Frühmenschliche Motivationssysteme

Im Rahmen der Veranstaltung "Anfänge des Menschen", 24.11.2018

Vorbemerkung

 

Das Thema „Frühmenschliche Motivationssysteme“ ist aus mehreren Gründen prekär. Die Begriffe „frühe Menschen“ und „Motivation“ sind vage; Untersuchungen zu diesem Thema sind multidisziplinär, aber kaum interdisziplinär, das heißt nicht angemessen vernetzt. Überdies ist unklar, wie sich überhaupt Motivationen, die bei frühen Menschen vorkamen, empirisch seriös erkunden lassen. Und zugleich ist dieses Thema aktuell und relevant, steht es doch in Verbindung mit der grundlegenden anthropologischen Frage nach den humanspezifischen Eigenschaften, die unser Menschenbild prägen.

Zu Fragen der Motivation gibt es zwei traditionelle Forschungsbereiche: die Motivationspsychologie und das psychoanalytische Seelenmodell. Der vorliegende Artikel greift demgegenüber einerseits auf Erkenntnisse der modernen kognitiven Psychologie und Philosophie des Geistes sowie der modernen Ethnologie zurück, um frühmenschliche Motivationssysteme einzukreisen.

 

Motivationspsychologie, Psychoanalyse und Motivation

 

Die Motivationspsychologie untersucht primär Ursachen und Effekte konkreter Motivationen, beispielsweise Ursachen für außerordentliche Motivation im Job, oder Effekte mangelnder Motivation, eigene Kinder zu betreuen. Diese Untersuchungen sind zweifellos psychologisch und empirisch aufschlussreich, bemühen sich aber kaum um eine terminologisch klare Beschreibung von Motivation selbst, sondern greifen unter anderem auf Begriffe wie „innere Kraft“, „Wahlverhalten“ oder „Selbstregulation“ zurück. Die Korrelationen von Motivationen mit ihren Ursachen und Effekten werden meist im psychologischen Laboratorium untersucht. Es handelt sich daher um Studien zu Motivationen moderner Erwachsener, die für sich genommen keine empirische Basis für Hypothesen über frühmenschliche Motivationen bereitstellen.

Die Psychoanalyse tritt seit geraumer Zeit in vielen verschiedenen Varianten auf. Dabei ist das Erbe Sigmund Freuds bis heute einflussreich geblieben. Nach Freund sind Triebe und Triebwünsche die einzigen seelischen Motivationen. Diese Motivationen sind archaisch, biologisch verankert, transkulturell und nicht humanspezifisch: wir teilen sie mit vielen Tieren. Unsere grundlegenden Motivationen konstituieren unsere animalische Natur. Sie sind daher Quelle egoistischer, narzisstischer, destruktiver und sozial unangepasster Einstellungen und Handlungen. Was uns motiviert, sind egozentrische seelische Impulse. Soziale und altruistische Verhaltensweisen sind dagegen lediglich Ausdrücke sozialer Vorschriften, die nicht selbst motivierend sind, sondern nur die Funktion haben, Triebwünsche zu zähmen und zu sublimieren.

Das gegenwärtig leitende Paradigma, die intersubjektive Psychoanalyse, vertritt einen diametral gegensätzlichen Standpunkt zu Freud. Diesem Ansatz zufolge sind unsere grundlegenden Motivationen gerade humanspezifisch und zutiefst sozial, denn sie zielen auf soziale Bindung, empathischen Austausch und soziale Anerkennung. Egoistische Motivationen sind dagegen Folgen des Versagens im sozialen Umfeld, wie zu wenig Empathie, Verständnis und Anerkennung auf Seiten der sozialen Bezugspersonen, oft bedingt durch repressive gesellschaftliche Strukturen.

Auf den ersten Blick ist schwer zu sehen, dass es zwischen Freudscher und intersubjektiver Psychoanalyse irgendeinen Kompromiss geben könnte. Und doch wurde ein theoretischer Kompromiss gefunden – die evolutionäre Psychoanalyse, die wenig bekannt und doch äußerst interessant und hilfreich ist. Es ist wenig überraschend, dass die evolutionäre Psychoanalyse von dem üblichen Bild von Evolution ausgeht. In der Evolution zumindest höherer sozialer Tiere sind drei Faktoren operativ:

a) Personale Fitness (individuelles Überleben), die mit egoistischem Verhalten korreliert ist.

b) Inklusive Fitness (Maximierung der Reproduktion eigener Gene), die mit selbstloser (altruistische) Fürsorge für eigene Kinder und Enkel, wie sie von der Soziobiologie entdeckt und erforscht worden ist.

c) Gegenseitiger Altruismus: Tier A behandelt Tier B selbstlos, wenn A sicher erwarten kann, dass A selbst auch von B selbstlos behandelt wird, so dass dieser Altruismus kein echtes Opfer involviert.

Die Matrix personale Fitness, inklusive Fitness, gegenseitiger Altruismus war über lange Zeit Treiber der biologischen und kulturellen Evolution der Vorfahren von Menschen und gewiss auch der frühen Menschen, denn sie operiert in allen höheren sozialen Lebewesen, die über Gefühle verfügen.

 

Philosophie des Geistes und mentale Zustände

 

Was immer Motivationen im Einzelnen sein mögen, es handelt sich in jedem Fall um kognitive, mentale und somit geistige oder seelische Phänomene. Darum ist es naheliegend, Motivationen im terminologischen Rahmen der modernen Philosophie des Geistes zu beschreiben, die zurzeit die avancierteste empirische Theorie zu geistigen und seelischen Phänomenen darstellt. Über lange Zeit haben sich Psychologie und Psychoanalyse gegenüber der neueren Philosophie des Geistes abgeschottet. Erst in letzter Zeit beginnt diese harte theoretische Abgrenzung zu bröckeln.

Der Ausgangspunkt der Philosophie des Geistes ist eine offene Liste vertrauter mentaler (also geistiger) Zustände und Aktivitäten wie etwa Meinungen, Wünsche, Interessen, Gedanken über Gedanken, Ich-Bewusstsein, Erinnerungen, Verstehen, Erklärungen, Interpretationen,  Schlussfolgerungen, Wissen, aber auch Wahrnehmungen, Träume, Gefühle, Imaginationen und Halluzinationen. Die zentrale Frage ist: Durch welche Merkmale sind diese und ähnliche mentale Zuständen und Aktivitäten ausgezeichnet? Die allgemeine Antwort auf diese Frage ist: durch Funktionalität, Repräsentationalität und Bewusstsein.

Wir können diese Antwort veranschaulichen, wenn wir den Wahrnehmungs-Evaluations-Bewegungskreislauf (= WEB-Kreislauf) betrachten. Der WEB-Kreislauf ist die grundlegende Interaktion aller geistigen Wesen mit der externen Welt. Hier ein Beispiel:

(i) Sehen, dass dort ein Krokodil ist (Repräsentation)

(ii) Auftreten von Angst (Evaluation / Bewusstsein: Gefahr!!)

(iii) Weglaufen (Effekt und Funktion der Angst).

Im WEB-Kreislauf treten alle Merkmale mentale Zustände auf:

  • Die Repräsentationen, (i) dass das Tier dort ein Krokodil ist, und (ii) dass das Krokodil dort (für die betroffene Person) gefährlich ist.
  • Eine Evaluation – in Gestalt der evaluativen Repräsentation (s.o. (ii)) aufgrund von bestimmten Werten (values) (hier: Wert der körperlichen Unversehrtheit).
  • Die Funktion (insbesondere der Evaluation): Generierung einer adaptiven motorischen Reaktion.

Betrachten wir nun die drei genannten Merkmale des Geistes ein wenig genauer, zunächst die Funktionalität: Zustand Z eines Dinges D hat die faktische Funktion F, wenn F in einer Situation S von Z kausal hervorgerufen wird und

  • F in S für D adaptiv (also überlebensrelevant) ist.
  • Eine faktische Funktion heißt echte Funktion, wenn ihre Eigenschaften (a) und (b) auf evolutionäre Selektionen zurückgehen.
  • D ist meist ein autopoetisches System.

Es ist wichtig, faktische Funktionen von mathematischen Funktionen zu unterscheiden. Eine mathematische Funktion ist einfach eine Zuordnungsvorschrift zwischen den Elementen zweier Mengen M1 und M2, derart dass jedem Element von M1 genau ein Element von M2 zugeordnet ist. Wenn von jetzt an von Funktionen die Rede ist, dann sind stets faktische, nicht mathematische Funktionen gemeint. Beispiele für Funktionen:

  • Lange Hälse vom Giraffen haben die Funktion: Nahrung an hohen Bäumen zu beschaffen, denn es ist ein kausaler Effekt der langen Hälse, Nahrung an hohen Bäumen erreichen zu können, und dieser Effekt ist für alle Giraffen überlebensrelevant. Es handelt sich sogar um eine echte Funktion, weil dieser Effekt evolutionär selektiert worden ist.
  • Angst hat die Funktion, adaptive motorische Bewegungen hervorzurufen, die uns aus einer Gefahr befreien, und Scham hat die Funktion: sozial unangemessenes Verhalten zu vermeiden. Auch hier handelt es sich um echte Funktionen, allerdings ist Angst eine Basis-Emotion, die im Verlauf der biologischen Evolution selektiert wurde, während Scham eine soziale Emotion ist, die im Verlauf der kulturellen Evolution selektiert wurde.

Kommen wir nun zur Repräsentationalität mentaler Zustände und Aktivitäten – dem grundlegendsten zu zugleich recht ungewöhnlichen und rätselhaften Merkmal des Geistes. Beginnen wir deshalb zunächst mit einigen Beispielen.

  • Wir sehen, dass dort ein rotes Auto parkt. Das heißt:

(a) Wir repräsentieren visuell, dass dort ein rotes Auto parkt.

(b) Diese Wahrnehmung ist eine Repräsentation.

(c) Was diese Wahrnehmung repräsentiert, ist ihr semantischer Gehalt.

  • Orest halluziniert, dass ihn die Erinnyen verfolgen. Das heißt:

(a) Orest repräsentiert halluzinatorisch, dass ihn die Erinnyen verfolgen.

(b) Diese Halluzination des Orest ist eine Repräsentation.

(c) Was diese Halluzination repräsentiert, ist ihr semantischer Gehalt.

Repräsentationen sind demnach dadurch charakterisiert, dass sie korrekt oder inkorrekt sein können (z.B. wahr oder falsch), d.h. Korrektheitsbedingungen aufweisen. Diese merkwürdige disjunktive Eigenschaft, korrekt-oder-inkorrekt zu sein, ist das grundlegendste Merkmal mentaler Zustände. Aufgrund dieser Eigenschaft wird der Geist zu einem Organ des schnellen Lernens, zu dem es gehört, sich gegebenenfalls korrigieren und verbessern zu können, und zwar innerhalb eines einzigen individuellen Lebens, nicht wie im Falle des „evolutionären“ Lernens durch Selektionen über viele Generationen hinweg.

Kommen wir schließlich zum letzten der drei grundlegenden Merkmale mentaler Zustände, also des Geistes, dem Bewusstsein. Allgemein gesprochen ist Bewusstsein mentaler Selbstbezug, das heißt die Fähigkeit, sich mit mentalen Zuständen auf andere eigene mentale Zustände zu beziehen. Doch gibt es verschiedene Formen des mentalen Selbstbezuges, also des Bewusstseins.

  • Ausgewachsene Schimpansen, Rabenvögel, aber etwa auch Elefanten und Menschenkinder ab 2 Jahren können sich im Spiegel selbst erkennen: Sie haben eine Art von Ich-Bewusstsein, eine höhere Form und humanspezifische des Ich-Bewusstseins unter Wesen, die natürliche Sprachen meistern, ist die Formierung von Gedanken oder Sätzen, die das Wort „ich“ enthalten.
  • Menschen, und nur Menschen, können Gedanken höherer Ordnung über eigene mentale Zustände entwickeln. Wir können zum Beispiel denken, dass unsere eigene emotionale Aggressivität unserem Freund gegenüber in den letzten Tagen unangemessen war. Damit betrachten wir unseren eigenen Geist wie auf einem Monitor. Diese Form des Bewusstseins heißt daher Monitorbewusstsein. In diesem Fall repräsentieren unsere Gedanken andere unserer Gedanken, die ihrerseits Repräsentationen sind. Das Monitorbewusstsein involviert daher die Repräsentation einer anderen Repräsentation, ist also eine Metarepräsentation.
  • Wir können aber auch erleben, wie es ist, in einem mentalen Zustand zu sein. Wir können zum Beispiel Todesangst erleben, und dann wissen wir, wie es sich anfühlt, Todesangst zu haben. Wenn wir noch nie Todesangst hatten, wissen wir auch nicht, wie es ist, Todesangst zu haben, selbst wenn wir ansonsten alles über Todesangst wüssten und mit jeder Theorie über Todesangst vertraut wären. Das Erleben, wie es ist, in einem mentalen Zustand zu sein, heißt phänomenales Bewusstsein dieses mentalen Zustands.

 

Gefühle

 

Eine wichtige und grundlegende Art von mentalen Zuständen sind die Gefühle, die früher oft eher als körperliche und nicht als mentale Phänomene betrachtet wurden. Gegenwärtig unterscheidet man drei Arten von Gefühlen:

  • Körpergefühle, bezogen auf Zustände des eigenen Körpers (oft Defizit-Zustände), z.B. Hunger, Durst, Frieren.
  • Emotionen, bezogen auf externe Objekte, z.B. Angst, Neugier, Ekel.
  • Stimmungen ohne bestimmten Inhalt oder mit sehr allgemeinem Inhalt, z.B. Weltschmerz, unbestimmte Unruhe.

Unter geist-theoretischem Aspekt sind Gefühle unter anderem deshalb von großem Interesse, weil sie auf paradigmatische Weise alle drei grundlegenden Merkmale mentaler Zustände aufweisen. Denn zumindest Körpergefühle und Emotionen sind phänomenal bewusst, weisen faktische Funktionen auf und sind evaluative Repräsentationen. Wir wissen bereits, dass Gefühle die Funktion haben, je nach Evaluation bestimmter Situationen adaptive Reaktionen zu generieren. Und Gefühle sind auch phänomenal bewusst. Wenn sie auftreten, erleben und spüren wir direkt, wie es ist, diese Gefühle zu haben. Dass Gefühle jedoch auch etwas in der Welt repräsentieren und daher zum Beispiel korrekt oder inkorrekt und sogar wahr oder falsch sein können, ist zwar von Aristoteles behauptet worden, wurde aber seit der frühen Neuzeit oft bestritten. Gegenwärtig wird die Repräsentationalität der Gefühle im Rahmen der sogenannten kognitiven Gefühlstheorie wieder weithin anerkannt.

Erinnern wir uns noch einmal kurz daran, in genau welchem Sinn Gefühle repräsentational sind. Wir freuen uns zum Beispiel auf das morgige Treffen mit unserer Freundin, oder wir sind wütend über die Vorgehensweise unseres Vorgesetzten. Diese Freude repräsentiert, dass das Treffen mit der Freundin angenehm wird – und das kann sich als wahr, aber auch als falsch erweisen. Und diese Wut repräsentiert, dass die Vorgehensweise unseres Vorgesetzten unseren Status oder Arbeitsauftrag rücksichtslos übersieht – und auch das kann sich als wahr, aber auch als falsch erweisen. Diese Gefühle weisen also Korrektheitsbedingungen auf, aber in einem wertenden, evaluativen Sinn. Denn ihr semantischer Gehalt enthält wertende Aspekte. Es wird angenehm mit unserer Freundin – der Vorgesetzte ist uns gegenüber respektlos.

Wir können diesen Elementen der Gefühlstheorie noch zwei weitere Komponenten hinzufügen:

Es gibt insbesondere sieben Basis-Emotionen, die in allen menschlichen Kulturen auftreten und deren mimische oder gestische Ausdrücke in allen menschlichen Kulturen verstanden werden: Wut, Freude, Ekel, Trauer, Angst, Überraschung und Verachtung. Von den Basisemotionen unterscheidet man soziale Emotionen, die von sozialen oder kulturellen Standards und Kontexten abhängig sind, zum Beispiel Scham und Ehrgefühl.

 

Motivationssysteme

 

Auf dieser geist-theoretischen Grundlage können wir nun einen theoretisch und empirisch fundierten Definitionsvorschlag für die Begriffe Motivation und Motivationssystem machen:

Person P ist motiviert, Bewegung oder Handlung H auszuführen genau dann, wenn gilt: Es gibt einen WEB-Kreislauf der Form (i) X tritt in der Nähe von P auf; (ii) P nimmt X wahr; (iii) P bewertet X und repräsentiert X evaluativ in Gestalt eines Gefühls -> (iv) P bewegt sich (handelt) in der Weise H.

  • P hat die Disposition (Tendenz), angesichts des Auslösereizes (i) den WEB-Kreislauf in Gang zu setzen.
  • Diese Disposition heißt Motivation, und ein Mechanismus der Form (a) heißt Motivationssystem.
  • Was uns im grundlegenden Sinn motiviert, ist eine emotionale Bewertung, die zugleich eine Funktion aufweist.
  • Welche Art von Motivation vorliegt, hängt maßgeblich von der evaluativen Komponente des Mechanismus und ihrem impliziten Bezug auf einen Wert ab.

Dieser Vorschlag besagt, dass Gefühle, geist-theoretisch gefasst als funktionale, bewusste und repräsentationale mentale Zustände, den Kern von Motivationen und Motivationssystemen ausmachen. Wenn wir von hier aus zum Beispiel auf die klassische psychoanalytische Motivationstheorie in Freuds Version zurückblicken, dann können wir die Triebe in Freuds Sinn noch am ehesten als Körpergefühle einstufen. Aus dieser Perspektive ist die Freudsche Motivationstheorie zumindest viel zu restriktiv, weil sie lediglich auf Motivationen abhebt, die auf Körpergefühle zurückgreifen. Streng genommen sind Freuds Thesen über Motivation daher falsch. Es ist nicht richtig, dass all unsere Motivationen lediglich auf Körpergefühlen beruhen. Und es ist daher auch nicht richtig, dass all unsere Motivationen egoistisch und animalisch, also nicht humanspezifisch sind. Daher ist auch das Menschenbild falsch, das die klassische Psychoanalyse durch Rückgriff auf die Triebtheorie vorgeschlagen hat.

Wir können uns nun der Aufgabe widmen, die wichtigsten derjenigen Motivationssysteme aufzulisten, die sich empirisch bei Menschen nachweisen lassen. Dabei wird deutlich, dass sich verschiedene Arten und Unterarten von Motivationssystemen herauskristallisieren. Dabei wird vorausgesetzt, dass alle Motivationssysteme von Säugern mit einem spezifischen phänomenalen Bewusstsein korreliert sind, weil nur die Gehirne von Säugern ein limbisches System enthalten, von dem neurobiologisch gezeigt worden ist, dass seine Aktivität alle Gefühle generiert.  Empirisch unterschieden werden sie vor allem durch charakteristische Repräsentationen (im Folgenden abgekürzt durch R für das, was sie evaluativ repräsentieren) und durch ihre charakteristischen Funktionen (im Folgenden abgekürzt durch F für das, was sie adaptiv bewirken):

(1)  Asoziale Körpergefühle

(a) Schmerz – R: Gewebeschäden; F: Lokalisierung und Beseitigung eines Gewebeschadens.

(b) Hunger – R: Nahrungsmangel; F: Suche / Aufnahme von Nahrung.

(c) Durst – R: Flüssigkeitsmangel von X. Funktion: Suche / Aufnahme von Flüssigkeit.

(d) Sexuelles Bedürfnis – F: Sexuelle Bedürftigkeit; F: Suche nach Sexualpartnern, Befriedigung sexueller Bedürftigkeit, Produktion von Nachkommen.

In genetischer Hinsicht dienen (a) – (c) vornehmlich der personalen Fitness, (d) dagegen der inklusiven Fitness.

(2) Asoziale Basis-Emotionen (mit X = physisches Ding)

(e) Neugier / Interesse an X – R: X ist attraktiv; F: Annäherung, Erkundung von X.

(f) Überraschung wegen X – R: X ist unerwartet. F: Unterbrechung von Aktivitätsroutinen, vorsichtige Erkundung von X.

(g) Freude über X – R: X ist Quelle eigener Lust; F: enger Umgangs mit X.

(h) Trauer wegen X – R: schmerzlicher Verlust von X; F: Auflösung der Bindung an X.

(i) Furcht vor X – R: X ist gefährlich; F: Sicherheit gegenüber X.

(j) Ekel vor X – R: X ist abstoßend; F: Distanzierung von X, insbesondere Schutz vor schädlicher Nahrung und Ansteckung.

Dabei wird die Furcht auch als Sicherheitsmechanismus bezeichnet, der ontogenetisch und phylogenetisch das grundlegendste Motivationssystem darstellt.

(3) Soziale Emotionen

(3.1) Bindungsemotionen

(k1) – (k5) Emotionen (e) – (i) für X = Artgenosse (geistiges Wesen)

(l) Dominanzstreben über X – R: X ist Quelle eigener Befriedigung, und nicht selbst Quelle der Befriedigung von X; F: Ausbeutung von X.

(m) Mitgefühl mit X – R: Leiden von X; F: Trost für, und Bindung an X.

(n) Liebe zu X – R: X ist sexuell attraktiv, emotional sensitiv und intellektuell anregend. F: Lange, enge Beziehung zu X mit Wahrung der Interessen beider Liebenden.

(3.2) Sozial-regulierende Emotionen

(o) Wut/Ärger über X – R: Verhalten von X ist unangemessene Verletzung des Eigeninteresses oder Verdienstes. F: Rache an, und Bestrafung von X.

(p) Scham über Verhalten X – R: X ist sozial unangemessen. F: Künftige Vermeidung von X, Versöhnung mit Geschädigten.

(r)  Clanverhalten gegenüber X – R: X ist als Verwandte altruistisch zu unterstützen. F: Förderung des Zusammenhalts von Verwandtschaftssystemen.

Im Blick auf diese empirisch und theoretisch gut gestützte Liste menschlicher Motivationsysteme lässt sich resümieren, dass diese Motivationssysteme ein starker Beleg für unsere duale motivationale Natur darstellen. Denn gegen Freuds klassische Psychoanalyse beherbergt unsere Seele mächtige, weitgehend unbewusste soziale Motivationssysteme, darunter auch altruistische Motivationssysteme. Und gegen die intersubjektive Psychoanalyse: beherbergt unsere Seele auch mächtige, weitgehend unbewusste egoistische Motivationssysteme.

Überdies scheinen die aufgelisteten Motivationssysteme bei allen Menschen vorzukommen (allerdings mit kulturspezifischen semantischen Gehalten). Das spricht für die Hypothese, dass wir hier auch frühmenschliche Motivationssysteme vor uns haben. Einige dieser Motivationssysteme kommen sogar bei Tieren (Säugern) vor, und zwar

(i) Körpergefühle und asoziale Emotionen.

(ii) Bindungsemotionen außer Liebe (Mitgefühl eindeutig nur bei Primaten)

(iii) Sozial-regulierende Emotionen: Wut / Ärger, elementares Imitieren.

(iv) Kommunikation (begrenzt auf typische Tiersprachen).

Zumindest die zu diesen Kategorien gehörenden Motivationssysteme sind mit Sicherheit frühmenschlich. Wir müssen uns jedoch den spezifisch frühmenschlichen Motivationssystemen noch genauer zuwenden und dafür auch archäologisches und ethnologisches Material heranziehen.

 

Frühkindliche Motivationen

 

Bevor wir uns den archäologischen und vor allem den ethnologischen Forschungen zu frühmenschlichen Motivationen zuwenden, müssen wir uns einige frühkindliche (also ontogenetisch frühe) Motivationen ansehen. Denn in den allermeisten Fällen sind ontogenetisch frühe Entwicklungsstufen auch phylogenetisch frühe Entwicklungsstufen.

Wie bereits erwähnt, kommen bei Menschen allgemein und so auch bei kleinen Menschenkindern asoziale Basisemotionen vor, die meist egoistische Motivationen involvieren. Sie sind in allen menschlichen Kulturen nachweisbar und dienen dabei unter anderem auch der transkulturellen Kommunikation. Doch beginnen Menschenkinder im Gegensatz zu allen anderen Tieren und insbesondere auch den Primaten recht früh den Wunsch zu entwickeln, einige dieser Basisemotionen mit anderen Menschen zu teilen, namentlich Neugier, Interesse und Überraschung. Dahinter steht der nachweisbare humanspezifische Wunsch, die eigene repräsentationale Ausrichtung auf die externe Welt mit anderen zu teilen, auch wenn es nicht darum geht, die entsprechenden Objekte zu konsumieren (shared intentionality, joint attention). Dieser zutiefst sozial-kognitive Wunsch ist eine der wichtigsten und frühesten Komponenten der sogenannten Neunmonats-Revolution, die eine inzwischen detailliert erforschte kognitive Entwicklung von Menschenkindern einleitet, die gegen Ende des vierten Lebensjahres einen gewissen Abschluss erfährt, zum Beispiel auf der Ebene des Meisterns natürlicher, syntaktisch voll ausgebildeter Sprachen und des Erfassens der mentalen Zustände anderer geistiger Wesen (mind reading).

Diese frühkindliche Bemühung um geteilte Aufmerksamkeit weist eine raffinierte kognitive Struktur auf, die oft als Triangulation bezeichnet wird:

P1 (Erwachsener) und P2 (Kind) blicken auf Objekt O.

P2 (Kind) blickt auf P1.

P2 blickt darauf, wohin P1 blickt.

Zusätzlich kontrollieren und manipulieren kleine Kinder die Triangulation. Zu diesem Ringen um kognitive Gemeinsamkeit gehört auch die – ebenfalls humanspezifische – Tätigkeit des Finger-Zeigens, die uns allem vertraut ist und von einjährigen Kindern oft ausgeübt wird. Denn das Finger-Zeigen ist ein wichtiger Bestandteil der Triangulation und hat überdies nicht selten eine helfende Funktion. Tiere zeigen nicht nur nicht mit dem Finger, sondern können dem Finger-Zeigen auch nicht folgen, das heißt sie verstehen diese Geste nicht.

In frühkindlicher Ontogenese manifestiert sich also eine unmittelbare Motivation zur Herstellung sozialer Beziehungen im Rahmen kognitiver Aktivitäten. Diese Diagnose wird durch weitere ontogenetische Befunde bestätigt. Betrachten wir etwa die Bindungsmechanismen, mit denen kleine Menschenkinder die soziale Bindungsbereitschaft ihrer Bezugspersonen zu aktivieren versuchen: Blickkontakt, Lächeln, Juchzen, Finger-Zeigen, Arme hochwerfen, Berührungskontakt. Auch das Verhalten von Tieren, insbesondere von Rudeltieren, wir durch Bindungsmechanismen gesteuert. Eine der Komponenten des Bindungsmechanismus zum Beispiel, das Komfort-Verhalten (ein Kind wird schmerzhaft verletzt oder ernsthaft getadelt und eilt zur Mutter, um sich trösten zu lassen), lässt sich auch an Hunden beobachten. Aber Menschenkinder manifestieren einen sehr scharfen Fokus auf die Bindungssituation, so dass eine nachhaltige Verletzung des Bindungsmechanismus vergleichsweise schnell zu Traumatisierungen und Neurosen führen. Im still face experiment wird beispielsweise deutlich, dass kleine Kinder im ersten Lebensjahr bereits nach 3 Minuten deutlich verzweifeln, wenn die Mutter durch eine steinerne Mimik zu signalisieren scheint, dass sie nicht bindungsbereit ist.

Ein weiteres Beispiel ist das Phänomen der Empathie, in Gestalt von Mitgefühl und der Fähigkeit, sich in die mentalen Zustände von Artgenossen hineinzuversetzen. Die elementarste Form des Mitgefühls ist die emotionale Ansteckung, die auch bei Primaten vorkommt, bei kleinen Menschenkindern jedoch sehr früh und sehr ausgeprägt ist. Eine höhere Stufe ist die Fähigkeit des Gedankenlesens (mind reading), die sich bei Menschenkindern im Alter von einem und vier Jahren sukzessive entwickelt und im vierten Lebensjahr in der Fähigkeit kulminiert, den Artgenossen Meinungen zuzuschreiben, die man selbst für falsch hält – eine Fähigkeit, mit dem Bestehen des false-belief-test nachgewiesen wird, den kein Tier besteht.

Ein drittes Beispiel sind ontogenetisch früh auftretende Aktivitäten des Konformismus, der sklavischen Imitation und des Helfens. Die Imitation ist auch unter höheren Tieren weit verbreitet. Aber nur Menschenkinder imitieren das Verhalten ihrer Bezugspersonen sklavisch und in diesem Sinne konformistisch – in dem Sinn, dass sie nicht nur das Resultat der vorgemachten Aktivität zu erreichen suchen, sondern auch genau auf dem Weg, der vorgemacht wurde – selbst wenn bestimmte Schritte auf diesem Weg ersichtlich nichts zum Erreichen des Resultats beitragen. Schimpansen lassen in diesem Fall die unwirksamen Schritte weg und imitieren nur die kausal relevanten Schritte. Die humanspezifische sklavische Imitation ist jedoch für das kulturelle Tradieren und die humanspezifische kumulative Kulturentwicklung (in der einmal erzielte Resultate bewahrt bleiben und angehäuft werden können) von ausschlaggebender Bedeutung.

Und schließlich lassen sich bei kleinen Menschenkindern auch ausgeprägte Formen des Helfens und Teilens von Gütern beobachten, die so im animal kingdom nicht vorkommen.

Diese Aktivitäten beginnen mit dem sehr frühen helfenden Finger-Zeigen und führen später zum Beispiel dazu, dass Kinder etwa ab einem Alter von vier Jahren spontan ihre Nahrung mit anderen Kindern teilen, die offensichtlich in der entsprechenden Labor-Situation nichts zu essen haben.

Aus all diesen ontogenetischen Befunden können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine vielfältige frühmenschliche Motivation zur Herstellung sozialer Bindungen schließen, die zumindest in den ausgeprägten menschlichen Formen unter Tieren nicht vorkommen.

 

Humane Ultrasozialität unter nomadischen Jägern und Sammlern

 

Die Verhaltensweisen und Motivationen früher Menschen sind in den letzten drei Jahrzehnten auch direkt und systematisch untersucht worden, und zwar im Rahmen einer ethnologischen Feldforschung, die sich mit den bis heute existierenden Horden – 150 an der Zahl – von nomadischen Jäger- und Sammler-Gemeinschaften beschäftigt hat. Ein Beispiel ist die San-Kultur in Afrika, die mindestens seit 44.000 v.Ch. besteht.  Die nomadischen Jäger- und Sammler-Gemeinschaften haben rund 95% der gesamten Zeit eingenommen, die der homo sapiens bislang auf der Erde zugebracht hat. Die Mechanismen, die sich in dieser langen Zeit (mindestens 1.5 Millionen Jahre) herausgebildet haben, sind bis heute in unserer unbewussten Seele operativ. Damit wird auch genau festgelegt, was unter den frühen Menschen verstanden werden sollte. Es sind die Mitglieder der nomadischen Jäger- und Sammler-Gemeinschaften, deren Ende durch das Neolithikum um ca. 10.000 v.Chr. eingeleitet wurde, als die Menschheit aus der Paradies und dem Garten Eden, in dem man nur sammeln und jagen musste, vertrieben wurde und von da an den Mühen der Sesshaftigkeit unterziehen musste: der Landwirtschaft, der Viehzucht, der Verteidigung und Eroberung von Territorien sowie der Errichtung  neuer patriarchalischer Strukturen.

Die nomadischen Jäger und Sammler waren keine Engel, sondern individuelle Menschen, die um ihre personale und inklusive Fitness bemüht waren. Die entsprechenden Motivationssysteme, die zum Beispiel auch bei Primaten zu beobachten sind und durch Egozentrismus und Rivalität sowie durch Streben nach sozialer Dominanz und Hierarchie geprägt sind, waren mit Sicherheit auch unter Jägern und Sammlern verbreitet. In diesem Bereich gab es auch unter den frühen Menschen zuweilen Gewalt und auch Morde. Die entscheidende Frage ist daher, ob es daneben unter den frühen Menschen auch soziale Motivationen gegeben hat, die über den von der Soziobiologie nachgewiesenen Verwandtschafts-altruismus hinausgingen. Diese Fragestellung wird von Mauricio Cortina und Giovanni Liotti in einem höchst informativen Artikel pointiert formuliert:

„Humans are an ultracooperative species, but they are also a deeply ambivalent species. Selfish motives compete with genuinely altruistic motives, domination and control compete with a thirst for equality and fairness, and a sense of solidarity toward people who are like us can easily turn ugly against people seen as different, as them. The view that emerges from this evolutionary story is not all sweetness and light, but it does affirm that altruism, empathy, and fairness are built into the fabric of our species… The traditional views see genes as selfish replicators that are pursuing their survival through cooperative means … The problem with these views is not that they are wrong; it is that they are partial, and only capture part of the remarkable story of human evolution. The emergence of prosocial motivations and emotions that are genuinely altruistic, and take pleasure and satisfaction in helping others is the other side of the story. This other side needs to be told“.

Wir sollten nicht übersehen, dass diese Aussage universalistisch formuliert ist und offenbar für „den“ Menschen gelten soll. Und wenn in diesem Kontext von Altruismus die Rede ist, dann nicht im Sinne des oben skizzierten Verwandtschaftsaltruismus, sondern im Sinne eines genuinen Altruismus, der in einem altruistisches Verhalten gegenüber Nicht-Verwandten ohne unmittelbaren Vorteil, also einer Hilfe ohne Erwartung einer Gegenleistung besteht und sich somit nicht durch die soziobiologische Matrix erklären lässt. Es handelt sich demnach um eine echte Minderung personaler Fitness, und das altruistische Handeln beruht auf einer altruistischen Motivation.

Die beiden wichtigsten Manifestationen einer altruistischen Motivation unter frühen Menschen, also unter nomadischen Jägern und Sammlern, sind die egalitäre Teilung von Nahrung unabhängig vom persönlichen Erfolg von Individuen oder Familien im Jagen und Sammeln und das Fehlen politischer oder sozialer Dominanz. Denn es gibt keine politischen Führer, wichtige Entscheidungen werden durch die gesamte Horde getroffen.

Daher ist unter frühen Menschen auch die Motivation verbreitet, soziale Parität mit den anderen Mitgliedern der Horde zu erlangen, wie es zum Teil auch explizit gegenüber Ethnologen artikuliert wurde. Demgegenüber ist die soziale Organisation von Primaten durch strenge soziale Hierarchie und vorherrschende Motivation zur Dominanz oder Unterwerfung gekennzeichnet. Dieser Unterschied könnte nicht krasser sein.

Die Ultrasozialität des Menschen und insbesondere bereits der frühen Menschen besteht gerade darin, dass menschliches Verhalten oft genuin altruistisch ist.  Wie bereits erwähnt, werden aber alle Menschen darüber hinaus auch durch Egoismus, Rivalität und Streben nach Dominanz motiviert: „Both egalitarianism and hierarchy are natural conditions of humanity“. Dies gilt auch für die frühen Menschen. Wie haben diese frühen Menschen, deren soziale Organisation keinen Herrschaftsstab und keine Polizei enthielt, dafür gesorgt, dass sie einander hauptsächlich altruistisch und nicht egoistisch behandeln?

 

Sanktionen in nomadischen Jäger- und Sammlergesellschaften

 

Offensichtlich waren soziale Sanktionen erforderlich, um das Primaten-Erbe, insbesondere die Dominanz-Motivation als wichtigsten Faktor für soziale Hierarchie, auf Ultrasozialität hin auszurichten. Unter den frühen Menschen lassen sich eine Reihe solcher Sanktionen beobachten, deren Kern meist eine mehr oder weniger radikale, längere oder kürzere soziale Ausgrenzung ist.

(i) gegen Angeberei (bei Jagderfolg),

(ii) gegen offenen Ausdruck negativer Emotionen (Aggressivität, Wut)

(iii) gegen alle Versuche, spontan und ohne Absprache mit der Gruppe für die Gruppe zu sprechen.

(iv) gegen alle Versuche, von etablierten sozialen Regeln abzuweichen (Konformismus).

(v) in Gestalt eines radikalen Ungehorsams gegenüber allen Versuchen von Individuen, anderen etwas vorzuschreiben („natürlich haben wir Führer – wir alle sind Führer“).

Angeberei, offene negative Emotionen, Soziopathie, politische Befehlsgewalt Einzelner werden also von allen anderen als sozial unangemessen und sogar persönlich gefährlich eingestuft. Wenn wir fragen, welche positiven Verhaltensweisen durch diese Sanktionen auf persönlicher Ebene etabliert werden sollen, dann offenbar (i) Bescheidenheit, (ii) Selbstbeherrschung, (iii) Höflichkeit und Freundlichkeit, (iv) Anpassung an Gruppenregeln, (v) Persönliche Autonomie (sofern vereinbar mit persönlicher Autonomie der anderen), (vi) Akzeptanz von Gruppenentscheidungen, basierend auf Konsens, (vii) Respekt für besondere Leistungen ohne entsprechende reale Vorteile („primus inter pares“).

Dieses soziale Setting wird oft beschrieben als „moralische Gemeinschaft“. und tatsächlich ist das Streben, die Motivation nach sozialer und materieller Gleichheit eine zentrale Komponente des moralischen Standpunktes. Doch darf nicht übersehen werden, dass die frühmenschliche soziale Organisation auch ein Bemühen und eine Motivation zu einem tugendhaften Leben involviert. Denn die ersten vier Eigenschaften gehören zu Tugenden, wie sie in vielen Gesellschaften als Verhaltensstandards gepflegt wurden. Man kann die Gesamtheit dieser Werte durch eine grundlegende Motivation erklären, die sich als Streben nach persönlicher Autonomie  beschreiben lässt. Die Realisierung dieser Tugenden, sowie die Motivation, diese Tugenden zu erwerben, sind zentrale Bedingungen für eine altruistische, egalitäre Gesellschaft.

Es ist der Status einer großen Teilgruppe der frühmenschlichen Gruppen, die das altruistische Bild dieser Gemeinschaften stört, der der Frauen. Es gibt Indizien dafür, dass die Frauen zwar respektiert und teilweise auch hoch geehrt wurden, zumal über sehr lange Zeiten unter den Jägern und Sammlern nicht bekannt war, dass die Männer zur Fortpflanzung beitragen, so dass die Frauen als ein heiliges Mysterium betrachtet wurden, weil sie aus sich heraus das Weiterbestehen der Gruppe zu sichern schienen. Aber es wurde zum Beispiel von männlichen Mitgliedern einer Eskimo-Horde auf die Frage, wer hier der Anführer sei, geantwortet (wenn auch mit verschmitztem Lächeln), dass alle Männer gleichermaßen Kapitäne und alle Frauen gleichermaßen Matrosen seien.

Sehr allgemein formuliert lässt sich feststellen, dass die frühmenschliche Ultrasozialität aus einer Matrix von Motivationen nach einem möglichst autonomen, tugendhaften und egalitären Leben bestand. Das ist mehr das klassisch antike Streben nach Autonomie und Tugenden, aber nicht nach Egalitarismus, und auch mehr als das neuzeitliche liberalistische Streben nach Autonomie und Egalitarismus, aber nicht nach Tugenden.

 

Entstehung von Ultrasozialität

 

Wie bereits betont, scheinen die frühmenschlichen Motivationssysteme und sozialen Organisationen von den Motivationen und sozialen Mechanismen der kognitiv und emotional am weitesten entwickelten Tieren, den Menschenaffen, meilenweit entfernt zu sein. Daher liegt die Frage nahe, wie sich die frühmenschlichen Motivationen überhaupt aus den Motivationen der Menschenaffen haben entwickeln können. Diese Frage wurde eine längere Zeit kontrovers diskutiert, doch mittlerweile zeichnet sich eine Antwort ab. Das Auftreten kooperativer Aufzucht, längerer sexueller Bindungen, verzögerter sexueller Reife und verlängerter Adoleszenz sowie radikal egalitärer sozialer Organisationen sind die entscheidenden evolutionären Strategien, mit denen sich die größere Fitness von Gruppen mit überwiegend altruistisch denkenden und handelnden Mitgliedern erklären lässt.

Rudimentäre Formen kooperativer Aufzucht, also des alloparentalen Versorgens der Babys und kleinen Kinder, sind bereits unter den Menschenaffen nachweisbar (in 1/5 aller Primatenspezies), allerdings beschränkt auf die Hilfe von engen Verwandten (Der interessante Fall der Vögel bleibt hier ausgeklammert, weil Vögel nicht zu den direkten Vorfahren der Menschen gehören.). Insbesondere beginnen die Väter sich an der Aufzucht der Nachkommen zu beteiligen und die Babys als ihre eigenen Nachkommen zu betrachten. Diese Entwicklung hat sich unter Hominiden und in den frühen menschlichen Jäger-Sammler-Gesellschaften (=JSG) enorm ausgeweitet.

Die Zunahme langer (oft lebenslang) sexueller und sozialer Bindungen in den JSG und damit auch der alloparentalen Aufzucht führte zur Freisetzung junger, vitaler Frauen für die Nahrungssuche. In den JSG beschafften Frauen nicht weniger als ein Drittel aller Kalorien. Zugleich entstand eine erweiterte Familienstruktur mit vielen genetisch nicht-verwandten Mitgliedern, die ebenfalls lang dauernde soziale Beziehungen eingingen und sich untereinander kooperativ und tolerant behandelten. Diese Entwicklung wurde unterstützt durch eine verlängerte Kindheit und Adoleszenz sowie der postreproduktiven Lebenszeit in den JSG. Dadurch entstand mehr Zeit zum kulturellen Lernen und eine weitere Ausweitung der alloparentalen Aufzucht auf Frauen in der postreproduktiven Phase („Großmütter-Effekt“).

Im Rahmen dieser sozialen Struktur konnte sich in den nomadischen Jägern und Sammlern ein radikaler sozialer Egalitarismus entwickeln. Soziale Emotionen wie Scham, Schuldgefühl, Verachtung als Internalisierungen ultrasozialer Motivation verbreiteten sich. Die JSG formierten erstmals aktiv einen kulturellen Kontext, der die altruistischen Mitglieder förderte und die Egoisten mit machtvollen Mechanismen ausgrenzte.

Die raffiniertere Kooperation und die egalitären Normen erzeugten einen kulturell-evolutionären Druck auf die Entfaltung komplexer Formen der intersubjektiven Kommunikation, insbesondere verstärkte Fähigkeiten des Gedankenlesens und der Empathie. Die Endstufe dieser Entwicklung war das Auftreten von Sprache und kumulativer kultureller Evolution mit kultureller Diversität.

Diese Entwicklungen lassen sich weniger in Begriffen der biologischen als vielmehr der kulturellen Evolution beschreiben, in der die „Vererbung“ primär über das mentale Tradieren und Lernen von Kenntnissen und Fertigkeiten organisiert wird. Außerdem arbeitet die Selektion in der kulturellen Evolution vor allem auf der Ebene sozialer Gruppen und weniger auf der Ebene von Individuen. Natürlich spielt dabei auch die genetische Struktur von Individuen eine Rolle: Ein altruistisches Gen kann sich nicht erfolgreich reproduzieren, wenn seine Träger nicht mit höherer als 50%iger Wahrscheinlichkeit mit Personen interagieren würden, die diesen Trägern Hilfe gewähren. Denn nur unter dieser Bedingung sind die Träger altruistischer Gene innerhalb ihrer Gruppe erfolgreich. Der zentrale Mechanismus, von dem alle Modelle der evolutionären Erklärung des Altruismus ausgehen, ist daher wechselseitige Hilfe und Erwartung wechselseitiger Hilfe. Tatsächlich besteht in den JSG eine fast 100%ige Wahrscheinlichkeit dafür, dass Träger altruistischer Gene mit Personen interagieren, die ebenfalls altruistisch agieren.

Dieses Erfolgsmodell gilt allerdings nur für numerisch eng begrenzte Gruppen und kann nicht auf moderne Staaten angewendet werden. Nach der neolithischen Revolution seit ca. 12.000 v. Chr. mit der Entwicklung von Pflanzenanbau, Tierzähmung, Landwirtschaft, Städtebau und extremem Patriarchat in größeren Gemeinschaften war das alte egalitäre System nicht mehr anwendbar. Die  Dominanzhierarchien kehrten zurück, aber zum Teil in Formen, die einen Teil des alten Egalitarismus bewahrten, nämlich in Gestalt von religiösen, judikalen, exekutiven und politischen Institutionen sowie von ökonomischen Einheiten (etwa Firmen), die zwar intern hierarchisch aufgebaut sind, aber zugleich auf sozialen Regelungen beruhen, die für alle gleichermaßen gelten. Die gegenwärtigen demokratischen Rechtsstaaten realisieren zum Beispiel derartige Strukturen und scheinen sich im kulturellen Wettbewerb erneut als überlegen zu erweisen.

 

Frühe Menschen und Kriege

 

Aufgrund dieses Bildes von zentralen Motivationssystemen und sozialen Organisationen und nomadischen Jäger- und Sammlergesellschaften flammte eine kontroverse Debatte wieder auf – die Debatte um die kriegerische menschliche Natur. Haben wir nicht beeindruckende Indizien für viele kriegerische Aktionen frühmenschlicher Stämme, und widerspricht dieser Befund nicht dem soeben gezeichneten Bild von weitgehend friedlichen und altruistischen nomadischen Jägern und Sammlern?

Tatsächlich hat es seit den neunziger Jahren groß angelegte Studien gegeben, beispielsweise von Lawrence Keeley und Steven Pinker, die glaubten, aufgrund wissenschaftlicher Befunde mit dem Mythos des friedlichen Wilden und seiner Korruption durch den weißen Westen, der von postmodernen Denkern zum Dogma erhoben wurde, aufräumen zu können. Diese Studien weisen auf eine hohe Todesrate in frühen Stammesgesellschaften hin, und zwar als Folge häufiger Kriege zwischen Stämmen sowie kleiner Stammesterritorien, unzureichender Verteidigungsanlagen und geringer Produktivitätsraten. Bereits ein kurzer Überfall konnte einen Stamm fast völlig vernichten oder in eine folgenreiche Hungerperiode zwingen.

In der amerikanischen Frühgeschichte lässt sich belegen, dass solche überraschenden Überfälle durchaus nicht selten waren. Natürlich waren die absoluten Todesraten wegen der geringen Bevölkerungsdichte gering – aber relativ auf die Gesamtbevölkerung waren sie sehr hoch. Hätte es im zweiten Weltkrieg dieselbe relative Todesrate gegeben wie in den frühen Stammesgesellschaften, so hätte es nicht 50 Millionen, sondern 2 Milliarden Tote gegeben. Das heißt, die Todesrate war in den frühen Stammesgesellschaften rund 20mal höher als im 20. Jahrhundert. Daher liegt die Annahme nahe, dass Frieden umso wahrscheinlicher ist, je größer die politischen, sozialen und ökonomischen Einheiten sind, die wir errichten. Aus Sicht der modernen Anthropologie sind die Ideen einer nationalen und ethnologischen Eigenständigkeit und Selbstbestimmung absurd.

Die frühen Stammesgesellschaften waren demnach gewalttätig und kriegerisch, doch seither ist eine kontinuierliche Verbesserung eingetreten. Diese Entwicklung ging mit einer deutlichen Zunahme der Humanität einher, so  mit der Durchsetzung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit, Ächtung von Folter und Brutalität, kultureller Liberalisierung, Antirassismus, Pazifismus. In diesem Prozess hat insbesondere nach Pinker Europa eine Führungsrolle übernommen. Pinker möchte die Auffassung des Philosophen Immanuel Kant, der als einer der ersten von einem beständigen Fortschritt des Menschengeschlechts gesprochen hat, mit wissenschaftlichen Methoden beweisen.

Die Schlussfolgerungen von Keeley und Pinker scheinen den neuesten ethnologischen Befunden über die weitgehende Friedlichkeit der nomadischen Jäger- und Sammlergesellschaften diametral zu widersprechen. Doch dieser Widerspruch lässt sich auflösen. Keeley, Pinker und ihre Mitstreiter haben fast ausschließlich Daten von Stämmen verwendet, die im zeitlichen Rahmen der neolithischen Revolution lebten und zum großen Teil bereits sesshaft waren. Und für diese Stämme sind ihre Aussagen auch korrekt. Doch sie haben ihre Befunde fälschlich auf die lange Zeit zwischen 1.000.000 und 10000 v. Chr. extrapoliert. Die frühe Menschheit durchlief eine lange, überwiegend friedliche Phase, doch sobald durch Sesshaftigkeit, Ackerbau und Viehzucht, persönliches Eigentum, fixierte Territorien und Patriarchat eingeführt wurden, nahmen soziale Ungleichheit, Unterwerfung von Frauen, gewalttätige Aggression und kriegerische Aktionen sprunghaft zu.

Diese Befunde korrigieren sowohl das zivilisationstheoretische Bild von den goldenen alten Zeiten und dem anschließenden kontinuierlichen Abgleiten der Menschheit in immer schlechtere gesellschaftliche Umstände voller Entfremdung, Ausbeutung und Krieg, als auch das zivilisationstheoretische Bild von ursprünglich ungezähmten triebgesteuerten Zuständen voller Aggressivität, Gewalt und brutaler Herrschaft hin zu immer mehr Frieden, Freundlichkeit, Vernunft und Freiheit. Die Menschheitsgeschichte enthält vielmehr beide Trends: Von langen überwiegend friedlichen Zeiten mit weitgehend lösbaren persönlichen Konflikten ohne Krieg, die unsere Natur entscheidend geprägt haben, hin zu einem grundlegenden Bruch, der extrem viel Gewalt und Aggressivität mit sich brachte, die anschließend allmählich und kontinuierlich abgemildert, aber nicht endgültig überwunden werden konnten.

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