Zur Vorgeschichte von „Auch eine Geschichte der Philosophie“
Jürgen Habermas hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten intensiv mit dem Thema „Glauben und Wissen“ beschäftigt. Dieser Weg mündet nun in das monumentale Werk „Auch eine Geschichte der Philosophie“, das vor rund zwei Monaten erschienenen ist. Es stellt die systematische Summe des philosophischen Nachdenkens von Habermas über das Verhältnis von Glauben und Wissen dar, das er selbst im Herbst 2001 so öffentlichkeitswirksam begonnen hat. Lassen Sie mich diese Stationen auf dem Weg zum neuen, großen Werk über Glauben und Wissen so knapp wie möglich rekapitulieren. Die Stationen dieses Weges waren:
- Friedenspreisrede Paulskirche, Oktober 2001: „Glauben und Wissen“;
- Gespräch mit dem Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Ratzinger, in der Katholischen Akademie in München im Januar 2004, „Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion“;
- Gespräch in der Hochschule für Philosophie hier in München 2007, „Ein Bewusstsein, von dem was fehlt“;
- Weitere Veröffentlichungen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? 2001; Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze 2005; Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken
In seiner Friedenpreisrede von 2001 hat Jürgen Habermas den Begriff „postsäkular“ in die Debatte über das Selbstverständnis der modernen, säkularen Gesellschaft eingeführt. Der Ausdruck „postsäkular“ bezeichnet die gegenwärtige gesellschaftliche Lage, eine Situation, in der religiöse Gemeinschaften inmitten eines sich zunehmend säkularisierenden Milieus fortbestehen. Wir sollten daher weder auf das Aussterben von Religion hoffen, noch auf die Rückkehr des christlichen Abendlandes, auf eine Gesellschaft, die im Namen einer einzigen wahren Religion reguliert und integriert wird. Leben in einer postsäkularen Gesellschaft bedeutet vielmehr, dass Menschen unterschiedlicher religiöser Überzeugungen und nichtreligiöser Weltanschauungen es miteinander aushalten müssen und können.
So muss laut Habermas von religiösen Personen erwartet werden, dass sie eine selbstkritische und distanzierende Einstellung zu ihren grundlegenden Überzeugungen einnehmen, wenn religiöse Überzeugungen als Begründungen von Gesetzen herangezogen werden sollen, die alle, also auch säkulare Mitbürgerinnen und Mitbürger, betreffen. Religiöse Überzeugungen müssen dann in eine Sprache übersetzt werden, die auch den säkularen Mitbürgen nicht prinzipiell unverständlich bleiben darf. Andererseits müssen in einer postsäkularen Gesellschaft auch die säkularen Bürgerinnen und Bürger bereit sind, in einen Prozess der inhaltlichen Auseinandersetzung und übersetzenden Aneignung der religiösen Gehalte einzutreten. Das Übersetzungsgebot wirkt somit wie ein kritischer Filter, der religiöse Fanatismen und obskurantistische Vorstellungen aus der politischen Öffentlichkeit ausschließen soll. Dieser Filter soll allerdings auch durchlässig genug sein, um solche Gehalte der religiösen Tradition in den öffentlichen Diskurs einer pluralistischen Gesellschaft einfließen zu lassen, die diesen in normativer Hinsicht bereichern können.
Einen bekannten Anlass für einen solchen bereichernden Beitrag der Religion zu öffentlichen Debatten in der postsäkularen Gesellschaft bieten nach Habermas die Auseinandersetzungen mit den Bio- und Neurowissenschaften. Denn hier zeige sich, dass bestimmte moralische Empfindungen „bisher nur in religiöser Sprache einen hinreichend differenzierten Ausdruck“ gefunden haben. So drückt die Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen „eine Intuition aus, die … auch dem religiös Unmusikalischen etwas sagen kann“. Habermas hat diesen Gedanken in seinem Essay „Die Zukunft der menschlichen Natur: auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?“ vertieft. Dieser Essay ist ebenfalls im Jahr 2001 erschienen und erörtert das Problem, an dem Habermas in seiner Friedenspreisrede eigentlich das Spannungsverhältnis von Glauben und Wissen erläutern wollte – bevor die Ereignisse des 11. September das Verhältnis von Religion, Vernunft und moderner Gesellschaft in einem anderen, grelleren Licht erscheinen ließ.
In diesem Essay zur liberalen Eugenik geht Habermas davon aus, dass die biowissenschaftliche Revolution unser Selbstverständnis als menschliche Gattung insgesamt in Frage stellt. Vor diesem Hintergrund kann eine utilitaristische Strategie, die alle Eingriffe erlaubt, die nützlich erscheinen, nicht die tabuanaloge Geltung der Unantastbarkeit der menschlichen Person erklären. Eine solche liberale Eugenik kann nicht die starken abwehrenden Gefühle und Intuitionen erklären, jene Gefühle des Ekels und den Eindruck der Obszönität, welche die chimärischen Wesen auslösen, die Resultate bewusster Überschreitung biologischer Gattungsgrenzen darstellen. Auf der anderen Seite erscheint eine naturrechtliche Argumentation, die von notwendigen und unveränderlichen Eigenschaften der menschlichen Natur ausgeht, ebenfalls wenig überzeugend. Denn diese Argumentation berücksichtigt nicht ausreichend, dass alle substantiellen Vorstellungen über notwendige natürliche Eigenschaften des Menschen mit jenen metaphysischen Vorstellungen über die menschliche Person variieren, die unter Bedingungen eines weltanschaulichen Pluralismus notwendig in einer irreduziblen Vielfalt auftreten.
Der biotechnologische Fortschritt drängt uns aber „einen öffentlichen Diskurs über das richtige Verständnis der kulturellen Lebensform als solcher auf.“ Daher muss die für das nachmetaphysische Denken zentrale Differenz zwischen partikularen Fragen des guten Lebens und der universalen Perspektive einer für alle geltenden Moral der gleichen Achtung angesichts dieser Herausforderungen neu justiert werden. Fragen nach dem richtigen Verständnis einer bestimmten Lebensform sind Habermas zufolge „ethisch“ zu nennen, da sie nicht darauf zielen, wie wir angesichts eines moralischen Problems unparteilich urteilen sollen, sondern wie wir uns existentiell verstehen wollen. Das Richtige der Moral zielt auf das Gesollte, das Gute der Ethik auf das Gewollte, auf eine Form des nicht verfehlten, gelungenen Lebens, hier: der menschlichen Gattung im Ganzen. Somit bringen uns die Herausforderungen der Biowissenschaften deutlich zu Bewusstsein, dass eine universale Moral der Gerechtigkeit von den ethischen Entwürfen des richtigen Lebens zwar geltungslogisch unabhängig ist, lebensweltlich aber auf die Einbettung in solche ethische Kontexte angewiesen ist, wie sie durch die Religionen, „metaphysische Lehren und humanistische Überlieferungen“, verkörpert werden.
Es zeigt sich hier: Religion ist das Andere der Vernunft. Etwas ist stets durch den Bezug zu Anderem bestimmt; es muss aber von diesem unterschieden sein, sonst wäre es mit ihm identisch. So hat die Vernunft auch unabhängig von Religion ein Interesse an ihr selbst und an ihrer Verwirklichung. Ganz im Sinne Kants bestimmt sich die theoretische Vernunft durch die Kritik ihrer selbst und als praktische Vernunft autonom zum Handeln. Aber diese ihr eigenen identitätsstiftenden Leistungen erkennt die Vernunft nur im Spiegel ihres Anderen. Religion und Vernunft sind also aufeinander bezogen, dennoch muss nicht nur die Vernunft von der Religion, sondern auch die Religion von der Vernunft unterschieden und unabhängig sein – denn sonst könnte sie die Vernunft nicht als ihr Anderes bestimmen.
Deshalb war auch der Titel „Dialektik der Säkularisierung“ gut gewählt, unter dem das Gespräch veröffentlicht wurde, das Habermas und der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, im Januar 2004 hier in der Katholischen Akademie Bayern in München geführt haben. Auf der inhaltlich-konkreten Ebene ging es bei diesem Gespräch um „Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates“ (so wurde es seinerzeit angekündigt und unter dieser Überschrift wurde das Ereignis auch in „zur debatte“ besprochen.)
Joseph Ratzinger ging in diesem Gespräch von einer unverzichtbaren öffentlichen Rolle der Religion in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft aus. Historische Erfahrungen des Totalitarismus, aber auch zeitdiagnostische Einschätzungen einer säkularen Verflachung und Aushöhlung der liberalen Demokratie zeigen nach seiner Auffassung, dass die sicherste und zuverlässigste Begründung von Demokratie und Menschenrechten, von Freiheit und Gleichheit, durch Religion erfolge. Der demokratische Rechtsstaat ruhe auf dem normativen Fundament der Menschenrechte auf; die Menschenrechte seien wiederum Ausdruck des Prinzips der Menschenwürde, und die Idee der Menschenwürde sei schließlich religiös begründet im Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen.
Habermas räumte ein, dass der demokratische Rechtsstaat auf „entgegenkommende“ ethische Mechanismen angewiesen sei, die demokratische Tugenden wie Gemeinwohlorientierung erzeugen können. Solche demokratische Tugenden seien jedoch Resultat der „Sozialisation und der Eingewöhnung in die Praktiken und Denkweisen einer freiheitlichen politischen Kultur“. Die Motive für eine Teilnahme der Bürger an der politischen Meinungs- und Willensbildung zehren Habermas zufolge „gewiss von ethischen Lebensentwürfen und kulturellen Lebensformen“. Aber in dem Maße, in dem sich die Bürgerinnen und Bürger am Prozess der kollektiven Willensbildung beteiligt wissen, bildet sich auch ihre Loyalität zu dieser verfassungsmäßigen Ordnung aus, entstehen und festigen sich die notwendigen demokratischen Tugenden.
Auf der formalen Ebene der Grundbegriffe zeigte die Replik von Habermas auf Ratzinger einmal mehr, dass das Verhältnis von Religion und Vernunft, Glauben und Wissen, eine interne Spannung, eben eine Dialektik, im nachmetaphysischen Denken der Moderne selbst repräsentiert. Es ist die Spannung zwischen konkret gelebter sittlicher Praxis und allgemeingültigen moralischen Prinzipien, zwischen Ethik und Moral, zwischen Tradition und rationaler Einsicht, abstrakter gesprochen: zwischen der Partikularität und der Universalität der praktischen Vernunft.
Dass diese beiden Themen „Glauben und Wissen“ – „Partikularität und Universalität der praktischen Vernunft“ sich ineinander spiegeln, verrät auch die doppelte Abschlussbewegung, die Habermas zu seinem 90. Geburtstag vollzogen hat: Einerseits ein großes Buch über das Verhältnis von Glauben und Wissen vorzulegen, andererseits seine Frankfurter Abschiedsvorlesung noch einmal dem Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit zu widmen.
Wenn es sich beim Verhältnis von Glauben und Wissen aber um eine innere Dialektik der Vernunft selbst handelt, die auch rein philosophisch als der alte Streit zwischen Moralität und Sittlichkeit, Allgemeinheit und Konkretheit, Kant oder Hegel, bearbeitet werden kann, warum bezieht sich das nachmetaphysische Denken dann noch auf Religion als etwas ihr äußerliches, auf ein externes, sie anregendes und provozierendes Gegenüber?
Nun, etwas fehlt! In seinem Gespräch an der Hochschule für Philosophie im Jahre 2007, hier in München, schilderte Jürgen Habermas mit bewegenden Worten seine Eindrücke bei der Trauerfeier für seinen verstorbenen Freund Max Frisch. Eine Beerdigungszeremonie, die ganz ohne Anklänge an religiöse Rituale auskommen will, kann auch bei einem religiös unmusikalischen Teilnehmer Gefühle der Leere, Beklemmung und Verlegenheit auslösen. Religion wird in der säkularen Moderne vermisst, nicht so sehr als Mythos oder Weltanschauung, durch die uns die Welt im Ganzen erklärt und unser Handeln gerechtfertigt wird – dies kann die säkulare Vernunft in Gestalt der modernen Wissenschaft, der autonomen Moral und des positiven Rechts auch aus eigenen Kräften. Aber der säkularen Moderne fehlt Religion als Ritual, als Vollzugsform der Bewältigung von Krisen. Religionen deuten nicht nur die Welt, sie bieten Formen der praktischen Bewältigung jener Krisen an, die unser In-der-Welt-Sein als Menschen mit sich bringt. Gerade als Ritual, für das die säkulare Kultur noch keine vollständig gleichwertigen Äquivalente gefunden hat, hält Religion das „Bewusstsein von dem, was fehlt“, wach. Nur eine Form von Religion, die sich noch nicht restlos in reine Weltanschauung aufgelöst hat, sondern den Bezug zur rituellen Praxis einer Gemeinde bewahrt, bildet für das nachmetaphysische Denken eine echte, ernstzunehmende Herausforderung. Die Analyse des Verhältnisses von Mythos und Ritual, von religiöser Weltdeutung und kollektiver symbolischer Praxis, bildet daher einen der Hauptstränge des neuen Buches von Habermas, das seine bisherigen Überlegungen zu „Glauben und Wissen“ bündelt, systematisiert und vertieft. Der dialektische Grundgedanke, dass Religion das Andere der Vernunft bildet, – dies soll in dieser umfassenden Genealogie des nachmetaphysischen Denkens dargestellt werden.
Auch eine Geschichte der Philosophie – Der Ansatz
Das vor rund zwei Monaten erschienene Buch von Jürgen Habermas „Auch eine Geschichte der Philosophie“ besteht aus zwei Bänden, deren Untertitel lauten: “Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen” und “Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen”. Das Verhältnis von Glauben und Wissen ist also grundlegend und strukturbildend für beide Bände; dennoch handelt es sich bei diesem Buch nicht um ein religionsphilosophisches oder gar theologisches Werk. Es ist zuerst und vor allem der Versuch, die Frage zu beantworten, was Philosophie heute noch ist und sein kann, worin ihr Wesen und ihre Funktion in der modernen Gesellschaft besteht. Bei dieser Suche nach einer Antwort auf diese Frage dient der Diskurs über Glauben und Wissen als Leitfaden.
Die Frage nach dem Wesen von Philosophie zu stellen ist für Habermas kein Selbstzweck; es geht nicht um reine Philosophie als akademische Disziplin, sondern um die (gesellschaftliche) Aufgabe der Philosophie. „Das neue Buch von Jürgen Habermas”, so heißt es im Ankündigungstext des Verlages, „ist nicht nur eine Geschichte der Philosophie. Es ist auch eine Reflexion über die Aufgabe einer Philosophie, die an der vernünftigen Freiheit kommunikativ vergesellschafteter Subjekte festhält: Sie soll darüber aufklären, was unsere wachsenden wissenschaftlichen Kenntnisse von der Welt für uns bedeuten – für uns als Menschen, als moderne Zeitgenossen und als individuelle Personen. Die Frage nach der Aufgabe der Philosophie ist bei Habermas stets eingebettet in das Projekt einer Verteidigung und Weiterentwicklung des Projekts der Moderne, der Idee einer vernünftigen und aufgeklärten Gesellschaft, die den Prinzipien der Freiheit und Gerechtigkeit folgt – es geht eben um die Verwirklichungsbedingungen „vernünftiger Freiheit“.
Die Frage nach vernünftiger Freiheit ist der Horizont, in dem Habermas die Frage nach dem Wesen von Philosophie unter gegenwärtigen Bedingungen stellt. Nachmetaphysisches Denken versteht Vernunft prozedural. Wenn prozedurale Vernunft aber nur als abstraktes, formales Verfahren verstanden würde, im Sinne einer bloßen Methode zur Überprüfung von Hypothesen, dann wäre letztlich der Unterschied aufgehoben zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften. Wenn Philosophie dagegen eine letzte verbindliche inhaltliche Antwort auf die Frage nach dem guten und richtigen Leben geben will, eine Antwort, die eingebettet ist in eine umfassende substantielle Lehre von der Stellung des Menschen in Kosmos und Natur, dann droht sie zu einer partikularen Weltanschauung neben anderen zu werden. An die Stelle der rationalen Argumentation tritt dann die rhetorische Anmutung, anstelle von Einsicht und Begründung Gehorsam und Gefolgschaft. Daher artikuliert sich auch in diesem Buch eine bekannte Sorge von Habermas, die Befürchtung, dass Philosophie in der modernen Gegenwart zerrieben zu werden droht zwischen den Extremen ihrer Verwissenschaftlichung und Verweltanschaulichung. In dieser Gefährdung der Philosophie spiegelt sich das Dilemma der modernen Gesellschaft, der Riss zwischen einem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt, der alle betrifft und sinnstiftenden Deutungen, die nur noch innerhalb immer kleiner werdenden und sich zusehends voneinander isolierenden Gemeinschaften Gehör finden. Angesichts dieser Spannung zwischen Verwissenschaftlichung und Verweltanschaulichung bedarf Philosophie ihrer permanenten Selbstvergewisserung unter sich verändernden Bedingungen. Dies soll methodisch durch eine genealogische Betrachtung des nachmetaphysischen Denkens geleistet werden. Der ursprünglich geplante Titel des Werkes sollte daher folgendermaßen lauten: „Zur Genealogie nachmetaphysischen Denkens. Auch eine Geschichte der Philosophie, am Leitfaden des Diskurses über Glauben und Wissen“. Der Titel zeigt zunächst einmal, dass gegenwärtiges Philosophieren für Habermas nach wie vor und bleibend „nachmetaphysisches Denken“ ist. Das nachmetaphysische Denken ist zudem säkulares Denken, wie Habermas auch in diesem Buch betont. Die Bezugnahme auf den Glauben in den Untertiteln der beiden Teilbände bedeutet daher auch kein Plädoyer für eine umfassende „Rückkehr der Religion“. Habermas ist nicht der Auffassung, dass die Vernunft ohne Glauben in der Luft hinge, genauso wenig wie der säkulare Staat ohne Religion.
Das nachmetaphysische Denken ist aber auch kein säkularistisches Denken. Das heißt: Der säkulare Charakter der Moderne wird als ein Faktum konstatiert, nicht als Ideologie vertreten. Nachmetaphysisches Denken bekämpft nicht aggressiv die Religion, sondern setzt sich zu ihr in ein produktives Verhältnis. Ein solch produktives Verhältnis ist gerade dort gegeben, wo das nachmetaphysische Denken über seine eigene Entstehung und Entwicklung nachdenkt. Das nachmetaphysische Denken versteht sich selbst, in dem es sich zu seinem Anderen, dem religiösen Glauben, ins Verhältnis setzt. Das nachmetaphysische Denken hat sich von seinen metaphysischen und religiösen Ursprüngen gelöst, ist selbstständig geworden – aber genau in seiner Unabhängigkeit ist es bleibend geprägt durch seine Herkunft.
Wie ist der Prozess der Loslösung des nachmetaphysischen Denkens von seinen metaphysischen und religiösen Ursprüngen zu deuten? Als Befreiung oder Verlust? Im Hintergrund steht die Frage, ob und in welchem Sinn die Moderne als Fortschritt verstanden werden kann. In einer Genealogie des nachmetaphysischen Denkens verknüpft sich somit unweigerlich die Geschichte der Philosophie mit einer Philosophie der Geschichte. Dies deutet die Anspielung des Buchtitels auf eine geschichtsphilosophische Abhandlung von Johann Gottfried Herder an. In seinem Werk: „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ aus dem Jahre 1774 distanziert sich Herder sowohl von einer pessimistischen Auffassung von Geschichte als Verfall als auch von einer Deutung der Geschichte als stetem, in der Gegenwart gipfelnden Fortschritt zum Besseren. Eine Geschichte der Philosophie ist abhängig von der Philosophie der Geschichte, die ihr zugrunde liegt: ob man die Moderne als Endstadium einer Verfallsgeschichte des Abendlandes versteht oder als Verwirklichung der fortschrittsoptimistischen Hoffnung auf die Einrichtung der besten aller möglichen Welten – oder ob man sich, wie Herder, von beiden Perspektiven distanziert.
Die Bezugnahme auf Herders Abhandlung zeigt zudem, dass es nicht ausschließlich um Philosophie geht, sondern um die „Bildung der Menschheit“. Der von Herder gebrauchte Bildungsbegriff der Aufklärung meint ja eben nicht nur Aneignung von Lernkompetenzen und Speicherung von Informationen, sondern die Erziehung zu vernünftiger Selbstbestimmung von Individuen und Gesellschaft. Die Frage nach der Zukunft der Philosophie ist daher mit der Frage nach der Bildung, der Wissenskultur überhaupt verbunden. Gibt es gesellschaftlich verfügbares und relevantes Wissen nur noch in der Form von hochspezialisierten Einzelwissenschaften? Besteht die einzig mögliche Art der Kommunikation von wissenschaftlichen Erkenntnissen in der anonymen, algorithmisch gefilterten Transmission von Daten? Eine Philosophie, die sich dieser Vorstellung unterordnet, verliert Habermas zufolge den Bezug zu ihrer ursprünglichen Aufgabe „einer rationalen Klärung unseres Selbst- und Weltverhältnisses“. Philosophie, die den Bezug zu unserer Selbsterfahrung und zu einer Weltdeutung im Ganzen verliert, hört auf, eine intellektuelle Kraft der Kritik und Aufklärung zu sein. Mit Blick auf die Frage nach der „Bildung der Menschheit“ gilt es daher, einen Mittelweg zu finden zwischen naiver Wissenschaftsgläubigkeit und apokalyptischem Geraune vom Untergang der Kultur.
Die Bestimmung dieser geschichtsphilosophischen Position zwischen Fortschrittsoptimismus, Dekadenztheorien, apokalyptischen Szenarien unter der Pseudo-Neutralität einer positivistischen Geschichtsvergessenheit erfolgt methodisch durch den zentralen Begriff der Genealogie. Der Begriff der Genealogie beschreibt die Methode, die Art und Weise, wie Habermas jene Geschichte rekonstruiert, in der „sich die Philosophie sukzessive aus ihrer Symbiose mit der Religion gelöst und säkularisiert hat“. Die Geschichte der Säkularisierung ist schon oft erzählt worden. Zwei Standardversionen möchte Habermas zurückweisen und durch seine Methode der Genealogie ersetzen. Die eine Standardversion der großen Erzählung von der Säkularisierung ist die Geschichte eines Verlustes. Säkularisierung wird dann als Säkularisation verstanden, als Enteignung und Raub von Kirchengütern. Im übertragenen Sinne ist dann mit Säkularisierung eine Entwicklung des wachsenden Sinnverlustes und der Banalisierung gemeint. Ohne Religion verliert die moderne Gesellschaft Sinn und Halt. Auf der anderen Seite steht eine Geschichtsbetrachtung, die Säkularisierung vollständig mit Fortschritt identifiziert. Nur durch die Ablösung von Religion und kirchlicher Bevormundung konnte sich nach dieser Lesart die Freiheit der Wissenschaft, der Kunst, des individuellen Strebens nach Glück, die autonome Moral und der weltanschaulich neutrale Rechtsstaat etablieren.
Der ersten Erzählweise hält Habermas entgegen, dass Säkularisierung nicht als Unglück oder Ausdruck von Verderbnis zu verstehen ist. Die genealogische Rekonstruktion versucht vielmehr, gesellschaftliche Veränderungen als Lernprozesse zu verstehen. Sie geht davon aus, dass es für tiefgreifende historische Veränderungen gute Gründe gegeben hat, zumindest aus der Sicht der Betroffenen und Beteiligten. Die Rede von Lernprozessen macht aber auch darauf aufmerksam, dass es zu jeder intellektuellen Entwicklung gehört, sich für neue und noch nicht verarbeitete Anstöße und Herausforderungen offen zu halten. Da die Religion mitnichten abgestorben ist, sondern inmitten der säkularen Gesellschaft weiterlebt und Impulse gibt, ist das säkulare Denken noch nicht fertig mit ihr. Es muss sich ihr gegenüber offen und lernbereit halten, denn Religion ist eine gegenwärtige Gestalt des Geistes. Daher bezieht sich eine genealogische Rekonstruktion nicht rein historisch auf Religion, als etwas Vergangenes und Überlebtes, sondern als etwas Zeitgenössisches und Lebendiges, als eine bleibende Herausforderung für das säkulare, nachmetaphysische Denken.
Auch eine Geschichte der Philosophie – Die Struktur
Die strukturbildende Methode dieser Geschichte des Verhältnisses von Glauben und Wissen besteht also darin, die Genealogie, die Entstehungsgeschichte des modernen, nachmetaphysischen Denkens als Lernprozess zu verstehen.
Was ist ein Lernprozess? Warum lernen wir überhaupt? Die naheliegende Antwort lautet: Wir lernen, um Probleme zu lösen. Lernfortschritte bemessen sich dann am Erfolg wachsender Naturbeherrschung. Solche technische Problembewältigung erfolgt durch die gemeinsame Arbeit im Kollektiv der menschlichen Gemeinschaft. Die menschliche Gemeinschaft wird auf diese Weise systemisch integriert. Systemische Integration bedeutet, dass die Handlungskoordination in der Gesellschaft zum Zweck der gemeinsamen Lösung von vorgegebenen Problemen erfolgt. Fortschritt bedeutet dann Vorsprung durch Technik; Lernen ist dann technischer Fortschritt, der Zuwachs an Problemlösungskompetenzen; Vernunft wird als instrumentelle Vernunft verstanden. Gesellschaftlicher Fortschritt nimmt dann die Form zunehmender Ausdifferenzierung und Spezialisierung problembearbeitender Systeme wie Technik, Wirtschaft und Bürokratie an.
Warum aber lernen wir? Was unterscheidet die Art und Weise, wie wir als Angehörige der Gattung homo sapiens lernen, von anderen Lebewesen? Auch andere Lebewesen, vor allem höhere Primaten, koordinieren ihre Handlungen, um gemeinsam Aufgaben zu bewältigen – Jagd und Nahrungssuche, Schutz vor Feinden, Aufzucht von Nachkommenschaft, Bau von Behausungen etc. – und sie geben dieses „Wissen“ weiter. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass die menschliche Gattung ihre Handlungen mittels der Sprache koordiniert. Die Verwendung von Symbolen, die verstanden werden können, ist etwas Anderes als der Gebrauch von Gesten, der einen gewünschten Effekt erzielt. Habermas bezieht sich hier, wie zunehmend in den letzten Jahren, auf die Arbeiten des amerikanischen Anthropologen und Verhaltensforschers Michael Tomasello, der sich mit der Evolution der menschlichen Sprache beschäftigt, gerade um den Unterschied zwischen Menschen und Tieren zu bestimmen. Nach Tomasello bestehe der „kognitive Unterschied in der Art, wie Schimpansen und Menschen jeweils miteinander kommunizieren“, nämlich gerade darin, „dass Primaten diese fabelhaften Fähigkeiten zu intentionalem Handeln, zum Verständnis der Handlungsintentionen anderer und zum praktischen Schlussfolgern gewissermaßen egozentrisch, das heißt ausschließlich in einem selbstbezogenen strategischen Sinne zur Manipulation von Artgenossen im Interesse eigener Absichten einsetzen“.
Oder andersherum gedacht: Durch den Gebrauch von Symbolen entsteht ein gemeinsamer semantischer Raum, eine Sphäre geteilter Bedeutungen, die auch unabhängig von einer in Zeit und Raum gegebenen konkreten Situation verstanden und erinnert werden können. Dies ist der spezifische, der artbildende Unterschied von homo sapiens: Die Bildung und Erhaltung einer menschlichen Gemeinschaft erfolgt auch durch symbolische Integration. Uns verbindet nicht nur die gemeinsame Arbeit, sondern auch die sprachliche Interaktion. Die menschliche Gemeinschaft wird nicht nur durch zweckhafte Tätigkeit zusammengehalten, sondern auch durch kommunikatives, verständigungsorientiertes Handeln.
Mit diesem evolutionären Fortschritt, der die Gattung homo sapiens auszeichnet, ist zugleich ein spezifisches Risiko verbunden, das andere Lebewesen nicht kennen. Um dieses Risiko aufzufangen, entwickelt die menschliche Kultur und Gesellschaft nun das, was Habermas den „sakralen Komplex“ nennt.
Worin besteht dieses Risiko? Was ist der sakrale Komplex und wie reagiert er auf dieses Risiko? Für den evolutionären Ursprung der Gattung Homo sapiens ist die „Umstellung auf einen umwälzend neuen Modus der Vergesellschaftung“ entscheidend. Die Vergesellschaftung durch kommunikatives Handeln stiftet ein prekäres Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft. Menschliche Lebewesen werden nur in dem Maße zu selbstbewussten Individuen, in dem sie sich erfolgreich kommunikativ vergesellschaften, das heißt lernen, sprachliche Symbole zu gebrauchen und zu verstehen und durch die Verinnerlichung dieser allgemeinen Bedeutungen ein artikuliertes Selbstverständnis aufzubauen. Für das kommunikative Wesen Homo sapiens gehören Individuierung und Sozialisation untrennbar zusammen; sprachliche Wesen werden erst in dem Maße zu selbstbewussten und vernünftigen Individuen, inwieweit sie sich vergesellschaften. Zugleich kann sich eine kommunikativ strukturierte Gesellschaft nur erhalten und reproduzieren, wenn ihre Mitglieder die allgemeinen Bedeutungen teilen, verstehen und weitergeben. Dies ist aber ein hochriskanter Prozess. Jede gesellschaftliche Krise zeigt, dass es misslingen kann, für alle verständliche Symbole und von allen geteilte Bedeutungen zu schaffen und zu erhalten. Umgekehrt erlebt jedes Individuum in existentiellen Krisen und biographischen Wendepunkten den doppelläufigen Prozess von Individuierung und Sozialisierung als das Drama, sich entweder von der Gemeinschaft ausgeschlossen und isoliert zu fühlen oder von ihr geschluckt und verschlungen zu werden.
Der sogenannte sakrale Komplex bildet nun einen anthropologisch tiefsitzenden Mechanismus, der im Falle solcher Krisen, die zu Zerfall und Anomie, Gewalt und Rebellion, führen können, eine Art Ausfallbürgschaft übernehmen kann. Der sakrale Komplex setzt sich zusammen aus Praktiken des Umgangs mit Mächten des Heils und des Unheils einerseits, aus mythischen Weltbildern andererseits. Mythen beziehen sich auf den Darstellungsaspekt, Rituale auf den performativen Aspekt der Krisenbewältigung durch den sakralen Komplex.
Religionstheoretische Grundbegriffe wie Ritual oder Sakralität stehen bei Habermas schon seit langem im soziologischen Kontext einer Entwicklungstheorie der modernen Gesellschaft, wie der Bezug auf Durkheim in der Theorie des kommunikativen Handelns zeigt. An Durkheims Religionssoziologie interessierte Habermas die These, dass eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen der Geltung moralischer Regeln und der „Aura des Heiligen“ besteht. Die „Haltung gegenüber dem Sakralen ist, ähnlich wie die gegenüber der moralischen Autorität, durch Hingabe und Selbstentäußerung gekennzeichnet“. In Habermas’ Interpretation schließt Durkheim aus dieser „strukturellen Analogie des Heiligen und des Moralischen“ letztlich „auf eine sakrale Grundlage der Moral“. Diese sakrale Grundlage der Moral darf aber nicht inhaltlich verstanden werden, etwa im Sinne des religiösen Glaubens an eine transzendente oberste gesetzgebende Gewalt. Sie ist vielmehr zu verstehen durch ihre soziale Funktion eines durch kollektive Rituale erzeugten und gesicherten grundlegenden normativen Konsenses. In Durkheims Auffassung von den sakralen Wurzeln moralischer Autorität wird ein Konsens über soziale verbindliche Normen zunächst nicht durch die kognitive Einsicht in die Gültigkeit von Inhalten gestiftet, sondern durch eine kollektive Praxis, für die das religiöse Ritual paradigmatisch ist. Im religiösen Ritual wird durch den gemeinsamen Gebrauch von Symbolen eine kollektive Identität hergestellt und erneuert; diese Symbole besitzen aber strikt interne Bedeutung innerhalb einer selbstbezüglichen rituellen Praxis, sie teilen nichts mit oder verweisen nicht auf eine Realität „hinter“ dem Ritual selbst. Der Gebrauch religiöser Symbole im Ritual verrät etwas über die eigentümliche Form kommunikativen Handelns, durch die eine kollektive Identität und gemeinsames Normbewusstsein hergestellt wird.
Durkheim hatte aber, so Habermas nun in seinem neuen Werk, eher gezeigt, wie Mythen und Rituale funktionieren, um gesellschaftliche Solidarität zu sichern. Vernachlässigt wurde bei Durkheim die Beantwortung der Frage, wie Mythos und Ritual entstehen. Diese Antwort sucht Habermas nun zu entfalten, indem er den sakralen Komplex zurückbezieht auf die für die menschliche Gattung überhaupt konstitutive Form gemeinsamen kommunikativen Handelns und das damit verbundene Risiko. Mythos und Ritual übernehmen eine Ausfallbürgschaft im Fall von phylogenetisch und ontogenetisch auftretenden Krisen.
Gehören Mythos und Ritual aber nicht einer längst vergangenen Zeit an? Die Antwort von Habermas lautet: Was wir heute Religion nennen, ist das Resultat eines Rationalisierungsschubes der archaischen Mächte Mythos und Ritual. Diese Rationalisierung von Mythos und Ritual hat den sakralen Komplex transformiert, aber nicht zerstört. Als Religion bildet der sakrale Komplex auch für das zeitgenössische nachmetaphysische Denken immer noch eine Herausforderung.
Die Geschichte der Rationalisierung des sakralen Komplexes erläutert Habermas mit Bezugnahme auf den Begriff der Achsenzeit. Der Begriff der „Achsenzeit“ wurde von Karl Jaspers in seinem Werk „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“ (1949) geprägt. Er bezeichnet, vereinfacht gesagt, die Zeit zwischen grob 800 und 200 v. Chr. In dieser Zeit, so stellt Jaspers fest, bildeten sich alle großen Weltreligionen ebenso wie die griechische Philosophie heraus, und zwar in den unterschiedlichsten, nicht miteinander in Verbindung stehenden Teilen der Erde und somit weitestgehend voneinander unabhängig. In der Folge haben Bellah, Eisenstadt und Joas die These vertreten, dass sich tatsächlich eine konkret benennbare Gruppe von sogenannten „Achsenkulturen“ feststellen lässt, unter denen folgende besonders wichtig waren: das alte Israel, das antike Griechenland, das frühe Christentum, der Iran von Zoroaster, das chinesische Kaiserreich sowie die hinduistischen und buddhistischen Zivilisationen. Das Gemeinsame an diesen unterschiedlichen Achsenkulturen, so Eisenstadt, besteht darin, dass in all diesen Kulturen eine systematische Reflexion stattgefunden habe, die gewissermaßen in der „Entdeckung“ von Transzendenz mündete. Transzendenz bedeutet in diesem Zusammenhang, dass ein Bewusstsein dafür entstand, dass die greifbare, physische Welt nicht die einzige Realität sei, sondern es darüber hinaus noch eine andere Welt gebe. Der Glaube an die Legitimität einer transzendenten, d. h. nicht mehr physisch präsenten Herrschaft ist nicht zuletzt eine funktionale Voraussetzung für die Entstehung der Großreiche der Achsenkulturen mit ihrem kodifizierten Recht und ihrer durch Repräsentation wirksamen politischen Souveränität.
Habermas bezieht das von Karl Jaspers aufgenommene und mit Bezug auf Robert Bellah weiterentwickelte Motiv der Achsenzeit auf die Erklärung der Rationalisierung von Ritual und Mythos im Sinne des Strukturwandels der Weltbilder. „Die religiös-metaphysischen Lehren unterscheiden sich von den mythischen Erzählungen durch die Distanz, die sie zu einer im Ganzen auf Distanz gebrachten Welt einnehmen“. Max Webers Stichwort für diesen „Übergang von der Mythenwelt zu den religiösen Weltbildern der Achsenzeit ist „Entzauberung“. Webers Religionssoziologie wurde lange als paradigmatisch angesehen für eine Deutung von Säkularisierung, die aufgrund von fortschreitender Entzauberung und Ausdifferenzierung der Wertsphären Religion am Ende der Moderne ganz verschwinden lässt. Webers Begriff der Entzauberung bezeichnet aber Hans Joas zufolge eher einen Vorgang der „Demagisierung“, also den zunehmenden Verzicht auf den Einsatz magischer Mittel bei der Bewältigung von Problemen in der Welt, aber nicht notwendig die generelle Säkularisierung der Deutung der Welt im Ganzen.
Habermas zufolge zeigt bereits der Gestaltwandel des sakralen Komplexes in der Achsenzeit,
dass Religionen auf Entzauberung kreativ reagieren können, und zwar durch eine Moralisierung des Heiligen. Entzauberung bedeutet in der Tat den Verlust der Religion als Ressource der Erklärung und Beherrschung innerweltlicher Vorgänge. Der Mythos büßt seine Funktion ein, innerweltliche Vorgänge zu erklären und in einen deutenden Kontext einzuordnen (vom Mythos zum Logos zur Wissenschaft). Das Ritual verliert seine Bedeutung, unmittelbar auf Heil und Unheil des Menschen Einfluss zu nehmen – diese Aufgabe übernehmen Medizin, Technik, Wohlfahrtseinrichtungen und der Staat.
Die Erfahrung des Heiligen, Erlebnisse des Numinosen, das eine Aura des Erschreckenden und Faszinierenden zugleich besitzt, koppelt sich angesichts des wachsenden Weltwissens immer mehr ab von der Deutung und Bewältigung innerweltlicher Vorgänge. Stattdessen wird das Heilige zunehmend moralisiert; an die Stelle eher unschuldiger a-moralischer Bewältigungsmuster von Heil und Unheil durch das stellvertretende Wirken vieler Gottheiten oder heiliger Gestalten tritt die Frage nach der unbedingten Gerechtigkeit des einen Gottes. Sichtbar wird dies am Hiob-Problem: Das persönliche Leid kann nicht mehr durch einen schlichten Tun-Ergehen-Zusammenhang erklärt werden, sondern wirft die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes als des absoluten Herrn auf. Die Gerechtigkeit Gottes kann nur bewahrt werden, indem sie kognitiv unzugänglich bleibt; sie bleibt in Kraft, indem sie zu einer transzendenten, die Welt und ihre immanente Logik übersteigenden Größe wird. Gerade so besitzt sie erlösende Kraft für den Einzelnen; der individuelle Weg zum Heil bemisst sich nicht mehr an innerweltlichem Wohl und Wehe, sondern am Vertrauen auf eine absolute, außerweltliche Gerechtigkeit.
Das Motiv der Achsenzeit soll zugleich dem Vorwurf der westlichen Partikularität der in AeGP (Auch eine Geschichte der Philosophie) entfalteten Genealogie des nachmetaphysischen Denkens entgegentreten. Denn alles, was wir nach und aufgrund einer genealogischen Selbstverständigung des nachmetaphysischen Denkens „aus guten Gründen für universell gültig halten, könnte durch einen westlichen bias verzerrt sein, der sowohl in der professionellen Öffentlichkeit als auch in interkulturellen politischen Diskursen überprüft werden muss“.
Auch eine Geschichte der Philosophie – Ausgewählte Themen
Soviel zur Struktur dieser Genealogie des nachmetaphysischen Denkens und ihrer religionstheoretischen Relevanz. Inhaltlich besteht diese Genealogie in einem atemberaubenden Durchgang durch ein unglaublich umfassendes, reiches und komplexes philosophiegeschichtliches Material und seine systematische Deutung im Lichte der skizzierten Perspektive.
Die über 1700 Seiten ausgebreitete genealogische Rekonstruktion des nachmetaphysischen Denkens ist eine weite, lange, abenteuerliche und aufregende Reise. Sie führt über zwei Bände, zehn Kapitel und drei systematische Zwischenbetrachtungen. Sie beginnt historisch beim Bruch Israels mit dem mythischen Denken, mit der Abkehr des jüdischen Monotheismus vom Heidentum, führt über Buddhismus, Konfuzianismus und Taoismus zu den griechischen Naturphilosophen und schließlich, als erster Zwischenhalt, zu Sokrates und Platos Ideenlehre.
Der Symbiose von Glauben und Wissen im christlichen Platonismus und seiner Rolle bei der Entstehung der römisch-katholischen Kirche widmet Habermas dann sein besonderes Augenmerk. In Unterabschnitten reflektiert er über das Urchristentum, analysiert die Begegnung von Christentum und Hellenismus in der gräko-romanischen Umgebung des Kaiserreichs und betrachtet Plotin und Augustin als zentrale Figuren der christlichen Transformation der Philosophie Platons. Unter dem Titel „Das christliche Europa: Fortschreitende Differenzierung zwischen sacerdotium und regnum, Glauben und Wissen“ werden die „Herausforderungen des Aristoteles für die Theologie des 13. Jahrhunderts“ thematisiert und die Antworten des Thomas von Aquin. Die von den spätmittelalterlichen Theologen Duns Scotus und Wilhelm von Ockham eingeleitet Wende interpretiert er als philosophische Weichenstellungen zur wissenschaftlichen, religiösen und gesellschaftlich-politischen Moderne. Diese Wende hinterlässt auch Spuren im neuzeitlichen Diskurs über Recht, Politik und Macht – etwa bei Machiavelli Francisco de Vitoria.
Die nominalistische Wende des späten Mittelalters leitet über zum zweiten Band „Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen“. Dieser Band beginnt mit einem Kapitel über die Trennung von Glauben und Wissen im Protestantismus, der den Aufstieg der Subjektphilosophie vorbereitet. Hier kündigt sich die für die moderne konstitutive Trennung von Glauben und Wissen an. In der Folge sieht Habermas Hume und Kant an „der Wegscheide nachmetaphysischen Denkens“. Kant und Hume repräsentieren zwei zentrale Aspekte moderner Subjektivität: die Erfahrung des eigenen inneren Erlebens und Fühlens als Maßstab gültigen Wissens (Hume) und die Idee einer freien Selbstbestimmung nach vernünftigen Prinzipien (Kant).
Die Philosophie der Subjektivität läuft bei Habermas letztlich auf eine Theorie der Intersubjektivität zu, der Leitbegriff des Bewusstseins wird durch den der Sprache ersetzt. Daher interessiert sich Habermas vor allem für die sprachliche Verkörperung der Vernunft. Bei Herder, Schleiermacher und Humboldt findet er Motive einer solchen „linguistischen Wende“. Diese wird aber zunächst aufgehalten durch Hegels Versuch einer Assimilation von Glauben an Wissen. Doch Hegels Versuch einer Erneuerung metaphysischen Denkens nach Kant scheitert Habermas zufolge. Mit den Junghegelianern wird dann der Weg frei für die nachmetaphysische Auffassung einer in Sprache, Leiblichkeit, Geschichte und Gesellschaft verkörperten Vernunft. Als Zeugen dieser Entwicklung betrachtet Habermas Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Sören Kierkegaard und schließlich Charles Sanders Peirce, die Gründungsfigur des amerikanischen Pragmatismus. Mit abschließenden Bemerkungen zum Modus der Verkörperung der Vernunft in Praktiken der Forschung und der Politik landet Habermas wieder in der Gegenwart und ihrer kritischen Reflexion.
Abschließende Bemerkungen
“Ironiker des Wissenschaftsbetriebs können Habermas’ zweites Opus magnum als ein gigantisches Arbeitsbeschaffungsprogramm für Wissenschaftler aller kulturdeutenden Disziplinen verstehen“, so der protestantische Theologie Friedrich Wilhelm Graf in seiner Rezension. „Die Spannbreite möglicher Themen“, so Graf weiter, „ist unerschöpflich, weil Habermas in ganz unterschiedlichen Sprachspielen – er kann jetzt bisweilen auch ein historistisch erzählender Historiker sein – eine kaum vorstellbare Fülle von Beobachtungen, Einsichten und konventionelle Denkroutinen infrage stellenden Deutungen präsentiert. Gelehrte Jüngere werden nun Dissertationen über «Habermas on Luther» oder «Von Schleiermacher zu Habermas» schreiben können, und katholische Thomas-Spezialisten dürften bald seine … Rekonstruktion des theonom entworfenen Gesetzesbegriffs des Aquinaten überprüfen wollen. Auch Habermas’ Sicht der Beziehungen zwischen Kant und Luther sowie Luther und Hegel sind für viele gelehrte Debatten gut … Es wird Jahre dauern, bis die Kulturdeutenden sich an Habermas‘ Großunternehmen abgearbeitet haben“.
Die Lektüre und Interpretation der philosophischen Klassiker hat Habermas offensichtlich viel Freude bereitet. Die 1700 Seiten bieten eine Fundgrube oder besser Schatztruhe, voll von erfrischenden und neuen Deutungen bekannter und auch etwas abseitiger Texte der philosophischen Tradition. Aber es ist nicht nur spielerische Neugier, die Habermas dazu treibt, so ausführlich, gründlich und mit einer unglaublichen Ausdauer auf die klassischen Texte über Glauben und Wissen einzugehen. Es ist vor allem seine Grundauffassung, dass sich die Frage, was Philosophie heute ist, was sie noch leisten und sich zutrauen kann, daran entscheidet, wie sich das nachmetaphysische Denken ins Verhältnis zu seiner religiösen Herkunft setzt, wie sich die säkulare Vernunft dieses religiöse Erbe aneignet. Daran entscheidet sich für Habermas die Frage nach der Zukunft der „Bildung der Menschheit“.