Die Botschaft vom Kreuz – „den Heiden eine Torheit“?
Das Christentum ist eine Bildungsreligion. Von Anfang an verband der Bezug auf Bildung das Christentum mit seiner Umwelt, unterschied es aber auch von ihr. Denn der christliche Glaube war auf das Kreuz ausgerichtet – „den Juden ein Ärgernis, den Heiden eine Torheit“ (1 Kor 1,23). Und dennoch entwickelte sich der neue Glaube in rasanter Geschwindigkeit zu einer Philosophie sui generis. Ob man an (einen) Gott glauben müsse, was man von ihm wissen könne und wie das Verhältnis von Glauben und Wissen zu denken sei, wurde intensiv diskutiert. Das Christentum trat in eine wissbegierige, bildungshungrige und denkbegeisterte Welt ein. Die Frage ist daher nicht, ob, sondern in welcher Weise man vom frühen Christentum als einer Bildungsreligion sprechen kann.
Was aber ist „Bildung“ in diesem Kontext? Der moderne Bildungsbegriff ist am Individuum orientiert; er verdankt sich der biblischen Vorstellung der Erschaffung des Menschen zum Ebenbild Gottes (Gen 1,27). Diese aber ist – und war schon in der Antike – mit philosophischen Kategorien kompatibel. Platon postulierte eine „Angleichung an Gott (homoiōsis theō)“, die ein asketisches Leben voraussetzte, damit man „gerecht und fromm mit Einsicht“ würde (Theaetetus 176ab). Die Maxime am Apollontempel in Delphi „Erkenne dich selbst“ wurde in der Kaiserzeit als Aufruf zur Selbsterkenntnis im Gegenüber zum Göttlichen und als Beziehungserkenntnis verstanden (Plutarch, De E apud Delphos 21), was ein geschichtliches, religiös reflektiertes Selbst implizierte. Jedoch war Bildung in der Antike immer in soziale Praktiken eingebunden. Sie diente dazu, sich in ein Spektrum von Rollenangeboten einzuleben, dessen Verfügbarkeit durch Herkunft, Stand, Geschlecht und Finanzkraft vorgegeben wurde. Bildung führte so zu einem komplexen Ineinander von sozialen und individuellen Momenten personaler Identität.
Das macht ein Blick auf die Terminologie deutlich. Der griechische Begriff paideia bezeichnet Unterschiedliches:
- die (direktive und affirmative) Erziehung;
- in der Septuaginta und im Neuen Testament auch die „Züchtigung“;
- darüber hinaus literarische Bildung, durch die man ein pepaideumenos, ein zu kunstfertiger Rede Befähigter, wurde;
- die „abgerundete Bildung“ (enkyklios paideia) als Inbegriff der für gesellschaftliches Handeln relevanten Wissensbeständen.
Das hatte auch anthropologische Bedeutung: Nach Cicero führte der Bildungsprozess letztlich zu wahrem Mensch-Sein (humanitas). Solche Bildung war das Privileg der kleinen Elite, die ihren Kindern Unterricht ermöglichen konnte; die Masse der Bevölkerung war ungebildet.
Das Neue Testament spricht nur selten von paideia und nur einmal – kritisch (Kol 2,8) – von philosophia. Theoretische Konzepte von Bildung standen hier weniger im Fokus als Prozesse des Lehrens und Lernens: Die häufigste Bezeichnung für Jesus ist „Lehrer“, die für seine Gefährten „Schüler“; diese sollten alle Völker „in den Stand versetzen, selbst Jünger zu werden“, sie taufen und dann erneut belehren (Mt 28,19f). Es ging also nicht um ein Überstülpen der christlichen Botschaft, sondern um deren gewinnende Vermittlung an Menschen, die sie mit Autoritäts- und Vernunftgründen als wahr anerkennen und sich taufen lassen, philosophisch gesprochen: eine informierte Entscheidung (prohairesis) treffen sollten.
Damit wurde jedoch die Funktion von Bildung als Marker sozialer Distinktion unterlaufen. Allen Menschen wurde zugetraut, die Wahrheit des Glaubens zu erkennen, sich für die Taufe zu entscheiden und das christliche Ethos praktisch umzusetzen. Bildung wurde also nicht von hergebrachten sozialen Strukturen, sondern von Gott her definiert – denn „die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind… Was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist“ (1 Kor 1,25–27). Solche Bibelstellen zogen Kritik auf sich. Der Platoniker Celsus (um 177 n. Chr.) ätzte, bei den Christen gebe man seinen Verstand an der Garderobe ab:
„Folgendes wird von ihnen verlangt: ‚Kein Gebildeter trete heran, kein Weiser, kein Verständiger. Denn solche Eigenschaften sind in unseren Augen ein Übel. Wenn aber einer unwissend ist, wenn einer unvernünftig ist, wenn einer ungebildet ist, wenn einer einfältig ist, soll er ruhig kommen‘“ (Celsus bei Origenes, Contra Celsum 3,44; Übers. C. Barthold).
Und auch manche christliche Theologen verstanden Paulus so, als sei das Wort vom Kreuz ein gewaltiges Paradox. Der Nordafrikaner Tertullian († nach 215) erklärte:
„Der Sohn Gottes wurde gekreuzigt – ich schäme mich nicht dafür, eben weil man sich dafür schämen müsste. Der Sohn Gottes ist auch verstorben – dies ist glaubwürdig, eben weil es ungehörig ist. Er wurde auch begraben und ist hernach auferstanden – dies ist gewiss, eben weil es unmöglich ist“ (De carne Christi 5,4 ; Übers. V. Lukas).
Wie ist eine solche Bildungsskepsis mit der Behauptung vereinbar, das Christentum sei von Anfang an eine Bildungsreligion gewesen? Das will ich im Folgenden erläutern.
Wie man sich in einer Welt voller Bildung zurechtfindet
Die ersten Christusanhänger begriffen sich nicht einfach als Teil ihrer Welt. Sie waren „nicht von der Welt“ (Joh 17,16) und fühlten sich als „Gäste und Fremdlinge“ (Eph 2,19; Hebr 11,13). War das Christentum ein „weltfremder Glaube“? Eher war es eine hybride Existenz:
„(Die Christen) bewohnen das eigene Vaterland, aber wie Beisassen. Sie nehmen an allem teil wie Bürger, und alles ertragen sie wie Fremde. Jede Fremde ist ihr Vaterland und jedes Vaterland eine Fremde“ (Epistula ad Diogetum. 5,5; Übers. H. Lona).
Das lag nicht am Verhalten im Alltag: Christen lebten und arbeiteten in den Städten des Imperium Romanum mit Nichtchristen Tür an Tür. Das Problem waren die Festtage: Sie beteiligten sich nicht an den Kulten für die Götter und für den Schutzgott des Kaisers, der als Mittler des göttlichen Friedens galt, als soter („Heiland“). Hier war Konkurrenz zum Gott der Bibel vorprogrammiert! Wo diese Kultabstinenz auffiel, wurde es für die Christen gefährlich. Entsprechend bemühten sie sich, Verfolgungen abzuwenden, indem sie ihre Religion als politisch zuverlässig, moralisch hochstehend und philosophisch satisfaktionsfähig darstellten. Das Projekt der intellektuellen Verteidigung des Christentums („Apologetik“) sollte nicht zuletzt zeigen, dass der christliche Glaube dem Platonismus oder der Stoa gleichwertig war.
Eines der eindrücklichsten Zeugnisse der frühen Apologetik ist interessanterweise der Dialog eines Christen mit einem Juden. Im Dialog mit dem Juden Tryphon gab der Christ Justin einen knappen Abriss seines Bildungsganges. Er hatte sich bei Stoikern, Peripatetikern, Pythagoreern und Platonikern umgetan, wobei vor allem letztere ihn dem Ziel nähergebracht hätten, „unmittelbar Gott zu schauen“ (Dialogus 2,6). Doch auch der Platonismus war nicht das Ziel der Reise: Ein alter Mann verwies ihn auf Propheten, die älter als die Philosophen seien und nicht durch Argumente, sondern durch das Eintreffen ihrer Prophezeiungen die Wahrheit ihrer Lehre erwiesen hätten. Ihr Lehrer sei niemand anderes als Jesus Christus. Justin war elektrisiert:
„In meiner Seele fing es an zu brennen, und es erfasste mich die Liebe zu den Propheten und jenen Männern, die Freunde Christi sind. Ich sprach mit mir selbst über seine [sc. des Alten] Lehren und befand allein diese als verlässliche und nutzbringende Philosophie“ (Dialogus 8,1; Übers. Ph. Haeuser).
Der Suchende ist am Ziel, wo ihn nicht nur die intellektuelle Plausibilität einer Lehre, sondern die Authentizität ihrer Vertreter packt. Erst jetzt ist Justin, was er immer werden wollte – ein Philosoph geworden. Dass ihn Tryphon, ein hellenistisch gebildeter Jude, dafür belächelt, sich den Christen und ihrem merkwürdigen Heilsbringer angeschlossen zu haben, ficht ihn nicht an: Justin hoffte, auch Tryphon würde erkennen, „dass auf dem bezeichneten Weg jedem Menschen es ermöglicht werde, gut zu leben“ (Dialogus 142,3).
Für Justin war philosophisches Wissen also das Mittel der Wahl, um zu zeigen, dass das Christentum in der antiken Welt seinen Platz hatte. Christen glaubten und lebten vernunftgemäß, handelten danach und waren sich dessen bewusst. Anders gesagt: Das religiöse Selbst verhält sich reflexiv zu seinem jetzigen Zustand (unter zeitlichen Bedingungen), zu Gott (als dem Ursprung seiner überzeitlichen Bestimmung) und zu dem Konnex von Vorfindlichkeit und Bestimmtheit, seiner Biographie. Solche Reflexivität ist das Ergebnis von Bildungsprozessen.
Aber dorthin musste man erst kommen, wie der oben erwähnte Tertullian feststellte: „Wir sind aus eurer Mitte – man wird nicht als Christ geboren, man wird zum Christen“ (Apologeticum 18,4). Kein Wunder: Die junge Religion bestand noch überwiegend aus Konvertiten! Das christliche Selbst ist nicht einfach gegeben, es hat jüdische, hellenistische, römische Wurzeln; wer diesen Weg gegangen ist, kann sich und anderen darüber Klarheit verschaffen. Tertullian plagiierte hier den Philosophen Seneca: „Niemand wird als Weiser geboren, sondern wird ein solcher“ (De ira 2,10,6). Das hat nicht primär mit Schulbildung zu tun, sondern mit paideia als Formgebung der ganzen menschlichen Existenz, als Hinführung zur Liebhaberei der Weisheit, zur philosophia – und damit, wie bei Justin, zur wahrhaftigen und ursprünglichen Bildung.
Dann aber konnte das Christentum nichts anderes werden als eine Bildungsreligion. Den Höhepunkt markiert der in Alexandrien und später in Caesarea in Palästina lehrende Origenes († 253). Origenes meinte, die „Heiligen“ – d. h. die Glaubenden – weilten nach dem Tod im Paradies „als einer Stätte der Erziehung und einem Hörsaal, einer Schule der Seelen“ (De principiis 2,11,6). Nicht einmal der Tod bedeutete also einen Abbruch des Bildungsprozesses! Ziel der Unterweisung war seinem Schüler Gregor Thaumaturgus zufolge die „Erkenntnis des letzten Grundes von allem“, wobei der Lehrer als „Künder der Lehren des Logos an die Menschen“ fungierte, dem der Logos die Botschaften Gottes anvertraut hatte, wie einst den Propheten des Alten Bundes (Panegyricus in Origenem 13,150; 15,181; Übers. P. Guyot). Solche von Gott inspirierte Bildung schließt aber das Curriculum aus Dialektik, Physik und Ethik ein, um die Welt vernunftgemäß zu erkennen und zu „vernunftbestimmtem Staunen“ durchzudringen. Die Anlage, vernunftgeleitet zu leben, hatte nach Origenes jeder Mensch als Bild des göttlichen Logos. Vernünftiges Denken und frommes Leben wollen allerdings gelernt sein, nicht durch Imitieren des Lehrers oder Für-Wahr-Halten aufgeschnappter Erkenntnisse: Origenes kritisierte jegliche Autoritätsgläubigkeit heftig!
Bildung leistete zur Formung des religiösen Selbst und zur Gemeinschaft der an Christus Glaubenden einen wichtigen Beitrag. Christen versuchten, sich in ihrer Welt zu verorten und zugleich von dieser zu unterscheiden, und griffen auf dieselben Quellen der Bildung zurück wie ihre Zeitgenossen; deshalb musste dieser Zugriff legitimiert bzw. – von seinen Kritikern wie Celsus – delegitimiert werden. Ob und in welchem Maße Christen schulisch und philosophisch gebildet sein sollten oder müssten, blieb in den folgenden Jahrhunderten eine (Über-)Lebensfrage – und führte auch zu inneren Kontroversen über Nutzen und Nachteil solcher Bildung.
Gefährliches Wissen und rettender Glaube?
Mit der Philosophie war es weder im apologetischen noch im binnenchristlichen Diskurs einfach. Plastisch stellt das Problem der schon erwähnte Tertullian vor Augen:
„Was haben Athen und Jerusalem gemeinsam, was die Akademie und die Kirche, was Häretiker und Christen? Unsere Unterweisung stammt aus der ‚Halle Salomos‘ (Joh 10,23), der dazu in eigener Person gelehrt hatte, man müsse den Herrn ‚in der Einfalt des Herzens‘ (Sap 1,1) suchen. Sollen die für sich zusehen, die ein stoisches, ein platonisches, ein ‚dialektisches‘ Christentum hervorgebracht haben!“ (De praescriptione haereticorum 7,9–11; Übers. D. Schleyer).
Tertullian konstruierte also eine starke Antithese zu „Jerusalem“, dem biblischen Ort des Wohnens Gottes bei seinem Volk, und zur Kirche als dem Ort, wo die Botschaft von Jesus Christus von den Aposteln überliefert und von den Bischöfen bewahrt wurde – und nur da! Mit dieser Bildungsskepsis ernst zu machen hätte bedeutet, sich aus dem philosophischen Diskurs und aus dem öffentlichen Schulunterricht zu verabschieden. Und genau dies forderte Tertullian, erschien ihm doch das Lehrerdasein für Christen höchst gefährlich:
„Zweifellos stehen die Lehrer mit vielerart Götzendienst in Verbindung: Sie müssen die heidnischen Götter verkünden, ihre Namen und die Abstammung nennen, deren Mythen und Ehrenattribute erklären, schließlich müssen sie deren Feste und Feiertage beachten, an denen sie ja ihren Lohn erhalten“ (De Idololatria 10,1; Übers. K. Vössing).
Die Diagnose ist klar: Die Schultexte sind nicht religiös harmlos, weil sie auf jeder Seite von Göttern erzählen, und zwar von den falschen! Ein Lehrer kann sich aber nicht beständig von dem distanzieren, was er zu unterrichten hat – das ist weder pädagogisch noch theologisch sinnvoll. Allerdings widersprachen Tertullian die Eltern christlicher Schüler in Karthago:
„Wenn es den Dienern Gottes nicht erlaubt ist, Lesen und Schreiben zu lehren, ist es ihnen auch nicht erlaubt, dies zu erlernen; und wie könnte jemand ohne dies angeleitet werden zu menschlicher Einsicht oder zu irgendeiner Erkenntnis oder Tätigkeit, da doch Lesen und Schreiben für das ganze Leben eine wichtige Hilfe ist? Wie können wir die weltlichen Studien zurückweisen, ohne die die religiösen nicht bestehen können?“ (De Idololatria 10,4).
Bildung war im Alltag unverzichtbar: Ohne diese Kompetenzen und Kenntnisse hätte man sich in eine selbstgewählte Ghettoisierung begeben – niemand konnte in Verwaltung und Militär Karriere machen, der nicht wie Cicero oder Demosthenes zu reden schien, und niemand durfte sich zu den oberen Zehntausend einer Stadt rechnen, der nicht Zitate aus der Ilias oder Odyssee dechiffrieren konnte. Grammatik- und Rhetoriklehrer meinten auch gar nicht, etwas Religiöses zu unterrichten: Sie sorgten für kompetente Performanz, egal wer welchen Göttern huldigte. Tertullians Position erscheint dagegen fast als „konfessionsgebundener Religionsunterricht“. Zwar könne man die Kinder seinethalben lernen lassen, doch wer „heidnische“ Texte lehre, „empfiehlt dabei ohne Zweifel die eingestreuten Preisungen der Götter… und nun untersuche noch lange, ob Götzendienst treibt, wer über die Götzen unterrichtet!“ (De Idololatria 10,6).
Trotz solcher Mahnungen gab es jedoch unter den Schülern und Lehrern in der Spätantike zahlreiche Christen. Der bildungskritische Diskurs spiegelte die soziale Realität nicht oder nur partiell. Hätten nicht praktisch alle Theologen, die Traktate, Predigten und Auslegungen der Bibel schrieben, klassische Bildung erworben, hätte das Christentum kaum erfolgreich in der Öffentlichkeit agieren können, nachdem die Verfolgungen im frühen 4. Jahrhundert geendet hatten! Dennoch darf man die Bildungsskepsis nicht als Spiegelfechterei weniger Intellektueller abtun. Es ging in allem Ernst darum, wodurch und wie sehr man dazugehören wollte, wie man in die Lebenswelt verwickelt war und wo Potenziale lagen, um Unterscheidungen zu markieren.
Um die gefährliche Bildung zu domestizieren und doch von ihr zu profitieren, entwickelte man das Konzept des „rechten Gebrauchs“ (usus iustus). Dies suggerierte eine Distanznahme zu dem, was man für den Gebrauch auswählte, aber auch dessen beherzte Inanspruchnahme. Augustin erklärte dies anhand des Gold und Silbers, das die Israeliten beim Auszug aus Ägypten mitgenommen – unverblümt gesagt: gestohlen! – hatten (Ex 3,21f.; 12,35f.):
„Wenn diejenigen, die Philosophen genannt werden, zufällig etwas Wahres und zu unserem Glauben Passendes gesagt haben, wie besonders die Platoniker, dann darf dies nicht nur nicht gefürchtet, sondern muß sogar von diesen wie von unrechten Besitzern für unseren Gebrauch eingefordert werden. Ebenso hatten nämlich die Ägypter nicht nur Götzenbilder und schwere Lasten, welche das Volk Israel verabscheute und floh, sondern auch Gefäße und Kostbarkeiten von Gold und Silber sowie Kleider, welche jenes Volk bei seinem Auszug aus Ägypten gleichsam für einen besseren Nutzen heimlich für sich beansprucht hat, nicht durch eigene Autorität, sondern nach dem Auftrag Gottes, während die Ägypter selbst ihnen in ihrer Unwissenheit dies überließen, was sie selbst nicht gut gebrauchten“ (De doctrina christiana 2,40,60; Übers. K. Pollmann).
Bildung zu nutzen wurde hier ausdrücklich durch einen Befehl Gottes legitimiert – das zeigt, wie unverzichtbar nichtchristliches Wissen für eine Bildungsreligion in statu nascendi war. Dazu zugleich eine kritische Distanz zu wahren, war de facto eine hohe Reflexionsleistung. Umso größer war der Schock, als Kaiser Julian, der letzte „Heide“ als Alleinherrscher über das Imperium Romanum, im Jahr 362 christliche Lehrer aus den öffentlichen Schulen verbannte, da diese nicht die in den Schultexten auftretenden Götter verehrten – „dann sollen sie doch in die Kirchen der Galiläer gehen, um den Matthäus und Lukas auszulegen!“ (Epistula 61c; Übers. B.K. Weis). Genau das wollten die Christen ja nicht! Julian, der quasi spiegelbildlich Tertullians These von der Unvereinbarkeit des christlichen Glaubens mit „heidnischer“ Literatur aufnahm, erfuhr scharfe Kritik seitens christlicher Theologen (obwohl sein früher Tod das Edikt ohnehin hatte Makulatur werden lassen). Der kappadokische Theologe Gregor von Nazianz († ca. 390) brachte dies prägnant zum Ausdruck: „Obwohl die Literatur allen vernünftigen Wesen gemeinsam ist, missgönnte sie Julian, als sei sie sein persönliches Eigentum, den Christen. Er, der sich einbildete, der allervernünftigste zu sein, dachte am unvernünftigsten über die Literatur“ (Oratio 4,4; Übers. M. Fiedrowicz).
Auf dem Weg zu einer „christlichen“ Bildung
Es waren also nicht nur externe Kritiker, die dem Christentum den Status einer Bildungsreligion bestritten – es gab auch intern genug skeptische Stimmen. Müssen wir für die Zeit der Kirchenväter am Ende doch sagen, das Christentum sei keine Bildungsreligion? Mitnichten: Jenseits der Skepsis wurden vielfältige Formen von Bildungshandeln kultiviert. Schon seit den Anfängen gab es Institutionen religiöser Bildung, um Menschen auf die Taufe vorzubereiten und danach zum christlichen Leben anzuleiten. Drei Formen des Christentums als praktisch handelnder Bildungsreligion seien skizziert: der Katechumenat, die Predigt und das Mönchtum.
Der Katechumenat
Dass man schon für das frühe Christentum von „Bildung“ sprechen sollte, kommt darin zum Ausdruck, dass bei der Taufe jeder Mensch, gleich welchen Alters, Geschlechts oder sozialen Standes, zum individuellen Bekenntnis herausgefordert war. Auf die Tauffragen galt es dreimal zu antworten: „Ich glaube!“ Und was man glaubte, sollte verstanden worden sein. Man brauchte nicht Theologe zu sein, um getauft zu werden, musste aber den Ernst der Lage eingesehen haben. Es gab genau eine Chance, die Taufe zu empfangen; für diese musste man sich geistig und lebenspraktisch reinigen. „Denke ans Lernen, um nicht ans Sündigen zu denken“, mahnte Kyrill von Jerusalem († 387) die Taufbewerber (Procatechesis 16). Christin und Christ zu werden bedeutete, Erfahrungen zu machen, d. h. zunächst kognitiv zu lernen (das Glaubensbekenntnis), dann etwas zu empfangen (Taufe und Eucharistie). Das Ziel war, im Glauben und Tun „soweit als möglich den Geheimnissen würdig zu werden“, wie Theodor von Mopsuestia († 428) es formulierte (Catecheses 16,31; Übers. P. Bruns). Der Anspruch an die individuelle Mitarbeit beim Einleben in den Glauben brachte der oben zitierte Kyrill glasklar zum Ausdruck:
„Denk dir, der katechetische Unterricht ist ein Gebäude! Wenn wir nicht tief gegraben und einen Grund gelegt haben, wenn wir nicht planmäßig ein wohlgefügtes Gebäude errichtet haben, damit sich keine Risse zeigen und der Bau nicht Schaden leide, dann ist auch die anfängliche Mühe wertlos… Viele Lehren sind es, welche planmäßig vorgetragen werden… Wenn du nicht die Lehren zu einem Ganzen zusammenfügst und die früheren zugleich mit den späteren im Gedächtnis behältst, dann wird dein Bau Risse zeigen trotz der Arbeit des Baumeisters“ (Procatechesis 11; Übers. Ph. Haeuser).
Die angehenden Christen mussten also nicht alleine arbeiten, sondern wurden begleitet – vom Bischof oder Katecheten, aber auch von Gott selbst: Denn neben dem „dogmatischen“ Glauben, der in der vorösterlichen Fastenzeit in einem Crashkurs vermittelt wurde, empfing man den Glauben als „Gnadengeschenk“ (Catecheses 5,10f.). Das Lernen des Glaubens wird durch eine geistliche Gabe vervollkommnet; insofern ist Gott selbst der Baumeister dieses Glaubens. Für Kyrill war Religion demnach zum Teil lehrbar – und zum Teil gottgegeben.
Die Grundstruktur des Missionsbefehls Jesu blieb für die Katechese maßgeblich: Die Taufe wurde von Belehrung eingerahmt. Das galt für die Erwachsenentaufe in einer Zeit, in der sich die Heiden „mit der Schnelligkeit eines rollenden Rades“ bekehrten, so Bischof Gaudentius von Brescia (Sermo 8,25). Im 5. Jahrhundert setzte sich allmählich die Kindertaufe durch; religiöse Erziehung wurde zuerst Sache der Familie (was sie in der Antike immer schon gewesen war). Umso dringlicher stellte sich das Problem der katechetischen Nacharbeit, als in Gallien und anderen Regionen mitunter Massentaufen von „Barbaren“ stattfanden – die Christianisierung der Christen wurde zur neuen Herausforderung für kirchliches Bildungshandeln.
Die Predigt
Die Katechese war eingebettet in sonn- und festtägliche Gottesdienste, in denen regelmäßig gepredigt wurde. Die Attraktivität des Christentums für gebildete Großstädter lag gerade an solchen Predigten. Augustin gestand, er habe in Mailand Bischof Ambrosius zuerst ob seiner Redegabe geschätzt, erst danach als „Lehrer der Wahrheit“ (Confessiones 5,23). Als er selbst Christ und sogar Bischof geworden war, schwenkte Augustin um: „Es ist besser, wir blamieren uns vor den Sprachgelehrten, als dass uns die Gläubigen nicht verstehen“ (Enarrationes in Psalmos 138,20). Seine eigenen Predigten sind ein Beispiel dafür, dass Augustin tatsächlich versuchte, in (vergleichsweise) einfacher Sprache zu den Gläubigen zu sprechen. Das stellte in sozial gemischten Gemeinden eine besondere Herausforderung für die Prediger dar. Bischof Petrus von Ravenna, in der Tradition „Chrysologus“ („Goldwort“) genannt, wollte ausdrücklich zu allen Gemeindegliedern reden, auch zu den Unwissenden und Ungebildeten – und dem sollten die Gebildeten sich fügen:
„Volkstümlich ist zum Volk zu reden; die Gemeinde ist in der gemeinsamen Sprache anzureden; das Nötige ist allen in der Weise aller zu sagen; den Naturverhafteten in wertschätzender Sprache mit einfachen, den Gelehrten mit liebreizenden [Worten]: Denn wer spricht, lehrt alle etwas Nützliches. Also mögen die Sprachgewandten ihm heute die ungeschliffene Sprache zugestehen“ (Sermo 43,1).
Nicht durch Redekunst zu beeindrucken, sie aber behutsam zu nutzen, damit die Predigt ihre Wirkung zu entfalten vermochte, war das Gebot der Stunde. Die Prediger waren allerdings nicht die einzigen und schon gar nicht die wichtigsten Lehrer in der Gemeinde, vielmehr standen sie, wie Augustin erklärte, im Dienst eines Höheren: „Christus ist es, der lehrt. Seine Kathedra hat er im Himmel… Seine Schule ist auf Erden, und seine Schule ist sein Leib. Das Haupt lehrt seine Glieder“ (De disciplina christiana 15). Das relativierte die Rolle des Bischofs als Lehrer, der sich im Gegenüber zu Christus als Schüler und damit als gleichgestellt mit den Gemeindegliedern wiederfand, die er gewissermaßen nur vertretungsweise unterrichtete: „Obgleich wir von diesem Ort aus Lehrer sind, sind wir doch unter jenem Lehrer in dieser Schule gemeinsam mit euch Schüler“ (Enarrationes in Psalmos 126,3). Augustins Reflexionen zeigen, dass die Mitarbeit der Gläubigen auch über die Katechese hinaus gefordert war. In der Kirche als schola christiana wurde lebenslang und gemeinschaftlich der christliche Glaube gelernt. Dieses integrierte Bildungskonzept war ein Alleinstellungsmerkmal des Christentums in der Welt der Spätantike und eine wesentliche Komponente des Er-
folgs dieser religiösen Neugründung.
Das Mönchtum
Werfen wir schließlich noch einen Blick auf eine Gruppe kategorischer Bildungsverweigerer: auf das Mönchtum. Bildungsabstinenz als asketische Praxis findet sich schon in der Lebensbeschreibung des Ägypters Antonius († 356), die Athanasius von Alexandrien († 373) verfasste:
„Als Antonius heranwuchs, ein Junge wurde und im Alter voranschritt, weigerte er sich, Bildung zu erwerben (grammata mathein), denn er wollte sich vom Umgang mit anderen Kindern fernhalten. Sein ganzes Begehren richtete sich darauf, wie geschrieben steht, ‚unverbildet in seinem Hause zu weilen‘ (Gen 25,27 LXX)“ (Vita Antonii 1,2f.).
Allerdings besucht Antonius durchaus eine Schule, nämlich den Gottesdienst:
„Er hatte nämlich derart auf die Verlesung der Schrift acht, dass nichts von dem, was geschrieben steht, von ihm zu Boden fiel (1 Sam 3,19), vielmehr blieb ihm alles erhalten (Lk 8,15); und so wurde ihm das Gedächtnis zum Ersatz für Bücher“ (Vita Antonii 3,7).
Antonius galt als „Theodidakt“, als direkt von Gott Belehrter, wie es Paulus (1 Thess 4,9) den Christen angekündigt hatte (Vita Antonii 66,2), und damit als Nachfolger der Apostel Petrus und Johannes, die als „Ungebildete und Unkultivierte“ durch ihre überzeugende Rede Aufsehen erregt hatten (Apg 4,13). Die Apophthegmata Patrum, die „Sprüche der Wüstenväter“, und weitere monastische Texte variieren das Motiv der Abkehr von „weltlicher“ Bildung zugunsten einer Gottesnähe, die sich direkt und exklusiv aus der Bibel speiste. Hatte das kirchliche Christentum zwar Debatten über Bildung geführt, aber nur selten Konsequenzen daraus gezogen, so wurde im Mönchtum mit der Abkehr vom Götzendienst Ernst gemacht – wie es scheint.
Man muss freilich auch hier genauer hinschauen: So finden sich in monastischen Texten Lerntechniken, die aus der antiken Schule stammen; anders wäre das Memorieren großer Teile der Heiligen Schrift auch kaum möglich gewesen. Zudem entstand im Mönchtum ein Konzept von Bildung, das sich der Ähnlichkeit mit der Schule bewusst war, dennoch aber ein eigenes Gepräge beanspruchte. Paradigmatisch formulierte dies Johannes Cassian († ca. 435):
„Es gibt kein Wissen, das nicht seinen eigenen Lehrplan und seine eigene Methode hätte, wodurch diejenigen, die es beherrschen wollen, sich es aneignen können. Wenn also die ‚freien Künste‘, will man in ihnen vorankommen, durch sichere und je eigene Zielvorhaben ausgerichtet werden, um wieviel mehr liegt auch dem Unterricht in unserer Religion und ihrer Erklärung eine bestimmte Reihenfolge und Methode zugrunde!“ (Collationes patrum 14,1 ; Übers. G. Ziegler).
Eine genuin monastische Form von Bildung, die von methodischer Strenge geprägt sein sollte: Das war der Ansatz einer wahrhaft christlichen Bildung. Das Klostermönchtum forderte sogar, dass alle Mönche und auch alle Nonnen lesen können mussten, um die Heilige Schrift zu meditieren. In pachomianischen und benediktinischen Klöstern blieb das Niveau moderat, für das süditalienische Kloster Vivarium entwickelte Cassiodor allerdings das Konzept einer umfassenden geistlichen und weltlichen Bildung. Für ihn war die oft gescholtene Redegewandtheit die Stärke der großen Theologen früherer Zeiten, die mit ihrer geistlichen Schriftauslegung „gleich funkelnden Sternen den kirchlichen Himmel erstrahlen lassen“ (Institutiones divinarum et saecularium litterarum 1,17). Das führte in den folgenden Jahrhunderten zum Kloster als Bildungsinstitution. Aber dies ist eine Geschichte, die ein andermal erzählt werden muss.
Potenziale religiöser Bildung – über das spätantike Christentum hinaus
Wie verhalten sich also Glauben, Wissen und Denken im beginnenden Christentum? Klar ist, dass einfache Antworten nicht zu erwarten sind: In einer religiös pluralen und von Bildung erfüllten Welt fand das Christentum unterschiedliche Wege, um seine Identität zu formen. Das Christentum ist in diesem Sinne nicht nur eine Bildungsreligion, sondern hat eine Bildungsgeschichte – in der wir heute, nach vielen weiteren Wendungen, immer noch stehen.
Drei Gedanken zum Schluss. Zunächst: Christlicher Glaube ist wesentlich denkender Glaube. Augustin formulierte das mit einem Jesaja-Wort in grundsätzlicher Weise:
„Das Verstehen ist der Lohn des Glaubens. Darum suche nicht zu verstehen, damit du glaubst, sondern glaube, auf dass du verstehst; denn „wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht verstehen (Jes 7,9b)“ (In Ioannis evangelii tractatus 29,6).
Credo ut intelligam wird zum Kerngedanken abendländischer Theologie: Nicht mein Gottesdenken steht am Anfang religiöser Bildung, sondern der empfangene, unverfügbare Glaube.
Sodann: Die Selbstdistanzierung von Bildungsidealen und die Inanspruchnahme von Bildungsgütern gingen Hand in Hand. Das zeigt der Topos der „Fischerpredigt“ (sermo piscatorius):
„Christus erwählte nicht Könige oder Senatoren, nicht Philosophen oder Redner; tatsächlich erwählte er vielmehr einfaches Volk, Arme, Ungelehrte und Fischer… Wenn nicht im Glauben der Fischer vorangeht, kann der Redner nicht demütig folgen“ (Augustin, Sermo 197,2).
Diese Distanznahme ist ernst zu nehmen, aber metaphorisch zu verstehen: Es waren geübte Rhetoren, die dieses Bild erfanden, zitierten und weiterentwickelten. Nicht dem Ideal „heiliger Einfalt“ (sancta simplicitas), so Hieronymus (Epistula 57,12,4) verdankte das Christentum seinen Erfolg in der antiken Welt, sondern seiner Fähigkeit, mit deren Gütern und Gaben kreativ umzugehen und aus ihnen etwas Neues, Eigenes, Beständiges zu machen.
Schließlich: Bildungsaffinität und -skepsis bilden ein fruchtbares Spannungsfeld, das selbst Ausdruck von Bildung ist. Denn diese befähigt dazu, sich zu sich selbst, zu Gott und zur Welt kritisch zu verhalten. Es ist Bildung, die den Menschen zum Menschen macht und ihn sogar vom Tier unterscheidet – darin waren sich bisweilen sogar „heidnische“ Literaten und christliche Bischöfe einig. Wir mögen das heute weniger pathetisch formulieren. Aber das Erbe des Christentums als Bildungsreligion prägt auch noch uns.