Jüdische Sozialrevolutionäre und säkularer Messianismus

Eine etwas andere Geschichte des Antisemitismus

Im Rahmen der Veranstaltung "Jüdisches Leben in Deutschland heute", 28.06.2016

Nichts ist geblieben von der größten Propaganda-Ausstellung des Dritten Reiches. Was sollte auch bleiben? Gips, Papier, Sperrholz – viel mehr war nicht dahinter, als im November 1937 die angeblich „größte Ausstellung Europas“ eröffnete: Unter dem Titel „Der ewige Jude. Grosse politische Schau“ inszenierte das Münchner Deutsche Museum auf 3500 Quadratmetern und in 20 Sälen hetzerischen Antisemitismus in Objekten, gefälschten Statistiken, ins Monströse vergrößerten Fotos und angstmachenden Weltkarten. Ein begeisterter Goebbels reiste an, Schulklassen wurden zwangsverpflichtet, über 5000 Besucher*innen kamen jeden Tag. Die Ausstellung wanderte weiter nach Wien, Berlin, Bremen, Dresden und Magdeburg und wurde von über einer Million Menschen gesehen. Eine ähnliche Schau wurde im Herbst 1941 im besetzten Paris einem französischen Publikum vorgesetzt.

„So hat diese absolut objektive, fast leidenschaftslose Ausstellung den Zweck, jedem die Augen zu öffnen anhand unwiderlegbarer Dokumente“, lobte der Völkische Beobachter die Arbeit der Kuratoren und Wissenschaftler. Zu diesen objektiven Dokumenten zählten: Nasen, riesenhaft vergrößerte Nasen, Münder und Ohren, groteske Karnevalsobjekte in musealen Glasvitrinen. Dazwischen fanden sich, kleiner und fast schon unscheinbar, Gipsmasken deutscher Jüdinnen und Juden – in Konzentrationslagern angefertigte Lebendmasken, mit denen deportierte und gequälte Menschen in Ausstellungsobjekte transformiert wurden.

Die Tradition der Lebendmasken reicht zurück bis ins späte 19. Jahrhundert, als in der deutschen Kolonie Papua-Neuguinea Gipsmasken der indigenen Bevölkerung angefertigt wurden, die man später kolorierte und im Berliner Wachsfigurenkabinett ausstellte. Diese koloniale Technik, Gesichter in Objekte für die Wissenschaft zu verwandeln, wurde bald von der Fotographie abgelöst. Nicht zufällig holten Nazi-Kuratoren diese koloniale Praxis 1937 zurück ins Museum – es galt, aus Deutschen Fremde zu machen, aus bekannten Gesichtern „Unzivilisierte“, aus Vertrauten Feinde. Material und Technik sollten visualisieren, was die Propaganda täglich in ihren Slogans und Hetzreden wiederholte: dass es Deutsche gab, denen alles zustand, und solche, denen alles abgesprochen wurde – auch das Deutschsein und die damit verbundenen Rechte.

Die Weimarer Republik war zweifelsohne eine problematische, fehlerhafte und fragile Demokratie gewesen – aber sie war näher an einer offenen, vielfältigen Gesellschaft, als alles, was Deutschland bis dahin erlebt hatte. Weimar brachte Freiheiten und ein neues Selbstverständnis für Frauen, Jüdinnen und Juden und eine bis dahin weitgehend stumme Jugend. Dieses rasche und wilde Aufblühen gesellschaftlicher Diversität wurde 1933 mit allen Mitteln aus dem öffentlichen Leben entfernt, Museen und Bibliotheken wurden von ihr gesäubert, ihre Vertreter*innen unterdrückt und verfolgt. An Stelle der Vielfalt rückte eine imaginierte „Volksgemeinschaft“, weiß, homogen, nationalistisch, antisemitisch – eine Gesellschaft, die angeblich die Kontinuität deutscher Kultur und Tradition repräsentierte und dabei die Geschichte der modernen Migration ungeschrieben machen wollte.

Die meisten Jüdinnen und Juden, die 1933 zu Fremden und Feinden erklärt wurden, lebten seit Generationen in Deutschland. Um ihre Isolation, Beraubung und Verfolgung zu rechtfertigen, bediente man sich alter antisemitischer Feindbilder und vermischte sie mit (anti)modernen Verschwörungsmythen und pseudowissenschaftlicher Rassenforschung. Und so befand sich unter den Exponaten auch das Konterfeit des Idealtypus des jüdischen „Feindes“ von innen: nämlich eines „jüdischen Bolschewisten“ deutscher Herkunft. Der ehemalige Politiker Werner Scholem war in der Ausstellung zugegen, materialisiert in Form einer im KZ Dachau angefertigten Lebendmaske. Sein Gesicht war unverkennbar, die prominente Nase, die leicht abstehenden Ohren, die hohe Stirn – ein jüdischer Intellektueller, wie er jetzt in jedem Rassenkund-Lehrbuch zu finden war.

Bereits Mitte der 1920er Jahre war das Porträt des 1895 geborenen KPD-Politikers auf nationalsozialistischen Wahlplakaten aufgetaucht. Damals konnte er sich darüber amüsieren, doch jetzt wurden seine Gesichtszüge, seine Gestalt und sein Habitus zum Inbegriff des Feindes im eigenen Land, zum internationalistischen deutschen Juden. Anders als die meisten jüdischen Kommunisten änderte Werner Scholem nie seinen jüdisch klingenden Namen, und so verkörperte er den Stereotyp des jüdischen Revolutionärs in Deutschland.

Als Anhänger Trotzkis war Werner Scholem noch vor seinem dreißigsten Geburtstag aus der Führungsriege der kommunistischen Partei geflogen, die ab Mitte der Zwanzigerjahre zusehends unter den Einfluss Stalins geriet. Trotzdem gehörte der Sohn aus bürgerlich-jüdischem Berliner Haus zu den ersten, die 1933 inhaftiert wurden. Sein Bruder, der Religionswissenschaftler Gershom Scholem, hegte später den Verdacht, dass Werner Scholem auf einer persönlichen Liste seines politischen Gegners, Joseph Goebbels, gestanden habe.

Bereits 1924 hatte Goebbels den Politiker und Journalisten, der sich im Parlament ebenso wie in der Zeitung „Die Rote Fahne“ vehement gegen die Nazis positionierte, in seinem Tagebuch unter den großen Namen des internationalen Kommunismus genannt. Und Joseph Goebbels hatte seinen ehemaligen Kontrahenten nicht vergessen: Auf dem Reichsparteitag in Nürnberg im September 1935 erwähnte der „Reichspropagandaleiter“ Werner Scholem namentlich als prominenten Repräsentanten des Bolschewismus in Deutschland. Und der Bolschewismus war in Goebbels Augen eine diabolische und mörderische Ideologie, gefördert von einem internationalen Judentum.

Der Bolschewismus war mitnichten eine jüdische Ideologie. Doch überall in den Ländern Mittel- und Osteuropas, wo die Politik gegenüber Juden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als besonders ambivalent oder aggressiv galt, war die Gruppe der führenden jüdischen Sozialrevolutionäre überproportional groß im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil. Ihre Zahl begann aber immer dann abzunehmen, wenn Parteien etabliert waren und Regime fest im Sattel saßen: dann, wenn der revolutionäre Moment, in dem fast alles möglich schien, vorbei war, verschwanden Jüdinnen und Juden aus den Kadern der revolutionären Parteien.

Unter deutsch-jüdischen Zeitgenossen löste das Phänomen der vergleichsweise starken jüdischen Beteiligung an den russischen Revolutionen von 1905 und 1917 sowie im revolutionären Berlin und München der Jahre 1918 und 1919 vor allem eines aus: Unbehagen. Sie fürchteten, dass die prominente Rolle der jüdischen Revolutionäre überall im Land Antisemitismus auslösen und ihnen selbst schaden würde. Und tatsächlich wurde vonseiten der Rechtsparteien nicht nur die jüdische Mitwirkung an der Revolution hervorgehoben, sondern auch eine universelle Affinität zwischen jüdischen Intellektuellen und jeder Art von Radikalismus konstruiert.

So betonte die rechtspopulistische Presse die Präsenz von Juden in der Spartakusgruppe und der Münchner Räterepublik, wo sie nur konnte, und machte auch aus bekannten nichtjüdischen Revolutionären nachträglich Juden – allen voran Karl Liebknecht. Dieser war durch seine offene Ablehnung des Krieges im Sommer 1914 zum liebsten Staatsfeind avanciert; nachdem er sich im November 1918 als Führer des Spartakusaufstandes neuerlich offen gegen die Regierung wandte, wurde er zur zentralen Figur der Dolchstoßlegende. Wieder und wieder dementierte die Zeitung Im deutschen Reich, das Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Liebknechts angebliche jüdische Herkunft und bewies in Stammbäumen und Auszügen aus dem Geburtenregister seine gänzlich „arische Abstammung“.

Bereits im Dezember 1919 unternahm der Berliner Literaturhistoriker Rudolf Kayser, Schwiegersohn Albert Einsteins und späterer Chefredakteur der Neuen Rundschau, den Versuch, das Verhältnis zwischen Revolutionären und jüdischen Interessenvertretern und Gemeinden zu befrieden. Denn, so argumentierte Kayser, die Figur des modernen jüdischen Revolutionärs sei durchaus in der jüdischen Geschichte verankert und aus ihr zu erklären: „So maßlos er von antisemitischer Seite übertrieben, und so ängstlich er vom jüdischen Bürgertum verleugnet wird: der große jüdische Anteil an der heutigen revolutionären Bewegung steht fest; er ist immerhin so groß, daß kein Zufall, sondern eine innere Tendenz ihm gebieten muß; er ist Auswirkung des jüdischen Wesens in eine modern-politische Richtung.“

Kaysers Meinung nach waren die jüdischen Revolutionäre des 20. Jahrhunderts nichts anderes als Wiedergeburten der historischen Messias-Gestalten: Märtyrer und Propheten, die unbeirrt einem vorbestimmten Weg folgten, der notwendigerweise tragisch enden musste. Kaysers Interpretation darf aber nicht als Versuch verstanden werden, eine religiöse Kontinuität herzustellen. Wie viele seiner Zeitgenossen in den intellektuellen Berliner Kreisen, zog Kayser sein jüdisches Selbstverständnis nicht aus religiösen Inhalten, sondern aus einer spezifischen Vorstellung von jüdischer Kultur als einem Amalgam aus Geschichte, Literatur und Kunst. Jüdisches Denken stand in dieser Wahrnehmung für Unabhängigkeit und kulturelle Avantgarde.

Und die Darstellung von Revolutionären als Messias-Figuren war kein Versuch, ihnen einen religiösen Charakter zu verleihen, sondern im Gegenteil der Wunsch, der jüdischen Geschichte auch eine säkulare Tradition einzuschreiben. „Diese echten jüdischen Revolutionäre sind, trotzdem sie in innigster Gemeinschaft im Denken und Handeln mit ihren andersstämmigen Genossen verbunden sind, von ihnen sehr verschieden. Sie haben es zumeist in zwei Punkten schwerer: Es fehlt ihnen die natürliche Opposition der unterdrückten Klasse, des Proletariats – sie sind stets Intellektuelle – und zweitens jene weite nationale Unterstützung, die aus der Tatsache stammt, dass Führer und Gefolge von gleicher völkischer Herkunft sind. Das letztere wird mir vielleicht durch den Hinweis auf den internationalen Charakter des Sozialismus wie jeder modernen revolutionären Ideologie bestritten werden; dennoch ist es Tatsache, dass die russische wie die deutsche Revolution einen starken nationalen Einschlag haben.“

Auf diese beiden Punkte, so Kayser, gehe auch die unvermeidbare Einsamkeit der jüdischen Revolutionäre zurück: Wegen ihrer jüdischen Herkunft gehörten sie nur selten zu den orthodoxen Anhängern eines revolutionären Katechismus, sondern viel häufiger zu den Häretikern. Ihr Vorbild war deshalb kein anderer als der große Mystiker und falsche Messias Sabbatai Zwi, der die jüdische Welt des 17. Jahrhunderts in einen endzeitlichen Rausch versetzt hatte. Dessen Maßlosigkeit „in Hoffnung und Wirklichkeitsferne“ glaubte Kayser auch im politischen Utopismus der Berufsrevolutionäre unter seinen Zeitgenossen zu erkennen. In einer historischen Umkehrung schrieb Rudolf Kayser dem jüdischen Häretiker nachträglich den Charakter eines Sozialrevolutionärs zu und stellte ihn an den Beginn einer Linie von jüdischen Politikern – in einer Zeit, in der Juden vom politischen Leben ausgeschlossen waren, konnte Sabbatai Zwi notgedrungen nur in einem religiösen Raum agieren.

Kaysers Darstellung geriet etwas romantisierend und ahistorisch, doch Jahrzehnte später kam Gershom Scholem, als Biograf Sabbatai Zwis die Autorität auf diesem Gebiet, zu einem ganz ähnlichen Schluss. Für die 1973 erschienene englische Übersetzung seines großen Werkes über Sabbatai Zwi schrieb Scholem eine neue Einleitung, in der er bemerkte, nicht jener Schule anzugehören, die annimmt, „daß es ein wohldefiniertes und unveränderliches ‚Wesen‘ des Judentums“ gebe, besonders dort nicht, „wo historische Ereignisse zu bewerten sind“. Das Wesen des Judentums, so Scholem, könne ausschließlich im historischen Kontext und deshalb immer wieder aufs Neue identifiziert werden.

Damit legte er den Schwerpunkt jüdischer Erfahrung nicht auf den Kern der religiösen Tradition, sondern auf die Interaktion dieser Tradition mit der jüdischen und nichtjüdischen Welt ihrer Zeit. In dieser Sichtweise kam er – auf anderen Wegen als Kayser – zu einem ähnlichen Vergleich zwischen den Anhängern Sabbatai Zwis und den jüdischen Revolutionären des 20. Jahrhunderts: Für ihn lag die Verbindung in der Tragik des Schicksals beider Gruppen, die sich einer Utopie verschrieben und dafür einen hohen Preis bezahlt hatten. Scholems Post-Holocaust- und Post-Gulag-Perspektive auf die Geschichte der Revolutionäre ließ ihn die Ideologie, die auch ihn lange fasziniert hatte, als „säkularen Messianismus“ beschreiben. Und Messianismus im politischen Kontext könne nur desaströs enden, argumentierte Scholem – aber diese Warnung habe niemand hören wollen.

Obwohl Werner Scholem seit 1926 kein Mitglied der KPD mehr gewesen war und sogar der nationalsozialistische Volksgerichtshof ihn freisprach, blieb er seit 1933 in Haft; alle Versuche der Familie, der Quäker und anderer Organisationen scheiterten, ihn aus dem Gefängnis und später aus verschiedenen Konzentrationslagern zu befreien. Während einer der zahlreichen Schikanen, die ihm im Lager angetan wurden, erklärte er einem Mithäftling gegenüber: „Ich habe ja mit der Politik seit Ende der 20er Jahre abgeschlossen und werde nie wieder in sie zurückkehren! Aber das sage ich Dir, wenn ich es je täte, so würde ich ein Buch schreiben mit der Überschrift ‚In den Klauen der Nationalsozialisten und Stalinisten‘.“ Sieben Jahre lang war Werner Scholem in Haft, bis er im Sommer 1940 im KZ Buchenwald erschossen wurde.

Jüdische Kommunisten und Oppositionelle waren einerseits unter den ersten Opfern des Nationalsozialismus, andererseits als Trotzkisten, Renegaten und Intellektuelle unter den Feinden und Opfern Stalins. Dieses häufig höchst tragische Verhältnis zwischen Judentum und Kommunismus blieb als Ergebnis des Kalten Krieges deshalb für lange Zeit unerzählt, und die „roten Schafe der Familie“ fielen dem Vergessen anheim. 

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