Katholische Literatur post-desäkular?

Eine Individualisierung des Umgangs mit der Religion

Im Rahmen der Veranstaltung "Rückkehr der Religion – passé?", 21.11.2022

©tilialucida, canva

Die Bundesrepublik Deutschland sei ein „Land der Gottlosen“, stellte Hilmar Schmundt im Sommer 2022 fest, und bediente damit die aktuelle Rede von den „Kirchen in der Krise“ (Der SPIEGEL 34/2022, S. 94) – ein Beispiel von vielen, hier stellvertretend genannt. Auch der Umgang mit Kirche/Religion/Gott im literarischen Feld ist von ähnlichen Krisen-Diagnosen geprägt. Dabei ist es noch gar nicht so lang her, dass Arnold Stadler in Ein hinreissender Schrotthändler mit der Bemerkung, von Gott zu reden sei „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ (Berlin 1999, S. 34), ‚das Wort Gott‘ wirkmächtig in Szene setzte – ein Wort, das man sich seitdem ganz besonders ‚gönnte‘ (Andreas Maier, in: Die Zeit Nr. 12, 17.3.2005, S. 33) oder auf das hin man wenigstens eingestand, dass „Gott fehlt“ (Martin Walser: Über Rechtfertigung, eine Versuchung. Reinbek bei Hamburg 2012, S. 33).

Zugleich fiel dieses Interesse an der Religion in eine Zeit, in der sich die Neumodellierung der These von der Säkularität der Moderne beobachten ließ, z. B. sprach man dezidiert von einer „Rückkehr der Religionen“ (Martin Riesebrodt 2000) oder von der „desecularization“ aller Lebensbereiche (Peter L. Berger 1999). Dass auch diese Entwicklungen selbst Teil des Prozesses der Säkularisierung sind, ist bekannt und vielfach bedacht worden, es muss hier nicht mehr eigens aufgefächert werden. Für mich ist stattdessen interessant: Was ist mit Blick auf die Literatur unserer unmittelbaren Gegenwart daraus geworden? Und warum?

Gegenwartsdiagnose „Religion passé?“

Ein erster Befund: Die Idee einer Rückkehr der Religion hat an Plausibilität verloren. Gerät eine Autorin (wie in diesem Fall Judith Kuckart mit Café der Unsichtbaren, 2022) in Verdacht, „einen metaphysischen Roman“ vorgelegt zu haben, gilt das inzwischen wieder, wie selbstverständlich, als „unzeitgemäß, wenn nicht verstiegen“, schließlich lebten wir „in abgeklärt säkularen Zeiten“, so Hubert Winkels (Die Zeit Nr. 23, 2.6.2022, S. 58). Oder vielleicht doch in Zeiten der Post-Desäkularität? Kurz zur Kategorie: Bezeichnet ‚Desäkularisierung‘ Prozesse einer Rücknahme von Prozessen der ‚Verweltlichung‘, ist ‚Desäkularität‘ auf deren Ergebnisse zu beziehen, z. B. eben das verstärkte und explizite Aufkommen ‚des Wortes Gott‘ in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart. Post-Desäkularität bezieht sich dann darauf, dass hinter diese Prozesse zwar nicht mehr zurückgegangen werden kann, aber dennoch eine neue Phase im Umgang mit Religion und Gottesrede (etc.) zu beobachten ist.

Genau dazu möchte mein Beitrag eine These vorstellen: Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit der Jahrtausendwende wird von einer Vorstellung geleitet, die ich als Ich-Paradigma bezeichnen möchte. Innerhalb dieses Paradigmas ist in den letzten Jahren eine Schwerpunktverlagerung zu beobachten: von der Religion zur Herkunftsliteratur und zur (Auto-) Soziobiographie. Dazu einige Beobachtungen am Beispiel von Angela Lehner, Christian Baron, Andreas Maier und Ralf Rothmann.

„In 2001 spielt die Religion nun keine große Rolle mehr“. Angela Lehner

Als referierte sie auf die Tabuisierungsbehauptungen Arnold Stadlers treibt die junge österreichische Autorin Angela Lehner zwei Jahrzehnte nach Ein hinreissender Schrotthändler in ihrem Debütroman Vater unser (München 2019) den F-Wort-Gebrauch auf die Spitze und verbindet dieses Wort geradezu manisch mit dem Themenfeld ‚katholische Sozialisation‘. Lehners Roman lebt von der gargantuesken Übertreibung, und weil „wir Christen […] ja gewohnheitsmäßig alles gern dreimal [sagen]“ (S. 49), wird auch das F-Wort mindestens dreimal wiederholt („‚Ficken, ficken, ficken‘, ich klatschte mir auf die Oberschenkel“, S. 52).

‚Das Wort Gott‘ wird verknüpft mit fäkalisierter sowie metaphorisierter Konsumption, die den eucharistischen Akt der Kommunion in rein biologische Abläufe transferiert („‚Wissen Sie, ich erkenne Gott in dieser Szene: Anspeiben. Auskotzen. Anscheißen. Ausscheißen. Und wieder von vorne: Das ist Katharsis‘“, S. 51). Die ritualisierte Wiederholung prägt auch Disposition und Stil des Romans, dessen drei Teile in „Der Vater“, „Der Sohn“ und „Der Heilige Geist“ eine Segensgeste andeuten und konterkarieren. Der Katholizismus, der hier zum Thema wird, ist eine Zumutung.

Zwei Jahre später legte Angela Lehner ihren zweiten Roman vor: 2001 (München 2021). Auch hier ist, wie Nicole Henneberg feststellt, „die Idylle ein einziger Abgrund aus Scheinheiligkeit und Grausamkeit.“ Auffälliger deshalb ihre Feststellung: „In 2001 spielt die Religion nun keine große Rolle mehr“ (in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung Nr. 226, 29.9.2021, S. 10). Jetzt geht es um anderes: nicht mehr um die Auseinandersetzung mit der Religion (Vater unser), sondern um die Auseinandersetzung mit der eigenen Klasse (2001). Wie Lehners Debüt ist auch 2001 zwar wieder in einer kulturell christlichen Umgebung situiert. Ganz anders aber als im Vorgänger-Roman interessiert dieses christlich-religiöse Profil weder als hauptsächliches Steuerungselement für die Persönlichkeitsbildung noch als Ursache für z. B. psychische Deformationen. Es hat kein eigenständiges Gewicht, sondern gehört eben irgendwie dazu. Genau deshalb kann es dann auch (wie in vorliegendem Fall) dazu dienen, soziale Distinktionen zu erzeugen und zu erhellen.

Der Roman erzählt aus Sicht einer Fünfzehnjährigen namens Julia Hofer davon, wie es ist, zur Jahrtausendwende in einer ländlichen Gegend aufzuwachsen. Die heimische Industrie ist vor der Globalisierung in die Knie gegangen, und die Jugend zieht es in urbanere Regionen. Julia aber gehört zu denjenigen, die keine Chance haben. Denn: Das Leben in „Tal“ ist von Ungleichheit geprägt, und genau dieses Thema ist es, das jetzt dominiert und für das u. a. auch Religion funktionalisiert wird. „Klasse durchdringt alles“, so Anke Stelling 2021 (https://www.zeit.de/kultur/literatur/2021-02/mittelschicht-anke-stelling-schaefchen-im-trockenen), auch Lehners Roman 2001: Zu den „besseren Häuser[n]“ in „Tal“ hat Julia Hofer keinen Zugang, mit den „besseren Kindern“ (S. 167) keinen Umgang, und im Unterschied zu eben diesen „Besseren“ kann sie sich in der Schule auch kein „Getränke-Abo“ leisten: „Wenn ich Durst habe, trinke ich am Restmüll-Waschbecken“ (S. 17).

Dass sie einer anderen, schlechteren ‚Klasse‘ angehört, zeigt sich gerade darin, dass ‚Ihresgleichen‘ („[s]olche wie uns“) weder bei den Sternsingern noch beim ortsansässigen Trachtenverein „mitmachen“ dürfen (S. 8). Das eben sei der Grund dafür, warum die „heiligen drei Könige […] in Tal immer spät dran sind“. Es gebe „einen Notstand an heiligen, anständigen Kindern“, und so müssten „die wenigen eben alle kirchlichen Verpflichtungen erledigen“ (ebd.). Die Ausgrenzung ihrer „Crew“ (ebd.), ihrer Peer-Group, beruht auf den üblichen Ingredienzien des Klassismus, v. a. auf der klaren Stigmatisierung durch materielle Armut.

Kurz: In Angela Lehners Vater unser ist ‚Religion‘ im Sinne der eigenen christlich-religiösen Sozialisation für die homodiegetisch aufgestellte Protagonistin noch existenziell; sie entwickelte eine Prägekraft, der sich die Heranwachsende nicht entziehen kann. Die Ich-Erzählerin in 2001 dagegen nimmt religiöse Praktiken als kulturelle Ausdrucksformen unter anderen wahr, und zwar nur deshalb, weil sie sich daran des eigenen sozialen Status vergewissern kann. Für das Zusammenleben im ländlichen Raum immer noch bedeutsame Institutionen wie die Kirche oder der Trachtenverein definieren Ingroup-Zugehörigkeiten; sie dienen im Text als eine Art Katalysator des Othering, mithin der Ausgrenzung Julia Hofers und ihrer „Crew“, die sich gerade dadurch allererst selbst als (in sich denkbar heterogene) Gruppe zusammenfindet.

Zu den aktuell viel beachteten Autosoziobiographien zählen Lehners Romane nicht, auch wenn 2001 zur soziologisch interessierten Literatur gehört (zu dieser vgl. allgemein Philipp Böttcher: Der Mythos von der ‚nivellierten Mittelstandsgesellschaft‘ und die Soziologie der Gegenwartsliteratur, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft LXV/2021, S. 271–307). Autosoziobiographien nehmen die Herkunft ihrer Verfasser*innen in den Blick, um darin Erklärungen für das eigene Selbst aus der jeweiligen Sozialisation heraus zu finden – ein Beispiel dafür ist Christian Barons Ein Mann seiner Klasse (2020).

Herkunftsliteratur. Religion bei Christian Baron

Christian Baron stammt aus Kaiserslautern; er ist der Sohn eines (ungelernten) Arbeiters. Was heißt es nun aber, dass Baron zufolge der eigene Vater als „ein Mann seiner Klasse“ zu gelten hat, wie es in seinem gleichnamigen Debüt heißt? Was diesen Vater ausmacht, ist stets sozial zu denken und soziologisch zu fassen. In einer vermeintlich flexiblen ‚Gesellschaft der Singularitäten‘ hat ein ‚Mann dieser Klasse‘ „kaum eine Wahl“, „weil er wegen seines gewalttätigen Vaters und einer ihn nicht auffangenden Gesellschaft zu dem werden musste, der er nun einmal war.“ Bezeichnend der Nachsatz: „Das entschuldigt nichts, aber es erklärt alles.“ (Berlin 2020, S. 19)

Religion kommt hier allein in der Negation vor, und auch da nur im Modus der ‚leeren Versprechung‘ – wie die „Gesellschaft“ so ‚fängt‘ auch der Glaube Menschen dieser „Klasse“ schlichtweg nicht auf: „An Gott hab ich nie geglaubt. Aber wen hätte das je vom Beten abgehalten? Also lag ich wispernd unter der Bettdecke: Heute Abend, nur heute Abend möge der Sturm bitte schnell vorüberziehen“ (S. 6) – bei diesem ‚Ich‘ handelt es sich um den Autor-Erzähler als Kind, der „Sturm“ bildet den abendlich alkoholisiert zurückkehrenden, gewalttätigen Vater ab. Die Bitte bleibt vergeblich – und wird in der Folge auch nicht mehr wiederholt. Religion half nicht, sie fehlte nicht, sie existierte nicht, sie störte nicht (einmal). Wenn sie angespielt ist, dann als sozialer Faktor.

Auch Barons jetzt mit der Gattungsbezeichnung „Roman“ versehenes Nachfolgeprojekt Schön ist die Nacht (Berlin 2022) belegt den Schwerpunktwechsel in der deutschen Literatur der Gegenwart von der Religion zur Soziologie. Als (fiktional erzähltes) Prequel zur Kindheitsgeschichte wird jetzt v. a. die Großeltern- und Elterngeneration beleuchtet. Selbst Hinweise auf eine irgendwie christliche Sozialisation im Erzähler-Milieu muss man hier mit der Lupe suchen (S. 67, 85, 235, 312, 327); sie dienen allein dazu, eine (negativ kritisch konnotierte) Ermöglichungsbedingung für die soziale Ausweglosigkeit der Protagonisten des Romans zu liefern.

Wie sieht es dagegen bei Autoren aus, die in Publizistik und Forschung regelmäßig zu Vertretern einer Literatur gerechnet werden, die ein besonderes Verhältnis zur (katholisch geprägten) Religiosität pflegen? Mit Ralf Rothmann und Andreas Maier – zum Beispiel?

„Man kommt nicht raus aus seinem Leben, oder?“ Ralf Rothmann

Ralf Rothmann, katholisch sozialisiert, steht für eine Literatur, der es auf eine ganz besonders eindringliche Weise gelingt, Ästhetisches, im Sinne von ‚poetisch Gestaltetes‘, wie nebenbei mit Religiösem zu verbinden. Religiöses liegt dem Poetischen als eine Art Palimpsest zugrunde, scheint durch es hindurch. In Rothmanns Roman Junges Licht (2004) z. B. wird „das aus der Transzendenz in die Immanenz hineinschimmernde Numinose zum Stilprinzip“ (Georg Langenhorst: „Ich gönne mir das Wort Gott“. Gott und Religion in der Literatur des 21. Jahrhunderts. Freiburg-Basel-Wien 2009, S. 112).

Rothmanns neuere Romane – Im Frühling sterben (2015), Der Gott jenes Sommers (2018) und Die Nacht unterm Schnee (2022) – bilden eine ‚um 1945‘ angesiedelte Trilogie mit biographischen Anklängen an die eigenen Eltern. Mit Blick auf meine Fragestellung auffällig sind die Differenzen in der öffentlichen Wahrnehmung zwischen den Romanen von 2018 und 2022: Dem Roman Der Gott jenes Sommers wurde „Gottesnähe“ attestiert (in: Süddeutsche Zeitung Nr.105, 8.5.2018, S. 14), „stellenweise“ sei der Roman „etwas penetrant katholisch, aber ohne jeden Sonntagsreden-Schmu“ (in: Die Welt Nr.109, 12.5.2018, S. 28) u. a. Der Roman spiegelt die letzten Kriegstage 1945 mit Episoden aus dem 30-jährigen Krieg des 17. Jahrhunderts und setzt sich dadurch zu einem kulturhistorischen Umfeld ins Verhältnis, in dem man, wenn man starb, ‚das Zeitliche‘ noch ‚segnete‘. Das dem Roman vorangestellte Motto aus Andreas Gryphius Grabschrift Marianae Gryphiae („Ich habe diese Welt beschaut und bald gesegnet“; Berlin 2018, o. P.) ruft diesen Kontext auf, der die Jahrhunderte überspannt.

Dagegen kommen die durchweg euphorischen Besprechungen (v. a. in: Die ZEIT Nr.29, 14.07.2022, S. 51) von Die Nacht unterm Schnee ohne jeden Bezug auf ‚Gott‘, ‚Religion‘ oder ‚Kirche‘ aus. Eines der zentralen Charakteristika im Werk Rothmanns, das „Numinose“ als „Stilprinzip“, hat, wie es aussieht, ausgedient. Stattdessen lenkt der Roman den Blick auf ein anderes Themenfeld: die Frage der sozialen Ungleichheit. „Also, spar Dir die teuren Bücher, Kind, für unsereins sind die nicht geschrieben“ (Berlin 2022, S. 84), so Elisabeth, die Frau des Melkers Walter, zur Erzählerin Luisa, die einen akademischen Ausbildungsweg einschlägt. Die „Arbeiterfrau“ (S. 213) Elisabeth ist gefangen in ihrer Klasse und kann ihr nicht entkommen. Mobilität erfolgt höchstens horizontal, „[a]us dem Stallmist in den Ruß, vom platten Land in die Kohlengrube. Man kommt nicht raus aus seinem Leben, oder?“ (S. 245), so Elisabeth zu Luisa. „Ja, das ist unser Leben. Wir sitzen in der Jauche, wir waschen uns mit Jauche, und wir riechen wie Jauche, und so wird es immer sein“ (S. 246). Im Roman enthaltene Anklänge an Rothmanns Eltern und an den Autor selbst (vgl. u. a. S. 287–291) machen aus dem sozial interessierten Roman ein soziobiographisches Gebilde.

‚Gott‘ in der Ortsumgehung. Andreas Maier

Andreas Maier wiederum gehört zum einen zu den publizistisch wirkmächtigen Protagonisten ‚des Wortes Gott‘ in der Literatur. Mit Sanssouci hat er 2009 einen prototypischen Roman der Desäkularisierung vorgelegt (vgl. Claudia Stockinger: Desäkularisierung als sprachbildende Kraft. Zum Verhältnis von Gegenwartsliteratur und Religion am Beispiel von Andreas Maier. In: Bildung und Wissenschaft im Horizont von Interkulturalität, hg. von Heinrich Geiger u. a. Ostfildern 2019, S. 81–96), und sein immer noch aktuelles Projekt, die autofiktional angelegte Romanreihe Ortsumgehung, steuert dem frühen Plan nach auf einen letzten Band mit dem Titel Der liebe Gott zu (vgl. Andreas Maier: Das Haus. Roman. Berlin 2011, S. 92). Zum anderen muss Maier, dessen Projekt Ortsumgehung zum „größte[n] Eigenblutdopingfall der deutschen Literatur“ erklärt worden ist (so Christian Metz in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 185, 12.8.2015, S. 10), als einer der erfolgreichsten Vertreter autosozio-biographischer (Herkunfts-) Literatur im deutschsprachigen Raum gelten. Das als „Pose“ (Maier: Der Ort. Roman. Berlin 2015, S. 24) eingesetzte „Ich“ ist bei Maier seit seinen gleichnamigen Poetik-Vorlesungen von 2006 mindestens ebenso massiv präsent wie ‚das Wort Gott‘. Sieht man sich aber die Teile der Reihe in chronologischer Folge genauer an, zeigt sich auch hier: Gegen das ‚Ich‘ hat ‚Gott‘ aktuell kaum eine Chance. Das Interesse an der eigenen Herkunft dominiert. Kommt ‚der liebe Gott‘ dem Projekt abhanden?

Im Rückblick auf die seit Mitte der 2000er Jahre publizierten Texte fällt auf, dass Maiers Interesse an ‚Gott‘ mit einer vielfach perspektivierten Kritik an kapitalistischen Wachstums- und Steigerungslogiken einhergeht. Das Beharren auf der Differenz-Erfahrung wird dafür zur leitenden Idee: Das Andere, der Außenseiter wird dabei als bevorzugte Lebensweise und Figur profiliert. Mit dem vierten Band, Der Ort, verschiebt sich die soziale Position – je erfolgreicher der Autor/Erzähler sich selbst zur Rolle wird, desto unbefragter nimmt er einen Platz „in den vorderen Rängen der Schülergesellschaft“ (S. 44) ein. Im Mittelpunkt steht jetzt die (weltliche) Liebe. Sie ersetzt einerseits Religion oder tritt an deren Stelle; andererseits werden sowohl diese Liebe als auch das religiöse Erleben profanisiert, wenn sie einem Zustand des ‚Zugekifftseins‘ versuchsweise gleichgesetzt werden (vgl. S. 59). Ihren Höhepunkt findet die Analogisierung von Kunst als (neuer) Religion im fünften Band, Der Kreis (2016). Der Roman beschreibt entlang unterschiedlicher musikalischer Erlebnisse die Initiation des Künstlers im jungen Mann. Der Schlüsselbegriff für diese Erlebnisse lautet „Durchwehen“. Bezeichnet wird damit ein Effekt, der eine, wie es im Text heißt, „ähnliche Sakralität wie sonntags in der Kirche“ erzeugt (Maier: Der Kreis. Roman. Berlin 2016, S. 16), und der mithin durchaus als Religionsersatz taugt.

Konsequenterweise berichtet der sechste Band, Die Universität (2018), von einem Leben als (wäre es) Literatur. Der Roman steht unter dem Motto der vor über einem Jahrzehnt gehaltenen Poetik-Vorlesungen: „Ich, das ist der Mittelteil des Wortes Nichts“ (Maier: Die Universität. Roman. Berlin 2018, o. P.). In den Vorlesungen aber war dieses ‚Nichts‘, das den Autor („Ich“) umgab, selbst wieder umgeben von einer Größe, die in der Zitatübernahme 2018 ausgespart bleibt: „[D]arum herum“, hatte es in Ich weiter geheißen, „ist der liebe Gott“ (Maier: Ich. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt/M. 2006, S. 124).

Noch bedeutsamer für die aktuelle Transformation ist allerdings das Faktum, dass in Ich das Matthäusevangelium als der alle Überlegungen leitende Text ausgestellt wird, das „größte philosophische Werk des Abendlandes“ (Maier: Ich, S. 88). Dieser Bezug, der für die theologisch-ethische Fundierung der Poetik-Vorlesungen entscheidend war, spielt in Die Universität keine Rolle mehr bzw., worauf noch einzugehen sein wird, noch keine Rolle. Kurz: Der Roman steht zwar unter dem Motto der Ich-Vorlesungen, kappt aber deren religionssensible Ausrichtung, die mit dem Matthäusevangelium begründete Poetik einer Transzendenz des Andersseins. Kein Gott, nirgends.

Der siebte Band, Die Familie (2019), markiert einen (unfreiwilligen, so die Inszenierung) Bruch im Erzählkosmos. Die „Familiensage“ (Maier: Die Familie. Roman. Berlin 2019, S. 17) fällt in sich zusammen, denn das Familienerbe gründet in tabuisierter Schuld. Die Familie hatte sich zu NS-Zeiten jüdischen Besitz angeeignet. Diese Erkenntnis dürfte auch für das weitere Projekt der Ortsumgehung insgesamt nicht ohne Folgen bleiben. Die Familie, in der Reihe als „metaphysisches Konstrukt“ (S. 151) entworfen, hat es so nie gegeben. Herkunftsliteratur muss gleichsam wie ein Schiff auf hoher See und bei laufendem Betrieb umgebaut werden, und wir beobachten sie dabei.Ob der Gesamtplan angesichts dessen tatsächlich nicht mehr aufrechterhalten werden kann, wird sich zeigen.

Der achte Band, Die Städte (2021), der frühe Reise-Erlebnisse des ‚Ich‘ in den Blick nimmt, zeigt sich bemerkenswert unbeeindruckt von den in Die Familie als einschneidend dargestellten Erfahrungen, genauer gesagt, bleibt die Erzählung ihrem radikalen Perspektivismus treu. Dass Gott/Religion im autosozio-biographischen Gebilde fehlen, lässt sich narratologisch erklären: Die interne Fokalisierung verpflichtet das Projekt ja geradezu dazu, auf die Selbstoffenbarungen der im Matthäusevangelium fundierten Frankfurter Poetik-Vorlesungen erst noch hinzuführen.

Die literarische Strategie der Reihe setzte demnach auf ‚Gott‘ als Leerstelle, als ausgespartes Zentrum des Ganzen, und „Der liebe Gott“ (s. o.) wäre dann in der Tat die letzte Stufe eines Werkprojekts, dessen Erzählzeit Mitte der 2000er Jahre enden dürfte. Ist aber das Fehlen Gottes eine Konsequenz der spezifisch autobiographischen Anlage von Ortsumgehung, und liest man die früheren Texte Ich sowie Sanssouci als Belege für die ‚Rückkehr der Religion in der Gegenwartsliteratur‘, dann bedeutet Post-Desäkularisierung im Fall Maiers, jener Phase des eigenen Herkommens einen eigenen Erzählzyklus einzuräumen, in der das Nicht-mehr- oder/und Noch-nicht-wieder-Glauben, das „Ich betete nicht“ (Maier: Die Universität, S. 142), die eigene Existenz bestimmt hat.

Religion/Gott im Ich-Paradigma der deutschen Gegenwartsliteratur. Ein Erklärungsversuch

Die Verpflichtung auf Selbstverwirklichung durch Wahl, die soziologische Modelle seit den 1980er Jahren hervorheben (vgl. Claudia Stockinger: Der ‚Feuilletonkatholizismus‘ und die Ästhetisierung der Religion nach 2000. In: Kunstreligion. Bd. 3: Diversifizierung des Konzepts um 2000, hg. von Albert Meier u. a. Berlin-Boston 2014, S. 11–42), rückt das ‚Ich-Sagen‘ wieder stärker in den Vordergrund. Auch die (aktuelle) Entscheidung für oder gegen Religion ist in der „expressivistischen Kultur“ (Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt/M. 2009, S. 857) der Gegenwart stets dem Primat der Selbstverwirklichung unterworfen. Die fiktionalen wie faktualen (Auto-) Soziobiographien der Gegenwart machen den Status Quo der gesellschaftlichen Postsäkularität beobachtbar, zu deren Merkmalen die Individualisierung des Umgangs (u. a.) mit Religion gehört.

Sich vom Druck des Wahlimperativs zu entlasten, kann deshalb Vieles heißen: Um eine Aufmerksamkeit sichernde Position zu besetzen, hat es sich seit der Jahrtausendwende z. B. als sinnvoll erwiesen, die Rede von Gott zu enttabuisieren (Stadler u. a.), sich für das Konstrukt einer ‚vorkonziliaren katholischen Kirche‘ stark zu machen (Mosebach u. a.) oder die soziale Frage in den Mittelpunkt zu stellen, den Klassismus (Baron u. a.) ebenso wie Gender und/oder Race (Jackie Thomae u. a.).

Dass sich „der sozialwissenschaftliche Diskurs der 2000er und 2010er Jahre ganz dominant sozialstruktureller Ungleichheit und Krisenphänomenen“ ‚zuwendet‘ (Jan Delhey/Christian Schneickert: Aufstieg, Fall oder Wandel der Erlebnisorientierung? Eine Positionsbestimmung nach 30 Jahren „Erlebnisgesellschaft“, in: ZfS 51/2022, 2, S. 114–130, hier S. 118), lässt sich eben inzwischen auch an der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ablesen. Seit den 1990er Jahren beherrscht den insbesondere feuilletonistisch geführten Diskurs das Thema der Ökonomisierung des literarischen Feldes. Wenn die ökonomische Dimension von Literatur im Vordergrund steht, geht es in erster Linie um Verkaufszahlen, Vertriebswege, Zielgruppen und mediale Logiken.

Für das Verständnis von Literatur bleibt das nicht ohne Folgen: Ihr Bild wird ent-idealisiert. Literatur wird jenes Eigenwerts beraubt, der ihr in der Sattelzeit (um 1800) zugeschrieben worden war. Arnold Stadlers eingangs bereits erinnerte Provokation von 1999 lässt sich ebenfalls auf diesen Kontext beziehen („[v]on Ficken hätte ich sprechen können, das war nun möglich […], nicht aber von Gott“; Ein hinreissender Schrotthändler, S. 34). Der hier in erster Linie auf Fragen sozialer Moral anspielende Befund ist dafür ins Ökonomische zu wenden und auf die Formel zu bringen: ‚Sex sells, Gott nicht‘. Erst vor diesem Hintergrund wird überhaupt verständlich, warum man sich ‚das Wort Gott‘ (wie Andreas Maier) explizit ‚gönnen‘ muss, als handle es sich um eine besonders kostspielige, jedenfalls in ökonomischer Hinsicht wenig Erfolg versprechende Anschaffung.

Interessant ist für mich, was daraus zu folgern ist und (tatsächlich ja auch) folgt(e). Sowohl Literatur vor dem Hintergrund der Idee ihrer Autonomie als auch Religion leben von einer Art Überschussökonomie. Positiv gesagt transportieren sie einen Mehrwert, der in rein wirtschaftlichen Maßstäben nicht zu fassen ist. Auf die seit um 2000 dominierende Rede von der Ökonomisierung der Literatur ausgerechnet mit einem Salto mortale in die Religion zu reagieren (wie Stadler, Maier u. a.), erzeugte bemerkenswerte Rückkopplungseffekte, indem Literatur genau dadurch einen neuen Wert erhielt.

Postsäkularität als Versuch, „mit der Säkularität über die Säkularität hinaus[zu]gelangen“ (Martin Stobbe: Postsäkular erzählen. Münster 2018, S. 3), heißt dann eben auch: Die Rede von der Religion/Gott wurde zur Distinktionsgeste gegen zeitgenössisch vorherrschende literarische Strömungen, die ihrerseits erfolgreich den ökonomischen Diskurs bedienten, wie ‚um 2000‘ z. B. die sogenannte Popliteratur. Religion/Gott wurde so zu einem Ermöglichungsraum für eben jene Eigenwertigkeit von Literatur, die im öffentlichen Diskurs einer Ökonomisierung (auch) der Literatur verloren zu gehen droht(e).

Dass sich innerhalb des skizzierten Ich-Paradigmas mit einem Trend zur (auto-) soziobiographischen Literatur die Aufmerksamkeit auf das Interesse an literarischen Erklärungen sozialer (Miss-) Verhältnisse hin verschoben hat, birgt (teils bereits genutzte) Chancen gerade für das Themenfeld Religion/Gott. Beispiele wie Ulrich Greiners öffentliches Eintreten für das Mysterium Fidei im Jahr 2020 (in: Die ZEIT Nr. 49, 26.11.2020, S. 62), das vom Fortbestand des 2010 bereits totgesagten (Gustav Seibt, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 88, 17./18.4.2010, S. V2/5) Feuilletonkatholizismus zeugt, belegen ja nicht nur die Gleichzeitigkeit der Diskurse.

Das Themenfeld Religion/Gott wird aktuell vielleicht weniger beleuchtet, aber es ist sichtbar und verweist anders als die soziologisch interessierten, sozialkritischen Romane auf die eigentliche Funktion der Literatur, die eben nicht darin besteht, ein Analyseinstrumentarium für gesellschaftliche Verhältnisse zu sein. Zu ihren ureigenen Aufgaben gehört vielmehr „die Auslegung der Existenz im Horizont ihrer Zufälligkeit, Endlichkeit, Glücksbedürftigkeit und Kommunikativität“. Wie Religion kann sie dazu beitragen, ‚das Unverfügbare‘ ‚aufzuhellen‘ (Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie. Berlin 2020, S. 334, 331). Gerade auch als genuin katholisch lesbare Literatur wie aktuell Peter Handkes Novelle Mein Tag im anderen Land (2021) ist dafür aufschlussreich.

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