Geliebte Freiheit

Zum Verhältnis von Offenbarung und Autonomie

Im Rahmen der Veranstaltung "Demokratie in der Krise", 01.02.2021

Wenn man nach dem Verhältnis von Philosophie und Offenbarung fragt, steht dabei im Hintergrund die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Vernunft: Wie verhält sich der Glaube, der sich einem Offenbarungsgeschehen verdankt und von dort aus sich selbst und die Wirklichkeit versteht, zur Vernunft, die seit der Moderne als autonom, als in ihren Urteilen nur der eigenen Einsicht verpflichtet, gedacht wird? Um mich dieser nicht nur für den eigenen Glauben, sondern auch für die Positionierung des Christentums zur Moderne so wichtigen Frage anzunähern, will ich zunächst skizzieren, was im Christentum unter Offenbarung verstanden wird. Dann will ich dafür plädieren, dass für den so skizzierten Offenbarungsglauben die Autonomie des Subjekts unhintergehbar ist. Und zwar aus philosophischen und genuin theologischen Gründen. Schließlich will ich dafür argumentieren, dass aus der Unhintergehbarkeit der Autonomie nicht ihre Autarkie folgt. Und daraus den Ort bestimmen, den Offenbarung im Verhältnis zum autonomen Subjekt einnimmt. Ich möchte also eine Verhältnisbestimmung von Offenbarungsglaube und autonomer Vernunft vorschlagen, die einerseits die moderne Errungenschaft der Unhintergehbarkeit der Autonomie wahrt und andererseits plausibel macht, warum wir für das Gelingen unserer autonomen Vollzüge dennoch auf Offenbarung, also auf Gott, angewiesen sein könnten.

Offenbarung christlich: Liebe

 

Offenbarung, wie sie das Christentum versteht, ist ein Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch.

Offenbarung biblisch: Zeugnis von der Liebe Gottes

Dieses Beziehungsgeschehen, durch das sich Gott den Menschen mitteilt, wird in der Bibel bezeugt – und dieses Zeugnis ist maßgebend für das christliche Offenbarungsverständnis: Gott teilt sich mit durch den Schöpfungsakt, in dem er die Welt und jedes einzelne Leben ins Dasein ruft, weil er sie will. Er teilt sich mit durch geschichtliche Ereignisse im Bund mit dem Volk Israel: im Bundesschluss mit Moses, im Exodus des Volkes Israel aus Ägypten, in der Mitteilung des Dekalogs, in der Kundgabe über Propheten. In all diesen Ereignissen zeigt Gott, wer er ist, wer er für die Menschen ist und sein will. Er zeigt seine Zuneigung und Treue gegenüber dem Volk Israel. Er zeigt sich im Exodus als Befreier. Gott teilt sich weiter in und durch den Menschen Jesus von Nazareth mit. Er teilt sich mit, indem er – das ist die enorm kühne Überzeugung des Christentums – selbst Mensch wird und mit den Menschen lebt. In der Praxis Jesu, der Praxis der Heilung von Kranken, der Vergebung von Sünden, des Mahlhaltens mit Ausgestoßenen, sowie in der Verkündigung Jesu, seinen Gleichnissen, der Reich-Gottes-Botschaft, zeigt sich Gott als ein Gott, der die Menschen liebt und will, dass sie leben, dass sie sind. Im Kreuzestod Jesu zeigt Gott sich als ein Gott, der sich ganz und vorbehaltlos in die Geschichte der Menschen gibt und darin ihre Freiheit bis in die radikalste Konsequenz, den Kreuzestod Jesu, anerkennt. Gott zeigt sich als einer, der sich den Menschen vorbehaltlos hingibt, weil er sie liebt und ihre Freiheit achtet. In der Auferstehung Jesu zeigt sich Gott als Herr über den Tod. In den biblisch bezeugten Beziehungen zeigt Gott sich, so fasst es der Theologe Thomas Pröpper zusammen, als „unbedingt für den Menschen entschiedene Liebe“. Und entsprechend erfahren die Menschen in diesen Beziehungen, dass sie, als Menschen und als je individuelle Person, unbedingt gewollt sind. Als Geschöpfe Gottes steht unsere Existenz unter dem Vorzeichen des unbedingten Gewolltseins. Das heißt einmal: Wir sind nicht ein zufälliges Evolutionsprodukt, entstanden aus dem Arterhaltungstrieb unserer Eltern. Sondern: Wir sind, weil wir gewollt sind. Und zum anderen heißt es: Nicht wir müssen für den Sinn unserer Existenz einstehen – unsere Existenz gründet im Schöpfungswillen Gottes und dieser Grund macht sie sinnvoll, noch bevor wir irgendetwas getan haben, um das zu verdienen. Durch das Inkarnationsgeschehen hat Gott sich als diese freisetzende Liebe des Anfangs noch einmal und bis in die letzte Konsequenz gezeigt. Er hat gezeigt, dass seine liebende Achtung menschlicher Freiheit nicht zurückgenommen wird, wenn die Menschen sich falsch verhalten, nicht einmal, wenn sie ihre Freiheit gegen Gott wenden (Stichwort: Kreuzigung). Gott hat sich als unbedingte Liebe offenbart, als Liebe, die sich nicht von Bedingungen abhängig macht. Als Liebe also, die ihr Gegenüber, den Menschen, nicht als einen bestimmten Jemand liebt, sondern in seiner unverfügbaren Freiheit. Indem Gott sich so zeigt, kann sich der Mensch als geliebt, als geliebte Freiheit wissen.

Offenbarung theologisch: Erkenntnis vs. Liebe

Von Anfang des Christentums an war man nun bemüht zu zeigen, dass der Glaube an Gott und seine Offenbarung nicht widervernünftig ist, dass es nicht völlig irre ist, sich in seiner Selbst- und Wirklichkeitsdeutung und seiner Lebensführung von einem solchen Geschehen leiten zu lassen.

Das führte zunächst zu einer Intellektualisierung des Offenbarungsverständnisses. Sie war dem Versuch geschuldet, die Vorstellung einer Offenbarung Gottes mit der griechischen Philosophie in Einklang zu bringen. Dabei wurde Offenbarung primär als ein Erkenntnisgeschehen aufgefasst, durch das ein Wissen von Gott und der Wirklichkeit mitgeteilt wird. Im Vordergrund stand die Frage nach dem Verhältnis dieser Offenbarungserkenntnis zur Vernunfterkenntnis. Wie verhält sich das Wissen, das durch Offenbarung erschlossen ist, zu dem Wissen, das durch die Vernunft erschlossen ist? Diese Frage war lange Zeit, bis in die Neuscholastik vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, die vorherrschende Frage bezüglich des Offenbarungsbegriffs. Die Diskussion mündete in eine Theorie, das so genannte instruktionstheoretische Offenbarungsverständnis, die auf dem Ersten Vatikanischen Konzil lehramtlich festgeschrieben wurde. Dem instruktionstheoretischen Modell zufolge muss man Offenbarung als ein zusätzliches Erkenntnisgeschehen zur Vernunfterkenntnis verstehen. Dazu werden zwei Wege der Erkenntnis unterschieden: die natürliche und die übernatürliche Erkenntnis. Die natürliche Erkenntnis ist Erkenntnis rein durch Vernunft. Auf diesem Weg kann man, etwa durch die philosophischen Gottesbeweise, die Existenz Gottes erkennen. Wie Gott aber ist, kann man auf diesem Weg nicht erfahren. Dafür ist man auf übernatürliche Erkenntnis, Erkenntnis durch Offenbarung, verwiesen. Durch die Offenbarung können die „ewigen Ratschlüsse“ des göttlichen Willens und das Wesen Gottes erkannt werden.

Die Konzentration auf die Frage nach der Erkenntnis führte damit aber zum einen zu der schwierigen anthropologischen Annahme, der Geist des Menschen sei gleichsam in zwei Stockwerke, ein natürliches und ein übernatürliches unterteilt, die nicht miteinander in Beziehung stehen. Zum anderen führte sie zu einer rationalistischen Verengung der Offenbarung auf ein Informationsgeschehen. Offenbarung wird verstanden als satzhafte Instruktion, als Unterweisung, über übernatürliche, der Vernunft aus sich selbst heraus nicht zugängliche Wahrheiten und Willensbeschlüsse Gottes. Ihnen ist allein aufgrund der Autorität Gottes, nicht aufgrund innerer Einsicht und Zustimmung, Gehorsam zu leisten. Da sie der Vernunft von sich aus nicht zugänglich sind, sind sie auch nicht durch sie zu kritisieren. Glaube, die Beziehung des Menschen zu Gott, kann so nie ein Geschehen sein, auf das er sich als ganzer, mit seiner Hoffnung, seinen Sehnsüchten, seinem Vertrauen und eben auch mit seinem höchsten Vermögen, seiner Vernunft, einlässt, sondern ist schlicht Gehorsam: die gehorsame Zustimmung zu bestimmten Wahrheiten.

Gegen diese rationalistische Verengung wendet sich das Zweite Vatikanische Konzil, indem es ihm das so genannte Kommunikationstheoretische Offenbarungsmodell gegenüberstellt. Man besinnt sich auf das biblische Fundament des Offenbarungsbegriffs, das eine Reduktion auf die bloße Erkenntnisdimension nicht zulässt. Offenbarung ist nicht primär Erkenntnisdatum, sondern ein Heilsgeschehen in der Geschichte. Offenbarung wird biblisch bezeugt als Selbstmitteilung Gottes in die Geschichte. Diese Selbstmitteilung ist nicht als eine Instruktion über übernatürliche Wahrheiten zu verstehen, sondern als ein dialogisch-personales Geschehen, in dem Gott nicht satzhafte Willensbeschlüsse mitteilt, sondern sich selbst. Inhalt der Offenbarung sind so nicht übernatürliche Wahrheiten, sondern Gott selbst. Medium der Offenbarung sind nicht Lehrsätze, sondern Personen und ihre Geschichte. Diese dialogisch-personale Bestimmung von Offenbarung kann in Analogie zu Liebesbeziehungen verstanden werden. Liebe ist ein Beziehungsgeschehen, in dem man vom Geliebten erfährt, ihn erkennt, weil er sich selbst in diese Beziehung investiert. Man weiß voneinander, weil man sich aufeinander einlässt, eine gemeinsame Geschichte hat, weil man sich in vielen Situationen erlebt, weil man Konflikte miteinander austrägt, sich immer wieder neu zueinander entschließt. Und nicht, weil man vor der gemeinsamen Geschichte und unabhängig von ihr eine Wesensdefinition des Gegenübers nebst Sittlichkeitskatalog serviert bekommt, die sich in ihren Inhalten und Kategorien der eigenen Urteilskraft entzieht. Analog zu der Selbstmitteilung von Liebenden in ihrer Beziehungsgeschichte ist die Selbstmitteilung Gottes an die Menschen zu verstehen: das Volk Israel erfährt, wer Gott ist, indem es sich von ihm aus Ägypten führen, sich von ihm befreien lässt, indem es immer wieder mit ihm kämpft, an ihm zweifelt, gerade in den Kämpfen und Zweifeln die Treue Gottes, seine Entschiedenheit zu den Menschen, erfährt. Die Jünger erfahren, wer Gott ist, indem sie Jesus nachfolgen, mit ihm leben und sprechen, sich immer wieder auch abwenden, überfordert sind, sich wieder von ihm zurückholen lassen, sich wieder zu ihm entschließen. Durch diesen dialogisch-personalen Prozess erfahren das Volk Israel, die Jünger und die Menschen, die sich zu jeder Zeit auf diese Beziehung eingelassen haben, wer Gott ist (und damit zusammenhängend: was die Welt ist und wer sie selbst sind), das heißt: es geschieht Offenbarung.

Auf ein Schlagwort gebracht: Offenbarung im christlichen Sinn ist Liebe, nicht Erkenntnis. Sie betrifft unsere praktische Freiheit, bevor sie unser Wissen bestimmt.

 

Geliebte Freiheit: Offenbarung und Autonomie

 

Wie verhält sich nun das eben skizzierte christliche Offenbarungsverständnis zur Philosophie oder, allgemeiner gefragt: Wie verhält sich der Offenbarungsglaube zur autonomen Vernunft, die nur das als wahr und richtig anerkennt, was sie aus eigener Einsicht zu begründen vermag? Und damit dem Selbstverständnis des modernen Menschen, in seinen Urteilen und Handlungen nur durch seine eigene Einsicht bestimmt zu sein?

Das Verhältnis von Offenbarung und Autonomie muss, so mein Vorschlag, auf doppelte Weise bestimmt werden: Zum einen muss gelten: Autonomie ist unhintergehbar. Zum anderen muss gelten: Autonomie ist nicht autark, sie wird durch Offenbarung allererst zu sich selbst befreit.

Was heißt das und wie geht das zusammen?

Zunächst: Autonomie ist unhintergehbar. Und zwar in einem doppelten Sinn: Sie ist formal-begründungstheoretisch unhintergehbar und sie ist für das Offenbarungsgeschehen selbst unhintergehbar. Man könnte auch sagen: Sie ist nach der Offenbarung unhintergehbar, wenn es darum geht, wie mit dem umzugehen ist, was sich da ereignet hat, und sie ist in der Offenbarung unhintergehbar.

Dass die Autonomie des Menschen begründungstheoretisch unhintergehbar ist, heißt: Auch und gerade der christliche Offenbarungsglaube muss die Vernunftautonomie des Subjekts anerkennen in dem Sinne, dass nur das als wahr und für uns leitend gelten kann, was aus eigener Einsicht eingesehen werden kann. Tut er das nicht, droht der Offenbarungsbegriff, auch wenn er in Metaphern der Liebe daherkommt, zum Instrument der Macht zu werden. Sobald Offenbarung zur Begründung theologischer Urteile und kirchlicher Direktiven angeführt wird, ist es mit der Autonomie vorbei, denn nicht die Einsicht der Vernunft, sondern eine göttliche Offenbarung, die von der mit Deutungsmacht ausgestatteten Kirche verwaltet wird, ist dann der Grund dafür, dass etwas als wahr oder gut geglaubt werden muss.

Das, die Unhintergehbarkeit der Autonomie, bedeutet aber nicht, dass man den Offenbarungsglauben kassieren muss, dass man also sagen muss, unsere Gottesbeziehung hätte keinen Einfluss auf das, was wir für wahr und für gut halten. Es bedeutet, dass in all dem eine Unterscheidung zu beachten ist: die Unterscheidung zwischen dem Entdeckungs- und dem Begründungszusammenhang einer Einsicht: Die Tatsache, dass eine Einsicht im Zusammenhang mit einem Offenbarungsereignis gewonnen wurde, dass sie im Zusammenhang mit diesem Ereignis entdeckt wurde, darf nicht zur Begründung ihrer Geltung angeführt werden, die Berufung auf Offenbarung darf kein Autoritätsargument sein, das die Suche nach vernünftiger Einsicht und den Diskurs über Wahrheit abbricht. Begründet werden kann eine Einsicht nur unter Berufung auf die Vernunft. Beachtet man diese Unterscheidung nicht, droht die Rede von der Offenbarung zur antimodernen Bastion zu werden, in der Glaube wieder zu Gehorsam degradiert und die Freiheit des Subjekts kassiert wird. Das ist nicht nur unannehmbar für unser Selbstverständnis als moderne Subjekte. Es ist auch theologisch falsch: Denn gerade die Achtung der Freiheit des Menschen ist ein wesentliches Implikat des kommunikationstheoretischen Offenbarungsverständnisses, demzufolge Offenbarung sich als ein Beziehungsgeschehen analog der Liebe vollzieht: Liebe impliziert Achtung der Freiheit, sie ist nur als Freiheitsgeschehen denkbar. (Liebe kann nicht erzwungen werden) Offenbarung darf also nicht gegen die Autonomie des Einzelnen gehen, diese ist (auch) für die Offenbarung – und das heißt: für Gott – unhintergehbar.

Und ich würde noch weiter gehen und sagen: Die Achtung der Freiheit des Menschen durch Gott ist nicht nur Implikat des formalen Charakters der Offenbarung als Liebesgeschehen. Die Achtung oder stärker: die Affirmation der Freiheit ist auch ihr einziger Inhalt. Wobei die Rede von Inhalt an dieser Stelle missverständlich ist. Denn Offenbarung ist keine gehaltliche Bestimmung: ihr Inhalt ist keine allgemeine oder personale sittliche Weisung (sie hat nicht die Form des „Ich will“ oder „Du sollst!“ bzw. „Du sollst nicht!“) und ihr Inhalt ist auch keine Wahrheit (kein „So ist es“). Offenbarung ist (nichts als) Liebe (sie hat die Form eines bloßen „Du sollst sein“) und als solche ist sie Befreiungsgeschehen: sie gibt keine Bestimmung vor, sondern setzt von jeder Bestimmtheit frei. Das, dass Offenbarung (nichts als) Befreiung durch Liebe ist, ist der zweite Grund für die Unhintergehbarkeit der Autonomie im Offenbarungsgeschehen.

Zugleich, das impliziert das Verständnis von Offenbarung als Befreiungsgeschehen, ist Autonomie nicht autark. Denn sie bedarf der Befreiung (und deshalb der Offenbarung).

Wie ist das zu verstehen? Ansatzpunkt ist die Problematik, dass wir in unserer Freiheit gar nicht wirklich frei sind: Autonomie ist der Form nach Freiheit zur Selbstführung. Autonomie, auto nomos, heißt wörtlich: ich gebe mir selbst Gesetze, ich bestimme mich selbst. Diese Selbstbestimmung findet aber nicht im luftleeren Raum statt, sie erfolgt gemäß sozial definierter Gelingensstandards, die wir so verinnerlicht haben, dass sie uns zur zweiten Natur geworden sind. Die Unfreiheit, die dieser Form der Freiheit paradoxerweise innewohnt, ist dabei eine doppelte: Sie liegt einmal in der Form des Selbstverhältnisses, das wir im Vollzug autonomer Freiheit haben und weiter in der sozialen Bestimmtheit der Gelingensstandards, an denen wir uns darin orientieren.

Autonome Freiheit, das lernen wir paradigmatisch von Kant, besteht in der Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Ich bestimme mich selbst heißt, ich lasse mich durch nichts bestimmen als den eigenen Willen und die eigene Einsicht. Darin liegt die Freiheit der Autonomie. Diese Freiheit impliziert aber zugleich ein Selbstverhältnis, das herrschaftsförmig ist: Ich bestimme mich selbst heißt: ich mache mich zum Objekt meines Wollens, zum Instrument meiner Pläne. Darin liegt die Unfreiheit der Autonomie. Das hat Auswirkungen darauf, was diese Form der Freiheit kann: Durch die Freiheit der Selbstbestimmung kann ich umsetzen, was ich will und kann. Aber wenn ich durch nichts als mich selbst bestimmt bin, kann ich in meinen Urteilen und Handlungen auch nicht über das hinausgehen, was ich weiß und kann. Ich kann vorgefasste Pläne in die Tat umsetzen, ich kann ein Wissen anwenden, das ich schon habe. Aber ich kann nichts Neues erfinden, ich kann mein Können und Wissen nicht überschreiten. Denn das Überraschende und Neue, das mein Können und Planen Überschreitende ereignet sich, sein Auftreten hat immer etwas mit Kontrollverlust zu tun; es hat nicht den Charakter selbstbestimmter Handlung, sondern den der Widerfahrnis. Oder, wie Adorno sagt, den des Glückens. Kurz: Indem Freiheit nur als Autonomie verstanden wird, wird unser Selbstverhältnis auf Beherrschung und Gelingen und damit auf das Machbare reduziert.

Und, das ist die zweite Dimension der Unfreiheit der Autonomie: die Bestimmung, die ich meiner Freiheit selbst gebe, die Maßstäbe, an denen ich mich in meiner Selbstführung orientiere, sind sozial bestimmt. Das lernen wir paradigmatisch von Hegel. Das hat eine epistemische Komponente: Unsere grundlegenden Vorstellungen davon, was richtig und was gut ist, bilden wir nicht im luftleeren Raum schierer Objektivität und setzen sie auch nicht willkürlich gleichsam ex nihilo, sondern immer in einem sozialen Raum (den Sellars den Raum des Gebens und Nehmens von Gründen nennt, Foucault das Wahrheitsregime und Lacan den großen Anderen); diese Vorstellungen sind also immer vergesellschaftete Vorstellungen oder neutraler ausgedrückt: sie sind abhängig von dem epistemischen Kontext, in dem wir urteilen. Und die soziale Bestimmtheit unserer Gelingensvorstellungen hat eine psychologische Komponente: die Anpassung an (oder die Verinnerlichung von) sozialen Gelingensstandards erfolgt aus einem existenziellen Bedürfnis nach Anerkennung. Denn unsere soziale Identität ist das, was uns zu anerkennungswürdigen weil sozial verorteten und verständlichen Subjekten macht. Die soziale Bestimmung macht dabei, das lernen wir von Freuds Konzept des Über-Ich und Foucaults Konzept der Pastoralmacht, nicht halt vor unserem intimsten Selbstbezug im Gewissen, sondern geht, im Gegenteil, gerade auch davon aus. Unsere Freiheit zu autonomer Selbstbestimmung ist daher nicht wirklich frei, sondern „nur“ Freiheit zur Selbstführung gemäß sozial definierter Gelingensstandards. Oder: unsere Freiheit autonomer Selbstbestimmung ist eine Freiheit, die der Form nach im Machen und dem Inhalt nach in Gewohnheit befangen ist.

Diese Unfreiheit unserer Freiheit ist der Einsatzpunkt, von dem aus verständlich wird, was Offenbarung heißt: Offenbarung ist ein Ereignis, das aus dieser Befangenheit in Gewohnheit und Verfügung befreit (und dadurch die Erkenntnis und die Schaffung von etwas Neuem eröffnet). Prominente Beispiele für eine solche Befreiung liefern Antigone, Paulus oder auch Rosa Parks: Denn sie alle stehen für einen Ausbruch aus den sittlich-epistemischen Selbstverständlichkeiten ihrer Zeit; einen revolutionären Ausbruch, durch den sie sich nicht nur selbst von diesen Selbstverständlichkeiten befreit haben, sondern diese zugleich so fundamental irritiert haben, dass in der Folge eine neue epistemische oder sittliche Ordnung sich herausgebildet hat: Antigone verstößt gegen das Gesetz der Polis, weil sie gegen das Verbot Kreons ihren Bruder beerdigt und relativiert damit die Geltung des Gesetzes, indem sie ihm das göttliche Gesetz entgegenstellt. Und Rosa Parks weigert sich, sich an die rassistische Vorschrift zu halten, sich als Schwarze in einem gesonderten Bereich öffentlicher Verkehrsmittel aufhalten zu müssen. Ihre Verhaftung war ein Initialereignis der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Es gibt aber auch viel weniger spektakuläre Beispiele bzw. Erfahrungen von Befreiung, die weniger spektakuläre Konsequenzen gezeitigt haben: Etwa die Erfahrung, dass sich auf einmal, ohne genau angeben zu können, warum und woher, nach einer Zeit der sorgenvollen Befangenheit wieder eine innere Weite eröffnet, von der aus ich Dinge anders sehen und beurteilen kann und die mir den Mut gibt, anders zu handeln.

Die Frage ist nun: Wo kommt die Freiheit zu so einem produktiven Ausbruch aus den sittlichen und epistemischen Selbstverständlichkeiten, die unsere Identität als vermögende Subjekte bestimmt, her? Ist es Zufall? Oder exekutieren diese Menschen eine höhere, kosmische Logik des Fortschritts? Meine These ist, dass dem nicht so ist, sondern dass die Freiheit, die sich in diesen Taten zeigt (und nicht nur in solch bahnbrechenden, sondern auch in vielen kleinen und alltäglichen produktiven Ausbrüchen aus der Konformität) Resultat eines Befreiungsprozesses ist. Es ist eine Befreiung, die wir nicht selbst hergestellt haben und die auch nicht einfach so passiert ist, sondern die uns geschenkt wurde, die uns von jemandem geschenkt wurde. Und das, dass die Befreiung mir von jemandem geschenkt wurde, macht ihren Offenbarungscharakter aus. Denn dieser jemand, der uns befreit, ist christlich gedacht, Gott. Befreiung solchermaßen als Offenbarung zu denken bedeutet, sie als ein personales Geschehen der Selbstmitteilung Gottes an den Menschen zu denken. Darin spricht Gott dem Menschen ein „Du sollst sein!“ zu, indem er sich als unbedingte Liebe zeigt. Diese unbedingte Anerkennung befreit das Subjekt aus seiner Gebundenheit an das soziale Allgemeine (von dem es sich Anerkennung durch Anpassung verspricht). Offenbarung befreit dazu, die eigene Freiheit anders zu vollziehen als als Selbstführung gemäß sozial definierter Gelingensstandards. Offenbarung befreit dazu, Neues und Anderes zu denken und zu tun.

Kommt mit diesem Verständnis der Offenbarung als Befreiung nicht doch wieder die antimoderne Herrschaftsförmigkeit christlichen Glaubens durchs Hintertürchen? Muss man der Autonomie nicht die Fähigkeit zusprechen, nur aus sich selbst heraus, ohne das Zutun einer externen Instanz, im Vollsinn frei zu sein? Ich glaube, nein.

Und zwar deshalb nicht, weil Offenbarung, so wie ich sie verstehe, der autonomen Freiheit nichts vorgibt, das diese dann gehorsam schlucken müsste. Offenbarung gibt nichts vor, weil Offenbarung nicht(s) gibt. Im Geschehen der Offenbarung geht es nicht um eine gehaltliche Bestimmung irgendeiner Art. Offenbarung ist „nur“ Befreiung. Alles, was diese Befreiung an Einsichten, Urteilen und Taten freisetzt, geht auf das Konto des befreiten Subjekts (nicht auf das Konto Gottes!). Nehmen wir wieder das Beispiel Rosa Parks, die sich geweigert hat, die im damaligen Amerika selbstverständlichen rassistischen Diskriminierungspraktiken zu befolgen. Wenn man die Tat von Rosa Parks auf ein Offenbarungsereignis zurückführt (was sie, nebenbei bemerkt, selbst nicht getan hat), dann hätte dieses nicht die Gestalt, dass sie eine religiöse Erfahrung macht, in der Gott ihr mitteilt: „Alle Menschen sind gleich. Handle danach!“ – und das setzt sie dann brav um. Sondern sie hätte die Gestalt, dass Rosa Parks eine Erfahrung macht, die sie befreit dazu, sich selbst und die Welt anders zu sehen und dadurch anders zu handeln. Eine solche Befreiung wird vor dem Hintergrund des christlichen Offenbarungsverständnisses als Erfahrung befreiender Liebe gedacht. Kraft dieser Erfahrung entscheidet Rosa Parks selbst, das heißt im Vollzug ihrer Autonomie, dass sie sich nicht mehr von diskriminierenden Vorschriften unterdrücken lassen will. Wenn man jetzt Rosa Parks (oder andere, die in der Folge gegen rassistische Diskriminierung gekämpft haben) fragt: warum war dein/euer Widerstand richtig?, dann kann die Antwort nicht sein: weil Rosa Parks ein Offenbarungserlebnis hatte, sondern: weil rassistische Diskriminierung falsch ist. Die Offenbarung hatte dabei nicht die Funktion, diese Einsicht inhaltlich bestimmt vorzugeben, sondern sie hatte „nur“ die Funktion, Rosa Parks (und in der Folge viele andere) dazu zu befreien, sich von den rassistischen Selbstverständlichkeiten, die ihr zweitnatürliches Selbst- und Weltverhältnis prägten, zu distanzieren und dann kraft dieser Befreiung aus eigener Einsicht anders zu handeln. Eine so verstandene Offenbarung kann nicht herrschaftsförmig sein, weil sie nichts inhaltlich vorgibt, sondern nur ein „Du sollst sein“, nur freisetzende Liebe ist und alles, was dann kommt geht auf das Konto des Menschen, der seine befreite (weil geliebte) Freiheit realisiert.

Damit setzt Offenbarung einen starken Begriff der Autonomie voraus. Denn sie mutet dem Menschen und seiner Freiheit viel zu: Wir sind in unseren theoretischen und praktischen Urteilen und den daraus folgenden Handlungen auf uns selbst verwiesen; es gibt keine transzendente Instanz, die uns das Urteilen und Handeln abnimmt. Und zugleich ist mit dem eben skizzierten Begriff von Offenbarung eine Kritik der Autonomie, eine Kritik an einem hypertrophen Verständnis von Autonomie, verbunden. Denn es impliziert, dass Freiheit der Befreiung bedarf. Sie ist nicht autark, sondern ist auf Offenbarung, auf Gott verwiesen, um wirklich frei sein zu können. Sie ist auf etwas Entgegenkommendes verwiesen, um über sich und das ihr Mögliche wie das sozial Vorgegebene hinaus zu wachsen. Dieses Entgegenkommende, das Freiheit zu ihrer Fülle befreit, verstehe ich als Offenbarung: als ein Beziehungsgeschehen, das sich zwischen Gott und Mensch abspielt und „nur“ darin besteht, dass Gott uns ein unbedingtes „Du sollst sein!“ zuspricht und damit frei macht, frei zu sein.

Offenbarung solchermaßen als Freiheits- und nicht als Erkenntnisgeschehen zu verstehen hat, das sei abschließend noch gesagt, auch ontologische Konsequenzen. Wenn Offenbarung heißt, das schöpfende „Ja“ Gottes zu allem Seienden zu erinnern, dann ist die erste ontologische Frage des Christentums nicht die nach den ersten oder letzten Prinzipien und Gesetzen der Wirklichkeit; das Christentum vertritt keine Metaphysik und keine Kosmologie. Die Frage, auf die das Christentum mit seiner Schöpfungs- und Offenbarungslehre eine Antwort gibt, ist die Frage nach dem Wert der Wirklichkeit. Es geht nicht um ein feststellendes Begreifen im Modus des „so ist es“, in dem Freiheit auf „Einsicht in die Notwendigkeit“ reduziert ist, sondern um ein liebendes Freisetzen, durch das entstehen kann, was noch nicht ist.

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