vom Allverwandelnden her“ (Celan/Wurm, S. 72). Dieser Begriff weist deutlich in theologische oder aber philosophische Bedeutungssphären. Gerade darauf bezieht sich die signifikanteste Kritik Wurms in dessen Antwortbrief von 11. Juni 1967. Wurm schreibt: „Das eine Wort, das Sie nicht aus mir geholt haben, ist ‚Allverwandelnden‘: – die Berufung auf eine Instanz, die weder zustimmen noch widersprechen kann, gibt mir in diesem Kontext einen Stich. Jeder Widersacher könnte sich auf die gleiche Instanz berufen, hat es in den letzten Tagen (u. Jahrzehnten) bis zum Irrwitz getan, u. mag ich das Wort bei Ihnen nun zu recht oder zu unrecht gleichsam als das angeborene Recht verstehen: es färbt sich hier, statt als Prämisse, trotz der beiden Zeilen, die ihm vorausgehen, als Argument. Nochmals: wahrscheinlich bin ich auf solche Berufungen (als Argumente) besonders u. überempfindlich … aber dann möchte ich Sie wenigstens wissen lassen, daß es eine solche Scheu gibt“ (Celan/Wurm, S. 73).

Wurm möchte eine solche metaphysische Instanz als Begründungsinstanz im Zusammenhang dieses Gedichts nicht gelten lassen, d.h. er möchte gewissermaßen die Legitimierung des historischen Prozesses der „Heimat“-Gewinnung und Verteidigung, auf den sich Israel beruft, nicht einer theologischen Fundierung anheimfallen lassen. Er möchte Celans Gedicht absetzen von möglichen theologisch-orthodoxen Deutungsmustern, die in der Staatsgründung Israels die Erfüllung der göttlichen Verheißung erblicken wollen. Vielmehr – und das sieht der sympathetische Dichterkollege ganz klar – ist es doch die Perspektive der Opfer von zweitausend Jahren Verfolgung, mündend im größten Verbrechen, der Shoah, die hier dem Vorgang eine unabweisbare und ewig-gültige („für immer“) Legitimitätsgrundlage bereitstellt. Diese säkulare Perspektive würde, so das Argument Wurms, durch die Formulierung „vom Allverwandelnden her“ getrübt, zumal die missbräuchliche Berufung auf solche metaphysischen Instanzen (man nenne sie Gott, das Schicksal, die Weltrevolution etc.) gerade auch in der jüngeren und jüngsten Vergangenheit zur vermeintlichen Legitimierung der schlimmsten Ver­brechen gegen die Menschheit immer wieder herangezogen worden sind, wie Wurm insinuiert. Dies scheint auch Celan eingeleuchtet zu haben, denn er ändert den Schlussvers seines Gedichts hin zu „vom Unbestattbaren her“, was nun wieder zweifelsfrei die jüdische Leidensgeschichte und die Opfer, die nicht bestattet werden können (wie etwa das „Grab in der Luft“ aus der Todesfuge indiziert), als Begründungszusammenhang einsetzt.

 

II.

In Celans Auseinandersetzung mit dem eigenen Judentum nimmt die Israel-Reise vom Herbst 1969 eine besondere Stellung ein, sie ist gewissermaßen ein biographischer Kulminationspunkt. Die Einladung des Hebräischen Schriftstellerverbands gab Celan die Gelegenheit, vom 30. September bis zum 17. Oktober 1969 die Stätten mit eigenen Augen zu ­sehen, die als ­geistige ­Komplexe schon zuvor in seiner Dichtung und seinem Denken präsent gewesen waren, und so einen Abgleich der inneren Vorstellungen und Projektionen mit der Wirklichkeit vorzunehmen. Hatte es zuvor Überlegungen hinsichtlich einer möglichen Auswanderung nach Israel gegeben, so hatten die dortigen Erfahrungen Celan dazu gebracht, solche Erwägungen aufzugeben. Am 14. Oktober hielt Celan eine kleine Rede vor dem Hebräischen Schriftstellerverband in Tel Aviv. In diesem Text kommen nicht allein die persönlichen Hoffnungen, Einstellungen und Überzeugungen des Autors hinsichtlich des jüdischen Staats und seiner Gesellschaft zum Ausdruck, ebenso wie seine existenzielle Situation, sondern es lassen sich in der Rede auch deutliche Bezüge zu den Motivkomplexen ausmachen, die in dem Gedicht Denk dir vorgeprägt sind.

Ansprache vor dem hebräischen Schriftstellerverband

Ich bin zu Ihnen nach Israel gekommen, weil ich das gebraucht habe.

Wie nur selten eine Empfindung, beherrscht mich, nach allem Gesehenen und Gehörten, das Gefühl, das Richtige getan zu haben – ich hoffe, nicht nur für mich allein.

Ich glaube einen Begriff zu haben von dem, was jüdische Einsamkeit sein kann, und ich verstehe, inmitten von so vielem, auch den dankbaren Stolz auf jedes selbstgepflanzte Grün, das bereitsteht, jeden, der hier vorbeikommt zu erfrischen; wie ich die Freude begreife über jedes neuerworbene, selbsterfühlte erfüllte Wort, das herbeieilt, den ihm Zugewandten zu stärken – ich begreife das in diesen Zeiten der allenthalben wachsenden Selbstentfremdung und Vermassung. Und ich finde hier, in dieser äußeren und inneren Landschaft, viel von den Wahrheitszwängen, der Selbstevidenz und der weltoffenen Einmaligkeit großer Poesie. Und ich glaube mich unterredet zu haben mit der gelassen-zuversichtlichen Entschlossenheit, sich im Menschlichen zu behaupten.

Ich danke all dem, ich danke Ihnen.

Tel-Aviv, am 14. Oktober 1969

Wie in dem Gedicht Denk dir erscheint die Kultivierung der Landschaft intrinsisch verknüpft mit der Wahrhaftigkeit dichterischen Sprechens, „der Selbst­evidenz und der weltoffenen Einmaligkeit großer Poesie“; auch das Motiv des Stärkens und Erstarkens kehrt hier wieder. Israel Chalfen hat in seinem Bericht über Celans Lesung im Saal des Journalisten-Hauses in Jerusalem am 9. Oktober vermerkt, dass Celan als letztes Gedicht seines Vortrags Denk dir präsentierte, ein Beleg für die besondere Bedeutung, die der Autor diesem Text als einem Zeugnis seiner Verbundenheit mit dem Schicksal Israels beimaß.

Für Celan war die Israel-Reise vor allem aber auch verbunden mit dem Wiedersehen von alten Freunden und Bekannten aus der alten, der verlorenen Heimat von Czernowitz und der Bukowina. Gerade hinsichtlich der geteilten Erfahrungen des Verlusts waren diese Begegnungen für Celan, der in den Jahren zuvor zahlreiche Krisen durchlitten hatte, in deren Verlauf er sich mehrfach längeren, quälenden Aufenthalten in psychiatrischen Einrichtungen hatte unterziehen müssen, von entscheidender Bedeutung – auch auf diesen Hintergrund ist sein Wort von der „jüdische[n] Einsamkeit“ und deren tiefempfundenes Verständnis gemünzt. Die wichtigste dieser Begegnungen war zweifelsohne die mit Ilana Shmueli, mit der ihn eine Liebesbeziehung verband, die – wie so häufig in Celans Leben – Momente der Beglückung wie solche des Befremdens miteinander verquickte. (Auch ihr hatte Celan übrigens bereits im Juni 1967 eine Abschrift von Denk dir postalisch zukommen lassen.) Mit Shmueli erlebte Celan auf gemeinsamen Spaziergängen die Stadt Jerusalem (und auch andere Stätten des Heiligen Landes), Jerusalem, das geistige wie geistliche, historische wie gegenwärtige Zentrum des Judentums, und es ist diese Verbindung, die das Erlebnis für Celan prägte, wie seine in diesem Zusammenhang entstandenen Gedichte offenbaren. Wie Goethe in den Römischen Elegien, so wird in diesen Gedichten Celans die besondere Erfahrung der Stadt mit einer Liebesbeziehung verknüpft. Dadurch entsteht die spezifische Perspektive einer Wahrnehmung, in der gegenwärtiges Erleben sich mit Schichten historischer und persönlicher Tiefendimensionen und Auseinandersetzungen verbindet. Celans Beschäftigung mit dem eigenen Judentum ebenso wie die nicht unproblematische Befasstheit mit den religiösen Traditionen einschließlich der jüdischen Mystik kommen hier im direkten Kontakt mit der biblischen Landschaft zum Tragen, aktiviert durch die Begegnung mit einem weiblichen jüdischen Du im Zeichen des Eros, das in dialogischen Bezug gesetzt wird zu den Schwierigkeiten der eigenen Person im Umgang mit seiner Biographie, die so viel Leidvolles und Traumatisches enthält. Die Erlebnisse beim gemeinsamen Gang durch die von Überlieferung gesättigte Stadt Jerusalem und die Stätten Israels geraten im Lichte dieser Beziehung zu Epiphanien, deren Signifikanz und Offenbarungscharakter anders als eine rein messianische Entbergung allerdings im Opaken und Ambivalenten verharrt, wodurch die Schwierigkeiten, die Zweifel und die Skepsis – in Bezug auf das eigene Ich, das Du, aber auch Gott und die Wirkmacht des Überlieferten – in keiner Weise ausgeblendet oder gar überwunden werden. Davon zeugt der im Nachlass Celans befindliche Zyklus von 19 Gedichten, der „Ilana“ überschrieben ist, wobei die Gedichte zwischen September 1969 und Februar 1970, nach dem Besuch Shmuelis bei Celan in Paris, datiert sind. Barbara Wiedemann, die Herausgeberin der gesammelten Gedichte, weist in ­ihrem Kommentar darauf hin, dass Celan zu seinen Lebzeiten nur Ilana Shmueli alle 19 Gedichte geschickt habe. Dies spricht, bei aller Repräsentativität, für den intimen Charakter dieser Art von poetischer Kommunikation, die, wie Shmueli in ihren Erinnerungen anmerkt, von Celan oft als Ausdruck einer „Begegnung im ‚Buberschen Sinn‘“ apostrophiert wurde. Hier erweist sich, wie die dialogische Offenheit, die Martin Buber in seiner Philosophie des Ich und Du propagierte, für Celans Denken und Dichten bis zu seinem Ende von zentraler Relevanz geblieben ist, als eine spezifische Form von Welt- und Ichbezug. Die doppelte Perspektive zwischen Persönlichstem und der Signifikanz der von der kollektiven Geschichte getränkten Landschaft, wie auch der Zuschreibungen und (Heils-)Erwartungen, die an sie gebunden sind, dominiert auch das dritte der Gedichte dieses Zyklus, Die Glut, in dem eben diese Offenheit des Du wie bei Buber als existenzielle wie phänomenologische, aber auch erotisch-sexuell konnotierte Grunddisposition exponiert wird.

DIE GLUT

zählt uns zusammen

im Eselsschrei vor

Absaloms Grab, auch hier,

Gethsemane, drüben,

das umgangene, wen

überhäufts?

Am nächsten der Tore tut sich

nichts auf,

über dich, Offene, trag ich dich

zu mir.

In ihren Aufzeichnungen von Celans Besuch in Israel hat Shmueli die Wege verzeichnet, die sie zusammen gegangen sind, hier lassen sich alle Realien des Gedichts wiederfinden: der Gang zu Absaloms Grab im Kidron-Tal, der Garten Gethsemane, der während des Wegs nicht betreten wurde, die Nennung mehrerer Jerusalemer Stadttore (Abu-Tor, Zions-Tor, Jaffa-Tor), sogar die Erwähnung „Esel und Maultiere schreien“. Doch diese Erlebnisgrundlagen katalysiert, sublimiert und erweitert Celans Gedicht zu einer Aussage von allgemeinerer und weitereichender Erfahrung: Die titelgebende „Glut“ ist nicht allein ein klimatischer Index, es ist auch die Temperaturanzeige des beide verbindenden Liebesbegehrens, welches das ‚Zusammenzählen‘ ermöglicht – mit „Eselsschrei“ und „Absalom“ gehen weitere Konnotationen des Begehrens einher. Doch die Beziehung der beiden Liebenden wird vor dem Hintergrund des der Stadt Jerusalem eingeschriebenen Verhältnisses von Altem und Neuem Testament, von jüdischer und christlicher Verheißung, aber auch damit einhergehender Rebellion und Verzweiflung entfaltet. Mit der deiktischen Struktur von „hier“-„Absaloms Grab“ und „drüben“-„Gethsemane“ wird eine Zuordnung der beiden zu diesem Verhältnis vorgenommen (dies erinnert an das „drüben“ des Münsters im Gedicht Zürich, Zum Storchen), die der Position und Haltung der Juden Celan und Shmueli zum Christentum entspricht – es wird ‚umgangen‘. Zugleich wird allerdings mit der Frage „[W]en/ überhäufts?“ die nach dem Geltungsbereich offengelassen. Die Frage nach dem Offenbarungscharakter verlängert sich in die beiden das Gedicht Die Glut beschließenden Verse, die einen Gegensatz zwischen einer verweigerten topographisch-allegorisch und damit religiösen Öffnung und einer erfüllten in der erotischen Beziehung konstruieren. Auch wenn darauf hingewiesen wurde, dass das ‚nächste der Tore‘ mit Blick auf die topographischen Gegebenheiten des Gedichts nicht das zugemauerte „Goldene Tor“, auch „Tor des Erbarmens“ genannt, sein kann, so ist im Kontext der Motivik des Gedichts die Assoziation naheliegend, denn dieses Tor soll sich nach jüdischer Glaubensvorstellung erst dann wieder öffnen, wenn der Messias kommt. In diesem Sinn figuriert das „Tor des Erbarmens“ in einem anderen Gedicht des Zyklus, Die Pole, auch hier wieder in einer Überblendung von messianischen und erotischen Offenbarungen. Diese Konzeption einer möglichen Transzendenz kann man, wie auch die Kombination von Liebesdichtung und Elegie in Celans Lyrik, anstößig finden, aber sie entspricht durchaus anderen Formen religiös-mystischer Dichtung, beginnend mit dem Hohen Lied Salomons. Selbst wenn sich Celans Vorstellung von einer dauerhaften Übersiedlung nach Israel nicht realisieren ließ, wie er selbst einsehen musste, so haben ihn die Erfahrungen der Israel-Reise zu einem letzten großen Höhepunkt seines Dichtens vor seinem zu frühen Verstummen geführt, der beides zugleich ist, Liebesdichtung und Ausdruck dessen, was Celan als sein „pneumatisches Judentum“ bezeichnete. 

DIE POLE

sind in uns,

unübersteigbar

im Wachen,

wir schlafen hinüber, vors Tor

des Erbarmens,

ich verliere dich an dich, das

ist mein Schneetrost,

sag, daß Jerusalem ist,

sags, als wäre ich dieses

dein Weiß,

als wärst du

meins,

als könnten wir ohne uns wir sein,

ich blättre dich auf, für immer,

du betest, du bettest

uns frei.

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