Evangelisierung oder Strukturreform – eine falsche Alternative

Im Rahmen der Veranstaltung "Die Rückkehr der Reformdebatte", 23.07.2019

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Nur eine Rose als Stütze …

 

Ein häufig benutztes Narrativ in der Debatte um Kirchenreform und Kirchenkrise lautet: „Wir sollten weniger auf Strukturen blicken, sondern vielmehr Wert auf die Evangelisierung legen.“ Es ist eine Gegenüberstellung, die in vielen Predigten und Bischofsworten begegnet. Dahinter steht die Einschätzung: Das eine ist trockene Materie, sicherlich irgendwie auch wichtig, aber nachgeordnet – das andere hingegen ist eine grundlegende Haltung, und auf die kommt es in Wirklichkeit an.

Zwischen beiden Polen wird eine Alternative aufgemacht. Wer wirklich vom Glauben bewegt ist, so die Annahme, der weiß um die richtige Gewichtung: Es gehe in erster Hinsicht um eine „pastorale Bekehrung“, darum die „Freude am Christsein“ wiederzuentdecken (so der Passauer Bischof Stefan Oster). Vorsicht, so warnt der Eichstätter Bischof Gregor Maria Hanke, sei geboten vor der stillen Sehnsucht, über eine Reform der Strukturen und das „Abarbeiten von Forderungskatalogen“ der Kirche zu neuem gesellschaftlichem Ansehen verhelfen zu wollen und hauptsächlich an der Sicherung ihres Einflusses interessiert zu sein. Und der Berliner Erzbischof Heiner Koch formuliert einen weiteren Einwand gegen die Forderung nach strukturellen Reformen: „Die Kirchenmitgliedszahlen werden durch Reformen nicht nach oben gehen“. Es scheint also, als ob die Reihenfolge zwischen einer Erneuerung der Strukturen und der Veränderung der Glaubenshaltung eindeutig sei und keiner weiteren Diskussion wert.

Viele lesen das Plädoyer für einen Weg der Evangelisierung, der als Gegenprogramm zur Diskussion struktureller und systemischer Fragen gesehen wird, auch aus dem jüngsten Brief des Papstes „an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ heraus. Ich bin allerdings der Ansicht, dass der wesentliche Punkt, den Papst Franziskus hervorheben möchte, nicht der Gegensatz zwischen Evangelisierung und einer Reform der Strukturen ist, sondern die Warnung vor einem typisch deutschen Prozedere, nämlich dem technokratischen Vorgehen, das auf die großen Stäbe, die noch vorhandenen finanziellen und personellen Mittel setzt und der Annahme aufsitzt, es durch das eigene Tun allein in der Hand zu haben, was mit der Kirche wird.

Eine solche Warnung ist aber nicht zu verwechseln mit einer Option für die Evangelisierung und gegen die Erneuerung von Strukturen. Im Gegenteil: Auch „Evangelisierung“ kann man auf dem Verwaltungswege betreiben – und umgekehrt mag sich in der Erneuerung von Strukturen ein Werk der Evangelisierung ausdrücken. Dass der südamerikanische Papst einen sehr wachen Blick für die typischen Versuchungen einer kirchensteuerfinanzierten, reichen Kirche wie der deutschen hat, ist kaum verwunderlich und verdient es, ernst genommen zu werden. Es trifft allerdings Akteure und Positionen in der gegenwärtigen Auseinandersetzung.

Mein Leitgedanke lautet deshalb, ganz entgegen dieser häufig anzutreffenden Dichotomie von Evangelisierung und Strukturen, Geist und Gesetz: Beide Dimensionen sind eng miteinander verbunden, man kann sie nicht voneinander trennen. Form und Inhalt gehen vielmehr eine notwendige Verbindung ein – und diese Verwiesenheit lässt sich auch auf anderem Feld erkennen: Wer könnte etwa den „Gehalt“ eines Gedichtes von seiner Form trennen? Erst die Form (Versmaß, Reimschema, Wortwahl, Stilistik) bringen dessen Gehalt überhaupt zur Geltung. Sie geben ihm nicht nur Ausdruck, sondern sie formen ihn überhaupt erst.

So ist es auch bei der Sache des Glaubens:  Wie im Gedicht geht es hier um etwas Zerbrechliches, um eine Botschaft, die man leicht überhören, missverstehen oder ignorieren kann. Es kommt ganz darauf an, diese Botschaft in der richtigen Weise zu Gehör zu bringen und ins Werk zu setzen. Das Prinzip „Kirche“ ist der Weg, wie dies in Zeit und Geschichte geschieht. Sie ist Instanz, Verkörperung und Übersetzung des Wortes Gottes, das Menschen zu einer Antwort herausruft. Wie diese Kirche gebaut ist, nach welchen Regeln und Mechanismen sie funktioniert, welchen Prinzipien sie folgt, das ist etwas sehr Entscheidendes für ihre Aufgabe, Zeichen der Gegenwart Gottes in der Welt und Übermittlungsinstanz eines gründenden Wortes zu sein.

Nur eine Rose als Stütze – so sehr Hilde Domin in diesem Gedicht zusammenfasst, wie schwach und stark zugleich Poesie sein kann, und wie sehr es dabei auf die poetische Art und Weise – eben die Form, in der eine Botschaft gesagt wird – ankommt, so sehr gilt für den Glauben: Gehalt und Gefäß gehören zusammen. Man kann nicht die Strukturen der Kirche von der „Sache des Glaubens“ trennen und dafür eine evangelisierende Haltung einfordern. Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer hat dies kürzlich zum Ausdruck gebracht, indem er sagte, man könne sich Mission nicht so vorstellen, als ob man den Glauben „wie ein Glas Mineralwasser“ an jemand anderen überreiche. Die „Sache“ des Glaubens gibt es nicht isoliert von der Art und Weise, wie dieser Glaube gelebt wird – individuell und gemeinschaftlich.

Aus diesen Überlegungen heraus lautet mein Zwischenresümee: Eben weil Form und Inhalt im Glauben so eng zusammenhängen, ist eine rechtliche und vor allem rechtsethische Perspektive, die nach der Legitimität und Sinnhaftigkeit der Strukturen und Regeln des Kirche-Seins fragt, eine eminent theologische und deshalb eine unverzichtbare Perspektive.

 

Welche Strukturen für welche Kirche?

 

Meine These zur Sache lautet: Die Kirche muss, wenn sie es wirklich ernst meint damit, die „systemischen Ursachen“ für Missbrauch ansehen zu wollen, sich der Frage nach der Kirchenverfassung widmen. Hier ist die Triebfeder für so viele ihrer Probleme und Verrenkungen zu finden, unter denen sie in der Moderne leidet. Das lässt sich mit einer Reihe von Aspekten veranschaulichen.

Die katholische Kirche leistet sich eine monarchische Verfassungsform: Alle Gewalten sind im Bischof vereint. Wo aber ausführende, rechtsprechende und gesetzgebende Gewalt in einer Person vereint sind, gibt es per definitionem keine verbindliche Machtkontrolle. Alle Handlungsräume und Handlungsfreiheiten sind gewährte oder geduldete Freiheiten, sie können – bei Amtswechsel oder aus anderem Anlass – willkürlich zurückgezogen werden. Die Kontrolle des amtlichen Handelns ist freiwillig, ebenso der Machtverzicht, von dem jetzt auch viele Bischöfe sprechen. Vor allem aber: Die Kirchenmitglieder – eben die Gläubigen –  sind Adressaten und Objekte des kirchlichen Herrschaftshandelns, nicht aber Subjekte, vor denen sich das Handeln der Kirchenoberen als legitim erweisen muss. Teilhabe und Mitwirkung sind in einem solchen Gemeinwesen Ausdruck einer Bringschuld, nicht Ausdruck von Autorschaft der Regeln in einem gemeinsamen Haus – der Kirche.

Unterm Strich muss man feststellen: Die Kirche leistet sich eine Rechtsordnung, die nicht an dem Wert orientiert ist, den sie ansonsten in den Vordergrund stellt: die Menschenwürde. In Verkündigung und Seelsorge nimmt die biblisch bezeugte Botschaft von der gleichen geschöpflichen Würde von Mann und Frau eine zentrale Rolle ein, nicht aber in der Rechtsordnung der Kirche. Diese folgt einer anderen inneren Logik, nämlich der Sorge um eine möglichst sichere und erfolgreiche Heilsvermittlung. Auf diesen materialen Zweck hin sind die Ausführungen zu Sakramenten, zum Amt und zur Kirchenstruktur ausgerichtet. Damit ist eine Rechtsordnung begründet, welche höhere Zwecke kennt als die Menschenwürde, wie sie etwa im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als Maßstab von Recht und politischem Handeln grundgelegt ist.

Damit folgt die Kirche einer Grundordnung, in der sowohl ein diskriminierendes Personenstandsregime (Frau/Mann, Klerus/Laien), der ungestrafte Missbrauch von Macht, aber auch die instrumentelle Rolle des Kirchenvolkes festgeschrieben sind oder zumindest ermöglicht werden. Es ist eine Grundordnung, die für alle Teile der Kirche problematische Folgen hat:

Priester erkennen sich nicht mehr wieder, wenn sie realisieren müssen, dass nicht allein ihre ursprüngliche Berufungsmotivation ihren Handlungsrahmen bestimmt, sondern sie eben auch Akteure für und innerhalb einer absolutistischen Monarchie sind. Gemeindemitglieder fühlen sich vor den Kopf gestoßen, wenn sie nach viel guter Erfahrung eines gemeinschaftlichen Wirkens mit dem bisherigen Pfarrer bei der Stellenneubesetzung überhaupt nicht mitwirken können und plötzlich den schneidigen Jungpriester mit stramm neuscholastischem Profil vorgesetzt bekommen. Und so manch neu berufener Bischof wiederum geht mit den besten Absichten ins Amt, wahrer Hirte seiner Herde zu sein, und muss schnell merken, wie eng sein Amtskleid sitzt.

Da wird es nachvollziehbar, dass Ausweichschritte wie die Beförderung von Frauen auf höhere Verwaltungsposten, Gemeindeleitung durch Laien oder auch viri probati als Rettungsflöße betrachtet werden, um sich eine Weile länger über Wasser zu halten. Es bleiben Ausweichschritte, Notnägel, Trostpflaster, die eines nicht leisten: die konstitutive Wunde der Kirche heilen, und das ist ihre Schizophrenie zwischen der Botschaft, der sie verpflichtet ist und der institutionellen Hülle, in der sie diese Botschaft ins Werk zu setzen trachtet.

Nun mag man einwenden: Es gibt aber doch Traditionen in Theologie und Kanonistik, die vollkommen andere Geleise vorgeben, die wir nicht einfach abrupt verlassen können. Eben darin liegt doch die Eigentümlichkeit eines katholischen Sonderwegs, den wir auch schätzen dürfen als das Unterscheidende. Als Feststellung erscheint mir dieser Einwand berechtigt. Daraus aber abzuleiten, die sich heute als exklusiv katholisch ausgebende Weise der Kirchenverfassung sei normativ inappelabel oder entziehe sich gar einer Weiterentwicklung, die auch und zu Recht das Prädikat „katholisch“ tragen darf, teile ich nicht.

Im Gegenteil: Die Identität des Katholischen wird sich tradieren können, auch wenn bestimmte Strukturmerkmale sich ändern, es beispielsweise mehr Elemente von verbindlicher Partizipation und „Demokratie“ gibt. Mit anderen Worten: Eine Verfassungsreform wird die Katholische Kirche nicht einfach „protestantisieren“, sondern solch eine Veränderung wird in katholischer Pfadabhängigkeit erfolgen. Das bedeutet, dass etwa Modalitäten der Beteiligung der Kirchenmitglieder an der Ämterbestellung eine kirchliche Demokratie mit katholischem Zungenschlag formen wird.

Das betrifft beispielsweise die Diskussionskultur in den entsprechenden Gremien, die Frage, was darin als ein „überzeugendes Argument“ gilt oder auch die Kultur des Umgangs miteinander und der Berücksichtigung von Interessen und Positionen. Gleiches gilt für das Amt: Wenn Frauen zum geweihten Amt zugelassen werden, wird das nicht einfach eine Kopie des Pastorinnenamtes aus dem Kirchen der reformierten Tradition sein. Vielmehr ist zu hoffen, dass mit der Zeit etwas Neues entsteht, das weder mit dem „alten“ Amt des katholischen Klerikermannes, aber eben auch nicht mit dem Amt der evangelischen Pastorin einfach identisch wäre. Das Gute und Vertraute, das vielen im Katholizismus bisher Heimat gibt, dürfte bleiben – formbewusste Liturgien, der Ablauf des Kirchenjahres, seine Bräuche, die dem Katholizismus eigenen Gebetsformen und seine spirituellen Traditionen. Aber die katholische Tradition würde geöffnet werden für einen Entwicklungsweg, der am Maßstab einer größeren Gerechtigkeit orientiert ist.

Statt die überlieferte und auch in historischer Kontingenz gewordene Gestalt der Kirche theologisch zu „überlegitimieren“ und den Status quo damit zu rechtfertigen erscheint es mir geboten, aus den zentralen Quellen des christlichen Glaubens Impulse zur Weiterentwicklung der Kirchenverfassung zu beziehen. Und so ist zu fragen: Warum lassen wir uns von der Überzeugung, dass der Mensch in gleicher Würde von Gott geschaffen ist und sich darin seine Würde begründet (Gen 1,27), nicht zu einem grundständigen, nichts-diskriminierenden Personenstandsrecht führen, das den Zugang zum geweihten Amt grundsätzlich für Männer und Frauen zulässt? Die Abkünftigkeit aller Menschen von ihrem Schöpfer, aber auch die Ausgießung des Geistes über die ersten Glaubenden der jungen, pfingstlichen Kirche erlauben darüber hinaus eine Kirchenverfassung, die man in heutiger Sprache „demokratisch“ nennen könnte. In ihr wären die in Freiheit geschaffenen, zu Verantwortung fähigen und mit Geist begabten Kirchenmitglieder höchster Souverän, im Glauben befähigt dazu, ihre Kirche gesetzgeberisch zu lenken und auch an der Ämterbestellung mitzuwirken.

Und schließlich ist ein fundamentaltheologisches Argument hinzuzufügen, das man auch als einen Aufruf zur theologischen Demut bezeichnen könnte. Wäre es nicht angemessen, den grundsätzlichen Abstand des Repräsentierenden (kirchliche Ämter, Verfahren und Strukturen) zum Repräsentierten (Gott) sichtbarer, spürbarer zum Ausdruck zu bringen – nicht nur in Spiritualität und religiöser Sprache, sondern auch in der für alle fühlbaren Organisationsgestalt der Kirche? Wie kann eine solche ontologische Depotenzierung des Priesteramtes und der Kirchenstruktur gelingen und sozial umgesetzt werden, ohne den spezifisch katholischen Zungenschlag dabei zu verlieren?

Es bedeutet, dass wir vorsichtiger werden zu sagen: Man kann etwas durch ein bestimmtes Tun und Handeln „gegenwärtig“ setzen. Natürlich ist es auf den ersten Blick ein Verlust zu realisieren, dass zwischen dem, worauf man sich beruft und dem gegenwärtigen Tun eine Distanz liegt und das eine nie vollständig im anderen aufgeht. Aber es ist auch ein Gewinn: Den Abstand zwischen Urbild und Abbild anzuerkennen, zollt dem, worauf man sich beruft, Respekt. Denn es wird deutlich: Dieses Urbild ist immer größer als alles, was versucht, es ihm gleichzutun. Es wird immer einen Überschuss haben an Sinn, an Bedeutung und an Wirksamkeit – ganz gleich, wer sich wann und wo darauf beruft.

Für unsere Frage heißt das: Wenn wir die Entwicklung der menschheitlichen Denkgeschichte in Rechnung stellen, können wir „entspannter“ mit dem Geschlechterkriterium bei der Amtsfrage umgehen: Wir alle, ob Mann oder Frau, sind derart weit davon entfernt, dem „Urbild“ Jesus gleichzukommen, dass es keinen bedeutenden Unterschied macht, ob Mann oder Frau Priester ist und das Geschlecht Jesu teilt.

Diese hier nur im Ansatz genannten Perspektiven verstärken also die Frage: Mit welcher Verfassung lebt die Kirche? Gibt sie sich die Form, die ihren tiefsten Anliegen entspricht? Verfügt sie über eine (Verfassungs-) Form, die in sich flexibel genug ist, um den Wandel und das Wachstum ihres Selbstverständnisses je neu und angemessen ausdrücken zu können? Die ernüchternde Antwort lautet aus meiner Sicht: Nein, denn sie hat sich, wohl durch die im 19. Jahrhundert sich verschärfende Frontstellung zu allem, was sich als Moderne ausgibt, in den Modus einer „hyperbolischen Autolegitimation“ hineinmanövriert. Ihre Selbstverfassung scheint auf einen ganz bestimmten, vormodernen Typus einer autoritär-undemokratischen Hierarchie „eingefroren“. Eine adaptive Evolution ihrer institutionellen Formen und Arrangements scheint seitdem per se ausgeschlossen. (Die Überlegungen dieses Teils finden sich ausführlich entfaltet in einem neu erschienen Buch des Autors: Daniel Bogner, Ihr macht uns die Kirche kaputt … doch wir lassen das nicht zu!, Verlag Herder: Freiburg, 2019, 160 S)

 

Die Rückgewinnung des Politischen – aus theologischen Gründen

 

Ein letztes, wichtiges Element der hier vorgetragenen Perspektive betrifft eine Dimension, die notwendig zur Ebene des Rechts gehört – es ist die Ebene des Politischen. Mit politischem Handeln wird eine rechtlich verfasste Ordnung ausgestaltet. Erst in solchem Handeln gewinnt diese Ordnung Lebendigkeit und wird erfahrbar und erlebbar. Solches Handeln muss sich natürlich am bestehenden Recht orientieren, nach dessen Intentionen fragen und diesen gerecht werden. Aber gerade dafür muss politisches Handeln auch mutig und kreativ vorgehen, es muss sich einen gewissen experimentellen Gestus zu eigen machen, mit dem zum Ausdruck kommt: Um den Prinzipien und Anliegen gerecht zu werden, diesen in konkreten Situationen Geltung zu verschaffen, muss man erst entsprechende Wege finden, das geschieht nicht von selbst, dafür braucht es immer wieder neues, auch erfindungsreiches, ausprobierendes politisches Handeln.

Hieraus ergibt sich ein weiterer, problematischer Charakterzug des institutionellen Habitus der katholischen Kirche. Es ist der Ausfall oder auch die strategische Vernachlässigung des Politischen. Was ist damit gemeint? Eine für die bischöfliche Leitung der Kirche typische Haltung besteht darin, dass sie ihre vornehme Aufgabe darin sieht, um die Bewahrung von Kontinuität besorgt zu sein. Geleitet vom Amtsethos, die „Einheit zu bewahren“, verlegt sich kirchenleitendes Handeln allzu oft darauf, die Legitimität des eigenen Tuns in der Anknüpfung an Bestehendem festzumachen, Übergänge herzustellen, sich selbst als proaktiv gestaltender Akteur dabei allerdings zu verbergen. Hier und da wird dieser Habitus noch bekräftigt mit der Aussage: „Ein Bischof hat keine Macht, nur Vollmacht“ – gemeint ist die Vollmacht Jesu, die dem katholischen Amtsträger kraft der Weihe als sacra potestas übertragen wurde.

Dieses durchaus gängige Narrativ führt aber nur zu einer Verschleierung von Macht. Denn selbstverständlich wird auch mit einer solchen Amtshaltung gestaltet. Das geschieht im Interesse ganz bestimmter, dominant gewordener Traditionslinien, und unter der Vorgabe, man sei ja nur „Notar“ einer höheren Wirklichkeit und habe deshalb nicht das Recht, etwas Substanzielles zu verändern.

Dieser Charakterzug kirchlichen Amtshandelns sollte ins Licht gehoben werden. Denn dann lässt sich entgegnen: Insofern Kirche als geschichtliche Größe – schon allein historisch – getrennt ist von ihrem gründenden Ursprung und deswegen auch mit den raffiniertesten Theorien der Repräsentation, wie die scholastische Sakramententheologie eine war, nicht in der Lage, diesen Ursprung verlustfrei zu vergegenwärtigen. Das darf sie demütig machen, was ihren Anspruch anbelangt, diesem Ursprung in bewahrendem Handeln vollständig treu und identisch bleiben zu können. Und es sollte sie mutig machen darin, mit Kreativität, Fortentwicklung und erneuerndem Handeln in ihrer Zeit ein je neues Echo und, will man es theologisch formulieren, eine je eigene Nachfolgegestalt in Bezug auf ihren gründenden Ursprung zu geben. Wenn die Kirche sich so versteht, wird sie wohl auch dem besser gerecht, was biblisch bezeugt ist: Gottes Handeln am Volk Israel und seine Menschwerdung in Jesus Christus bedeuten doch nicht in erster Linie die Fortsetzung von Kontinuitäten, sondern markieren auf unterschiedliche Weise Brüche mit den vorfindlichen Kontexten von Welt und Mensch. „Nachfolge“ heißt dann, diesen Gestus, der bereits biblisch bezeugt ist, aufzunehmen und ihn je neu ins Werk zu setzen.

Mit diesen Überlegungen im Gepäck kann man sehr kritisch auf so manches klassische Narrativ in der aktuellen Reformdebatte reagieren. Auf die Frage, wie das mit der Frauenweihe sei, lautet eine häufige Antwort: „Ich halte das in absehbarer Zeit für unrealistisch“. Oder: „Das haben wir hier in Deutschland nicht in der Hand. Das könnte allenfalls ein Konzil entscheiden“.

Es mögen Einschätzungen sein, die vielleicht sogar realistisch sind. Wenn dies aber die einzige Stellungnahme angesichts der vorgetragenen Anliegen bleibt, drückt sich darin ein verkürztes und nicht hinreichendes Verständnis von der politischen Dimension des kirchlichen Leitungsamtes aus. Wenn Politikerinnen und Politiker des demokratischen Rechtsstaats mit dieser Einstellung ihr Amt versehen würden, wäre wohl keine Maßnahme durchgesetzt worden, die wir heute als Errungenschaften wertschätzen: Eine Westbindung der Bundesrepublik unter Adenauer, die sozialstaatlichen Errungenschaften der frühen 1970er Jahre oder aber das vor 10 Jahren eingeführte Elterngeld – alles Maßnahmen, die in den jeweiligen politischen Lagern oder in wesentlichen Teilen der Bevölkerung zu ihrer Zeit umstritten waren. Sie kamen nur zustande, weil einzelne sich trotz ihrer anfänglichen Minderheitsposition dafür mit Mut und Risiko einsetzten. Eine politisch angemessene Haltung besteht deswegen darin, für Anliegen zu kämpfen und um Akzeptanz und Legitimität aktiv zu werben.

Eine solche Haltung sollte auch Teil des bischöflichen Amtsethos werden – für Überzeugungen zu streiten, auch wenn sie noch nicht konsensfähig sind. Anstatt zu betonen, wie schwierig die weltweite Abstimmung sei, sollten reformwillige Bischöfe – bildhaft gesprochen – die Ärmel hochkrempeln und offen benennen, ob sie beispielsweise für die Weihezulassung von Frauen einstehen. Wenn sie dies denn für einen möglichen Weg halten, erwarte ich, dass sie dazu stehen, dies offen bekennen und dann in allen kirchlichen Lagern und auch weltkirchlich dafür werben. Und gleiches gilt, das wäre mein zweites Plädoyer, für die Frage nach der Kirchenverfassung. Wer, wie dies im Zuge der Diskussionen zum Missbrauch immer wieder zu hören ist, für eine Gewaltenteilung in der Kirche eintritt, der sollte Farbe bekennen und sich aktiv für eine erneuerte, vielleicht eine neue Kirchenverfassung aussprechen, die einen Grundrechteteil für alle Kirchenmitglieder enthält, der wiederum an der Menschenwürde Maß nimmt; es wäre eine Kirchenverfassung, die eine verbindliche Teilung der bisher in der Person des Bischofs kumulierten Gewalten vornimmt.

Damit das aber eintritt, braucht es eine andere Haltung bei denen, die an verantwortlicher Stelle für Erneuerung eintreten. Und es braucht mehr, noch viel mehr Druck von den Kirchenmitgliedern und Gläubigen. Eine Initiative wie Maria 2.0 lässt ansatzweise spüren, welche Räume und Weiten dem neuschaffenden Geist in dieser Kirche eröffnet werden könnten.

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