Kein Außen der Macht?

Othering-Ordnungen und Subjektorientierung

Im Rahmen der Veranstaltung "Preis für Junge Theologie", 28.11.2024

„Ich sag nicht, dass alle so sind, aber man hört schon viele Nachrichten, dass sie Probleme machen.“ – Nachfrage: Wer ist sie? Welche Probleme meinst du? – „Muslime. Terrorismus.“

„Ich möchte nichts über den Islam lernen, ich bin hier im katholischen Religionsunterricht. Wir können schon über das Thema sprechen, aber dann bin ich die nächsten Wochen halt vor der Tür. Ich möchte nichts über irgendwelche … Türken lernen.“

„Ich war im Kindergarten mit vielen Muslimen, und hab menschlich kein Problem mit ihnen, ich sag ja nicht, dass alle abgeschoben werden sollten, und wenn da ein islamistisches Kind sitzt, sag ich ja nicht, dass es Scheiße ist, aber im katholischen Religionsunterricht sollte Islam kein Thema sein.“

Diese Zitate sind Schüleräußerungen aus einer 7. Klasse eines Nürnberger Gymnasiums im katholischen Religionsunterricht. Gefallen sind sie vergangenes Schuljahr in der ersten Stunde zum neu begonnenen Lernbereich „Islam“. Obwohl ich mich in meiner Dissertation mit religionsbezogenen Fremdzuschreibungen auseinandergesetzt habe, haben mich die Äußerungen in ihrer Vehemenz überrascht – da ich die Klasse zuvor als sehr aufgeschlossen erlebt habe.

Die Zitate zeigen die Relevanz von „Fremdheitserfahrungen und Othering“ in religiöser Bildung. Dieses Thema soll daher in diesem Beitrag zunächst in seiner grundlegenden Bedeutung reflektiert werden. Am Schluss komme ich noch einmal auf die erwähnte Stunde zurück.

 

Othering als ‚allgegenwärtige‘ Fremdzuschreibung

Othering bezeichnet einen Prozess des Fremd- bzw. Anders-machens von Menschen, der vielfach zu Diskriminierung, Ausgrenzung und Herabsetzung führt. Bekannt wurde der Begriff als Konzept aus der postkolonialen Theorie, als einflussreich gelten hier insbesondere die Forschungen von Gayatri Spivak und Edward Said, auch wenn letzterer den Othering-Begriff selbst nicht verwendet. Da Othering als wissenschaftlicher Begriff nicht einheitlich gebraucht wird, muss er genauer definiert werden. Wenngleich Prozesse des Fremdmachens in der menschlichen Interaktion bis zu einem gewissen Grad ein Alltagsphänomen darstellen, ist Othering von spontanen Ingroup-Outgroup-Prozessen zu unterscheiden (wenn bspw. im Sportunterricht die ‚eigene‘ gegen die ‚andere‘ Fußballmannschaft spielt). Eher wenig passend erscheint mir der Othering-Begriff auch als Beschreibung von Differenzherstellung im konfessionell-kooperativen Lernen, da diese in den allermeisten Fällen nicht mit gesellschaftlicher Benachteiligung verbunden ist.

Othering-Deutungsmuster kennzeichnet, dass sie in verschiedenen wichtigen Gesellschaftsbereichen zugleich, oft auch gesellschaftsübergreifend, wirkmächtig sind. Von Othering betroffene Menschen sind so in vielen wichtigen Lebenskontexten damit konfrontiert, als ‚Fremde‘ betrachtet zu werden – mit Folgen, die von Bildungsbenachteiligungen, Diskriminierung bei der Arbeits- oder Wohnungssuche bis hin zu (spontanen oder geplanten) gewalttätigen Übergriffen im öffentlichen Raum reichen. Häufig fehlen Betroffenen wirkungsvolle Mittel, sich gegen die ‚Allgegenwärtigkeit‘ der Fremdzuschreibung zur Wehr zu setzen. Trotz ihrer gewaltvollen Dimension erhalten Othering-Zuschreibungen durch ihre beständige Wiederholung oftmals den Anschein des ‚Allgemeingültigen‘ und werden zu nicht länger hinterfragten Wissensbeständen, die gesellschaftliche Interaktion beeinflussen.

Othering trägt in seinen Fremdzuschreibungen auf implizite oder explizite Weise ‚Wissen‘ über die ‚Fremdheit/Andersheit‘ bestimmter ‚Personen(gruppen)‘ und deren ‚Merkmale‘ weiter. Im Laufe ihres Lebens ‚lernen‘ Individuen durch Konfrontation mit diesen Othering-Zuschreibungen, ob die Merkmale auf sie ‚zutreffen‘ oder nicht, und ob sie sich auf dieser Grundlage als gesellschaftlich ‚zugehörig‘ oder ‚nicht-zugehörig‘ verstehen können/sollten. Insbesondere ein Gefühl der ‚Zugehörigkeit‘ wird häufig schnell in die persönliche Identitätskonstruktion übernommen und so zu einer impliziten Grundlage, wie Individuen auf die Gesellschaft und ihre Zugehörigkeitsverhältnisse blicken. Im Rahmen eines ‚Self-Othering‘ können aber auch von Othering Betroffene die Zuschreibungen für sich übernehmen und sich selbst als die ‚Anderen/Fremden‘ verstehen.

 

Othering als dispositive Wissens-Ordnung

Nicht nur im Blick auf koloniale Kontexte heben viele grundlegende Texte zum Thema den Wissensaspekt besonders hervor: Othering-Prozessen liegt ein hegemonialer Deutungsanspruch zugrunde, der seine Wirkmacht auch über die Reproduktion von ‚Wissen‘ über die als ‚fremd/anders‘ Bezeichneten entfaltet. Mit einem Begriff von Michel Foucault lassen sich Othering-Wissensordnungen auch als ein gesellschaftliches „Dispositiv“ bezeichnen (Thomas-Olalde & Velho, 2011, S. 37–39).

Fremdwahrnehmungen und -zuschreibungen, schreibt Julia Reuter, sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, „dass wir eine ‚Ordnung‘ in Form von Wirklichkeitsvorstellungen, Wahrnehmungsmustern, Erfahrungswissen, Beurteilungsmaßstäben, gesellschaftlichen Konventionen und Normen in uns tragen, mit der wir die Menschen, Dinge und Sachverhalte um uns herum als zugehörig oder nicht-zugehörig, als vertraut oder fremd identifizieren, sprich einordnen können“ (Reuter, 2002, S. 13).

Dass Menschen durch bestimmte ‚Ordnungen‘ geprägt sind, die manche Dinge als ‚fremd‘ und manche als ‚vertraut‘ erscheinen lassen, ist wohl ein bekanntes Phänomen. Das durch Foucault und postkoloniale Theorie geprägte Othering-Konzept geht aber einen entscheidenden Schritt weiter: Nach ihm ist das „heterogene Ensemble“ sozialer Ordnungen, bestehend z. B. aus Diskursen, Gesetzen, institutionellen Vorgaben, Raumgestaltungen und vielen weiteren Elementen, wiederum durch ein zugrundeliegendes Dispositiv miteinander verbunden (Foucault, 1978, S. 119–120). Nach Foucault erfüllen Dispositive immer auch eine „strategische Funktion“, im Falle von Othering begründen sie die gesellschaftliche ‚Zugehörigkeit‘ bestimmter Menschen, indem sie zugleich die ‚Nicht-Zugehörigkeit‘ anderer, als ‚fremd‘ markierter Menschen. Wahrnehmungen von ‚Fremdheit/Andersheit‘ sind nach diesem Verständnis nicht allein auf individuelle Faktoren zurückzuführen, sondern haben auch eine gesellschaftlich-strukturelle Dimension. Auch ‚Wissen‘ über ‚Religionen‘ bzw. über ‚religiöse Fremdheit‘ wird so in einer bestimmten Weise vorstrukturiert (Mecheril & Thomas-Olalde, 2011).

 

Othering-Diskurse im Bildungsbereich

Bei der Planung von (inter-)religiösen Lernsequenzen ist davon auszugehen, dass Lernende und Lehrende den Lernprozess nicht als tabula rasa beginnen, sondern durch gesellschaftliche Darstellungen von ‚Religion‘ vorgeprägt sind. Laut der repräsentativen Studie Religionsmonitor 2019 empfindet etwa rund die Hälfte der Befragten den Islam als bedrohlich. Eine solche gesellschaftliche Stimmungslage kann Fremdwahrnehmungen und -zuschreibungen in (inter-)religiöser Bildung beeinflussen – und teils offen aggressive Reaktionen hervorrufen, wie auch die einführenden Zitate zeigen.

Umso bedenklicher ist es, wenn Lernansätze und Lehrmaterialien religiöser Bildung fremdmachende Religionsdarstellungen wiederholen, etwa indem sie ebenfalls in stereotyper Weise auf das Bild eines ‚gewalttätigen Islams‘ rekurrieren. Studien zeigen, dass auch in aktuellen Lehrmaterialien für den katholischen Religionsunterricht Othering-Darstellungen zu finden sind (ebenso in Darstellungen des Judentums, vgl. Woppowa, 2024, vgl. auch Willems, 2020). Auch in der wissenschaftlichen Religionspädagogik reflektierten viele Ansätze die Othering-Problematik lange Zeit zu wenig, indem sie insbesondere für den Bereich interreligiöse Bildung vereindeutigend von der impliziten Gleichsetzung ‚christlich = eigen‘ und ‚nichtchristlich = fremd‘ ausgingen (Freuding & Lindner, 2022, S. 95).

Der Bildungsbereich mit seinen repräsentativen Institutionen ist ein zentrales Feld der Gesellschaft, in dem gesellschaftliche Diskurse über ‚eigen‘ und ‚fremd‘ verhandelt werden und diesbezügliches ‚Wissen‘ erlernt wird. Die Beschäftigung mit der Othering-Problematik zwingt pädagogische Fachdisziplinen wie die Religionspädagogik dazu, sich auch mit ihrer eigenen Bezeichnungsmacht auseinanderzusetzen.

Die Verbindung von Wissensreproduktion und Differenzherstellung stellt so für (inter-)religiöse Bildung eine große Herausforderung dar: Wie lässt sich Wissen über ‚Religionen‘ in der Begrenztheit des Unterrichts vermitteln, ohne ein ausgrenzendes Othering-‚Wissen‘ zu reproduzieren? Wie lässt sich z. B. otheringsensibel über das Problem des religiös motivierten Terrorismus sprechen?

In die Lernbereiche religiöser Bildung wirken vielfältige gesellschaftlich vorhandene Othering-Wissensbestände hinein. Diese lassen sich pädagogisch nicht einfach ignorieren. Nicht ausreichend ist aber auch die bloße Negation des Othering-‚Wissens‘. Oft wird auch in Ansätzen, die Othering dekonstruieren möchten, erst explizit, was zuvor nur untergründig präsent war (Riegel, 2016, S. 235). Othering-Kritik steht damit stets vor der „Herausforderung, nicht zu wiederholen, was kritisiert werden soll“ (Riegel, 2016, S. 238). Auch dieser Beitrag ruft kritisch betrachtet erneut die Verbindung ‚Islam‘ und ‚Gewalt‘ ins Gedächtnis. Welche Auswege kann es aus der gesellschaftlichen Wiederholung fremdmachender Zuschreibungen geben?

 

Kritik am fehlenden ‚Außen‘ des Othering-Konzepts

Zur Beantwortung obiger Frage müssen zunächst wichtige gedankliche Grundannahmen der Othering-Theorie kritisch in den Blick genommen werden. Diese und die postkoloniale Kritik insgesamt sind sehr heterogen, sodass pauschalisierende Aussagen nicht zulässig sind. Gleichwohl bauen große Teile der postkolonial geprägten Othering-Forschung auf Foucaults einflussreicher These auf, dass es kein ‚Außen‘ der hegemonialen gesellschaftlichen Machtbeziehungen gibt. Danach werden gesellschaftlich zwar permanent ‚Andere/Fremde‘ produziert, die aus dem ‚Innen‘ der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Bei diesen Unterscheidungen handelt es sich aber nur um Konstruktionen – die jedoch über die gesamte Gesellschaft hinweg wirkmächtig sind, ohne dass es ein ‚Außen‘ jenseits der machtvollen Zuschreibungen gäbe (Thomas-Olalde & Velho, 2011, S. 47–49). Auf dieser Grundlage lässt sich formulieren:

„Ein Paradoxon hegemonialer diskursiver Praktiken besteht darin, dass sie Fremdheit und Vertrautheit auf konstitutive Art und Weise miteinander verweben: jedem ist vertraut, wer die Fremden sind. Die Fremden sind nie Fremde im eigentlichen Sinne. Sie sind viel eher Vertraute: man kennt sie. […] jeder weiß, wer zu den Anderen gehört, und man weiß das Wesentliche über sie“ (Mecheril & Thomas-Olalde, 2011, S. 51).

Diese Thesen besitzen in vielerlei Hinsicht Plausibilität, sowohl was den Aspekt des ‚Wissens‘ als auch den der ‚Allgegenwärtigkeit‘ betrifft. Dennoch lässt sich die Grundannahme eines fehlenden ‚Außen‘ des Othering aus mehreren Gründen kritisch betrachten:

1) Ein Othering-Konzept, das kein ‚Außen‘ der Othering-Dispositive mehr zulässt, tendiert zugleich dazu, Othering als gesellschaftliche Gesetzmäßigkeit in normativer Weise vorauszusetzen. Die These eines „jeder weiß“ ist jedoch eine sehr starke These, die besonderer Begründung bedarf – vor allem wenn zugleich davon ausgegangen wird, dass Othering-Dispositiven stets eine ‚strategische Funktion‘ zugrundeliegt, nämlich ein gesellschaftliches ‚Innen‘ von einem ‚Außen‘ zu scheiden. In diesem Zusammenhang ist darauf zu achten, im Rückgriff auf freudianisches Vokabular nicht ein unterbewusstes ‚gesellschaftliches Selbst‘ zu konstruieren, dem eine ‚fremde Identität‘ gegenübersteht. Gerade wenn angenommen wird, dass Othering-Prozesse in verschiedenen gesellschaftlichen Räumen gleichzeitig wirkmächtig sind, sind individuelle Reaktionen auf seine machtvollen Zuschreibungen besonders zu berücksichtigen, um keine essentialisierenden Gesellschaftskonstruktionen zu reproduzieren.

2) Für die Othering-Theorie grundlegende Werke sind von der Foucault’schen These geprägt, dass Subjekte „erst durch Diskurse hervorgebracht“ werden. Ein „prädiskursives Subjekt“ wird zumindest in Saids Orientalismus nicht angenommen (Castro Varela & Dhawan, 2020, S. 109). Damit erscheinen die Subjekte der „Missrepräsentation“ von Othering-Diskursen gänzlich ausgeliefert – ohne dass ersichtlich wäre, wie eine „wahre“ Repräsentation des betroffenen Subjekts aussehen könnte, die nicht wiederum eine vereindeutigende Zuschreibung wäre (Castro Varela & Dhawan, 2020, S. 125). Wenn die diskursiven Zuschreibungen kein ‚Außen‘ zulassen, ist es ebenso schwer zu benennen, von welchem Raum aus persönlicher Widerstand gegen die Gewalt der Othering-Diskurse initiiert werden könnte. Auch Foucaults Philosophie ist mit diesem gedanklichen Problem konfrontiert: Obwohl sie, schreibt Axel Honneth, ganz „auf das Leiden des menschlichen Leibes unter den disziplinierenden Akten der modernen Machtapparate konzentriert scheint, findet sich in [Foucaults] Theorie nichts, was dieses Leiden als Leiden artikulieren könnte“ (Honneth, 1999, S. 92).

3) Die Frage nach dem Raum individueller Artikulation (und Freiheit) wird nicht nur von Foucault teils widersprüchlich beantwortet (Freuding, 2022, S. 269–275), sie betrifft auch eine zentrale religionspädagogische Figur im Kern: die der Subjektorientierung. Entwickelt in Kritik an katechetischen Moralvorstellungen ist jene von Beginn an am Raum individueller Freiheit orientiert. Die Kritik an vereindeutigenden Subjektivierungen, etwa dass im katholischen Religionsunterricht alle Teilnehmenden katholische Gläubige sein sollten, lässt sich prinzipiell gut mit der Kritik an Othering-Zuschreibungen zusammendenken. Wird für machtvolle subjektivierende Diskurse aber kein ‚Außen‘ mehr angenommen, schwindet auch der denkerische Raum, in dem die Orientierung an individuellen Glaubens- und Weltanschauungsperspektiven bzw. deren individuelle Entwicklung noch möglich erscheint. Kann dann eine Subjektorientierung mehr sein als eine weitere Form der Subjektivierung, in der die ‚Subjekte‘, an denen sich ‚orientiert‘ wird, erst geschaffen werden? Zwar ist die philosophische Kritik an Subjektivierungspraxen auch für eine religionspädagogische Theorie der Subjektorientierung in hohem Maße relevant. Ohne Modifikation aber ist ein Othering-Konzept, das kein ‚Außen‘ machtvoller subjektivierender Praxen zulässt, mit bestehenden Ansätzen der Subjektorientierung
wohl kaum vereinbar.

 

Individuelle Irritationen und Fragen nach dem ‚Außer-ordentlichen‘ des Othering

Weiterführend kann hier die Philosophie von Bernhard Waldenfels sein. Seine Kritik an dem fehlenden ‚Außen‘ in Foucaults [und Luhmanns] Ansätzen ist auch für eine religionspädagogische Adaption des Otheringkonzepts relevant. Hilfreich kann Waldenfels’ Philosophie ebenso für die Frage sein, wie sich trotz vielfältiger Fremdbestimmungen subjektiver Identitäten und Perspektiven weiterhin an der Idee der Subjektorientierung festhalten lässt.

„Ein Individuum“, schreibt Waldenfels, „das sich in bestimmten Wissens- und Machtformationen als ‚Subjekt‘ wiedererkennt, und dies auf höchst variable Weise, ist gewiss mehr als ein Individuum, das eine Leerstelle ausfüllt“ (Waldenfels, 1995, S. 224). Mit solchen Sätzen wendet sich Waldenfels gegen Foucaults Verständnis von Subjektivierungspraxen, wonach gesellschaftliche Dispositive bzw. Diskurse die ‚Form‘ vorgeben, innerhalb derer sich Individuen als ‚Subjekte‘ erkennen und verstehen können. Eine „Hermeneutik des Selbst“, so Waldenfels weiter, sei schwer mit der allumfassenden Ordnung der Diskurse in Einklang zu bringen – „es müssen sich im Gefüge der ‚Wissensformationen‘ und ‚Machtsysteme‘ ebenfalls Spalten öffnen“
(Waldenfels, 1995, S. 224).

Wie Foucault geht Waldenfels in seiner Philosophie nicht von einem ‚freien Subjekt‘ aus, sondern nimmt immer wieder die verschiedenen sozialen, körperlichen und kognitiven Ordnungen in den Blick, von denen die Ich-Erfahrung geprägt ist. Für Waldenfels sollte man so „das Subjekt durch eine Instanz ersetzen, die beteiligt ist, nicht mehr und nicht weniger“ (Waldenfels, Gehring & Fischer, 2001, S. 435). Denn trotz der Fremdbestimmung des Ichs durch vielfältige Ordnungen gibt es nach wie vor Dinge, die ein Ich selbst tut oder erfährt – und niemand sonst. Mit am deutlichsten zeigt sich diese Ich-Beteiligung für Waldenfels in der Fremdheitserfahrung – hier offenbart sich eine individuelle Erfahrungsposition, über die das jeweilige Ich nicht einfach hinweggehen kann. Die unerwartete Fremdheitserfahrung irritiert die subjektiven Erfahrungsordnungen, indem sie diese auf ein derzeit unzugängliches „Außer-ordentliches“ hinweist (Waldenfels, 1997, S. 72–73). Die Irritation zeigt damit die Begrenztheit subjektiver Ordnungen auf, sie offenbart aber auch die Involviertheit des erfahrenden Individuums, für das seine subjektiven Ordnungen eine (teils existenzielle) Bedeutsamkeit besitzen.

Zugleich verweist die Fremdheitserfahrung auf einen Raum des Unerwarteten und Unsagbaren, dem Foucaults Philosophie Waldenfels zufolge zu wenig Beachtung schenkt (Waldenfels, 1995, S. 224). Indem ein Ich durch eine Irritation seiner Erfahrung die Begrenztheit seiner subjektiven Ordnungen bemerkt, findet zudem eine gewisse Distanzierung von diesen Ordnungen statt – wodurch das Ich erkennen kann, dass es als ‚Subjekt‘ nicht einfach in einer einzigen Ordnung aufgeht, sondern sich immer im ‚Zwischen‘ widersprüchlicher Ordnungen befindet. In diesem Distanzierungsprozess von den ‚eigenen‘ subjektiven Ordnungen können schließlich auch ‚Ansprüche‘ anderer Individuen aufscheinen, die durch ‚eigene‘ Zuschreibungen verdeckt werden. Kritisch reflektieren lässt sich so nicht zuletzt der Einfluss von gesellschaftlichen Othering-Ordnungen auf subjektive Identitätskonstruktionen. Zugleich kann gefragt werden, welches ‚Außer-ordentliche‘ durch solche Othering-Zuschreibungen verdeckt wird. Die Philosophie Waldenfels’ kann auf dieser Grundlage in fruchtbarer Weise mit der postkolonialen Philosophie Gayatri Spivaks zusammengedacht werden.

Einschränkend ist hier noch hinzuzufügen, dass auch manche Ausführungen Waldenfels’ aus einer otheringsensiblen Perspektive kritisch einzuordnen sind, z. B. wenn in ihnen ein essentialisierendes Verständnis von Kultur- oder Geschlechterdifferenz aufscheint (Waldenfels, 1997, S. 69). Waldenfels selbst verwendet den Othering-Begriff nicht. Über die „Beunruhigung durch das Fremde“ spricht er bisweilen in einer fast mystifizierenden Sprache und immer wieder auch in eher verallgemeinernden Formulierungen (Waldenfels, 1997, S. 73–74).

Dennoch geht solche Kritik meines Erachtens am Kern der Waldenfels’schen Philosophie vorbei. Seine Betonung, dass es sich beim Fremden um kein „Spezialthema“ handle, und seine Hervorhebung der Individualität und Kontextualität von Erfahrungen ermöglichen eine nicht-essentialisierende Betrachtung von Fremdheitserfahrungen und -zuschreibungen. Dies macht seine Philosophie zu einem gewinnbringenden Gegenüber der postkolonialen Othering-Theorie. Zusammen bilden sie verschiedene Aspekte des hier untersuchten Themenfeldes ab, die gleichermaßen religionspädagogische Relevanz haben.

 

Grundlinien eines subjektorientierten (De-)Othering-Konzepts für religiöse Bildung

Das wichtigste Anliegen der angeführten Kritik ist die Suche nach ‚Räumen der Freiheit‘, die die Allgegenwart und Macht von Othering-Zuschreibungen begrenzen. Ziel ist, dass von Othering betroffene Menschen die Begrenztheit solcher Zuschreibungen erkennen können – und so zumindest dem Umstand entgegenwirken, dass sie selbst sich die ausgrenzenden Fremdzuschreibungen ‚zu eigen‘ machen. Die verschiedenen Grade der „Verletzlichkeit“, die sich aus intersektional potenzierbaren Othering-Diskursen ergeben können, sind nach diesem Verständnis nicht als deterministische Konsequenz zu verstehen, sondern als Beschreibung einer Wahrscheinlichkeit, die eintreten kann, aber nicht muss. Durch Konfrontation mit Othering-Zuschreibungen können Individuen lernen, sich selbst in deren ‚Eigen‘- und ‚Fremd‘-Kategorien zu begreifen. Doch erstens muss ein Individuum eine solche Konfrontation in seiner individuellen Biografie nicht zwangsläufig erfahren und erlebt diese zweitens auf eine je individuelle Weise. Was eine ‚betroffene‘ Person als Othering empfindet, versteht eine andere vielleicht nicht als solches, selbst wenn an ihr dieselben ‚Merkmale‘ wahrgenommen werden wie an der ersten Person.

Auch für Personen, die erkennen, dass ihre Fremdzuschreibungen durch Othering-Wissens-Ordnungen beeinflusst sind, müssen Wege aufgezeigt werden, sich von ihrem Einfluss zu befreien. Weiterführend kann hier die Erkenntnis sein, dass Subjekte immer durch widersprüchliche Ordnungen geprägt werden. Angesichts dessen können zum einen Fremdzuschreibungen jedweder Art nie die innere Vielfalt und Widersprüchlichkeit der betroffenen Menschen erfassen. Zum anderen wird es so möglich, auch unterstützende Ordnungen in den Blick zu nehmen. ‚Subjekte‘ werden gesellschaftlich z. B. nicht nur durch Othering-Dispositive geprägt, sondern auch durch Dispositive, die Othering-Zuschreibungen entgegenstehen (etwa durch das Bemühen vieler gesellschaftlicher Akteure, Ausgrenzung zu vermeiden). Diese unterstützenden Ordnungen geraten aber leicht aus dem Blick, wenn der Fokus auf der gesellschaftlichen ‚Allgegenwärtigkeit‘ des Otherings liegt.

Eine zentrale Rolle bei der Suche nach dem ,Außer-ordentlichen‘ des Othering spielt die pädagogische Bearbeitung und Hervorrufung von individuellen Irritationen. Indem Othering-Wissen gezielt irritiert wird, können Individuen angesichts ihrer persönlichen Irritation erkennen, dass ihre subjektiven Wissensbestände (implizit) von gesellschaftlichen Othering-Ordnungen geprägt sind (genauer im nächsten Abschnitt). Zugleich erfolgt die Wahrnehmung der subjektiven Othering-Wissensbestände schon aus einer gewissen Distanzierung heraus, was es leichter macht, sich von ihnen zu lösen. Der Ansatz versucht damit auch eine Antwort auf oben benannte, zentrale Herausforderung otheringkritischer Pädagogik zu finden: „nicht zu wiederholen, was kritisiert werden soll“ (Riegel, 2016, S. 238). Vor diesem Hintergrund ist es oft wenig sinnvoll, Lernprozesse mit der Wiederholung des stereotypen ‚Wissens‘ zu beginnen (z. B. indem in der Klasse ‚Vorurteile über den Islam‘ gesammelt werden, die dann später widerlegt werden sollen). Besser sind die Irritation des stereotypen ‚Wissens‘ von Beginn an sowie mehrperspektivische, sich gegenseitig hinterfragende Betrachtungsweisen – besonders um die Überbetonung einer einzigen „Differenzlinie“ zu vermeiden (Riegel, 2016, S. 233). Dass Lehrpersonen in der Lage sind, die Kritik von Othering-Wissen in einem dekonstruktiven, entlarvenden Rahmen stattfinden zu lassen, setzt aber voraus, dass sie selbst sich schon zuvor mit gesellschaftlich dominanten Othering-Wissensordnungen auseinandergesetzt haben und auch ihr mögliches subjektives Geprägtsein von ihnen reflektiert haben. Dies ist eine der wichtigsten Aufgaben der Professionalisierung von Lehrkräften (Freuding & Lindner, 2022).

Betrachtet werden Irritationen einerseits in ihrem Hinweischarakter, indem sie auf die Begrenztheit und Widersprüchlichkeit subjektiver Weltdeutungen, aber auch auf Deutungsansprüche anderer Individuen aufmerksam machen, für die innerhalb bestimmter (hegemonialer) Weltdeutungen kein Raum ist. Gewürdigt wird die Irritation andererseits als Ereignis an sich – in dem sich, wenn man so will, mit Homi K. Bhabha ein ,Third Space‘ öffnet, in dem bestehende Deutungen nicht aufgehen. Während es sich bei Othering-Zuschreibungen um eine (oft implizite) Reproduktion des vermeintlichen ‚Wissens‘ über ‚Fremdheit‘ handelt, sind irritierende Fremdheitserfahrungen im Waldenfels’schen Sinne als eine Krise des Wissens zu betrachten.

Im Eingehen auf individuelle Irritationen lassen sich so auch Empfindungen „bleibender Fremdheit“ würdigen (Leimgruber, 2007, S. 109). Neben dem Ernstnehmen der Individualität der Fremdheitserfahrungen sollte berücksichtigt werden, dass selbst Gefühle ‚bleibender Fremdheit‘ wieder verschwinden oder bedeutungslos werden können. Lernprozesse sollten sowohl Phasen der „Dramatisierung“ von Fremdheits- und Ausgrenzungserfahrungen enthalten als auch Phasen der „Entdramatisierung“ – z. B. indem aus einem anderen Blickwinkel auf jene Erfahrungen geblickt wird oder Kontexte der jeweiligen Erfahrungen reflektiert werden. Hierbei ist ein wichtiger Unterschied hervorzuheben: Während es bei obigen Empfindungen ‚bleibender Fremdheit‘ vor allem vom einzelnen Individuum abhängt, ob diese fortbestehen oder nicht, haben Othering-Fremdzuschreibungen eine gesellschaftliche Dimension, die außerhalb der Kontrolle des betroffenen Individuums liegt.

In einem bestimmten Verständnis hält der Ansatz an der Idee der Subjektorientierung fest, indem er mit Waldenfels individuelle Irritationen, Wider- und Ansprüche sichtbar zu machen versucht, die durch hegemoniale Ordnungen verdeckt werden. Der Ansatz geht aber dabei nicht von einem autonomen ‚freien Subjekt‘ aus, sondern von Subjekten, die durch vielfältige Ordnungen beeinflusst und nicht selten auch fremdbestimmt werden. Mit Foucault versteht er Subjektorientierung als Sichtbarmachung von Subjektivierungspraxen, wie auch das „scheinbar Persönliche und Subjektive“ durch soziale Wissens-Macht-Ordnungen geprägt sein kann.

Kritisch reflektiert der Ansatz die pädagogische Subjektorientierung dabei ebenfalls als eine Subjektivierungspraxis: Diese konstruiert ‚Subjekte‘ in einer bestimmten Weise und sie übergeht leicht – obwohl sie sich ‚am Subjekt orientieren‘ will – eine bestimmte Perspektive, nämlich die der Lehrperson selbst. Gerade die Lehrperson gibt in Lernprozessen aber häufig eine machtvolle Ordnung vor, welche Perspektiven als ‚zugehörig/nicht-zugehörig‘ bzw. ‚eigen/fremd‘ zu verstehen sind. Deshalb ist es wichtig, Ordnungen des Lernprozesses immer wieder kritisch zu reflektieren: Wer gibt vor, wie über ‚Fremdheit‘ gesprochen wird? Welche Personen können nicht widersprechen – weil nur über ‚sie‘ gesprochen wird, sie aber nicht Teil der Lerngruppe sind, oder weil sie schweigen, z. B. weil sie sich im Moment nicht sicher genug fühlen, ihren Widerspruch zu artikulieren?

Grundlegend können folgende drei subjektive Blickwinkel auf das Themenfeld ‚Fremdheit/Othering‘ differenziert werden, die sich in ihren jeweiligen Positionen deutlich voneinander unterscheiden: 1) diejenige, die Fremdheit erfährt und zuschreibt; 2) diejenige, die sich selbst als ‚Objekt‘ einer Fremdzuschreibung erfährt und versucht, sich gegen diese Zuschreibung zu wehren; 3) diejenige, die Fremdwahrnehmungen und Ausgrenzungserfahrungen anderer aus einer scheinbar unbeteiligten, beobachtenden Position heraus beschreibt (Abb. 1). Auch die beobachtende Person kann jedoch unerwartet irritiert werden und so selbst Fremdheit erfahren und zuschreiben – oder sie kann sich (implizit oder explizit) mit Subjektposition 1 oder Subjektposition 2 identifizieren. Da die pädagogische Reflexion von Othering und Fremdheit in der Regel aus Subjektposition 3 heraus erfolgt, ist es besonders wichtig, sich ihre Komplexität bewusst zu machen. Bereits jene drei theoretischen Positionen, die als komplexitätsreduzierte Annäherung an eine weitaus größere Vielfalt möglicher Perspektiven zu verstehen sind, zeigen, dass über ‚Fremdheit/Othering‘ nicht in vereindeutigender
Weise ­gesprochen werden kann.

 

Ein konkretes Unterrichtsbeispiel

In eingangs erwähnter Stunde wirkte es zunächst so, als wäre die Klasse einhelliger Meinung. Es tobte ein Sturm der Entrüstung, und das alles nur, weil ich ankündigte, dass unser nächstes Thema ‚Islam‘ sein würde. Mich erinnerte der Stundenbeginn an eine Szene, die der Religionspädagoge Manfred Riegger vor ein paar Jahren ähnlich für eine bayerische Mittelschule beschrieben hat (Riegger, 2017, S. 39). Trotz meiner eigenen Forschungen war es für mich bedrückend, zu sehen, welch starke Abwehrhaltung schon bei Schüler:innen aus der 7. Klasse auftraten, schulartübergreifend und anscheinend über viele Jahre hinweg in relativ ähnlicher Form. Bereits zu Beginn der Stunde war ich in meiner geplanten Unterrichtsanlage herausgefordert und innerlich irritiert. Gegenwärtige mediale und politische Debatten zum Thema ‚Migration‘, ‚Asyl‘, ‚Islam‘, ‚Terrorismus‘ im Hinterkopf, deutete ich die Schüleräußerungen für mich persönlich unmittelbar als Zeichen gesellschaftlich immer stärker auftretender Ressentiments.

Aus einer der Vorstunden wusste ich jedoch, dass sich eine Schülerin schon lange Zeit auf das Thema ‚Islam‘ gefreut hatte (u. a. weil eine ihrer Freundinnen selbst Muslimin ist). Nach der ersten Überraschung wieder an Sicherheit gewinnend sagte ich der Klasse, dass ich die geäußerte Kritik gehört habe, aber vermute, dass nicht alle im Klassenzimmer derselben Meinung sind. Hörbare Gegenstimmen gab es bis zu diesem Zeitpunkt keine. Nachdem ich explizit den Raum dafür geöffnet hatte, meldeten sich nun mehrere Schüler:innen und sagten, dass sie mit den bisherigen Äußerungen nicht einverstanden seien. Der Tonfall war wiederum recht harsch. Ein Schüler sagte, er habe „noch nie so was verfassungsfeindliches gehört“ wie in den Aussagen zu Stundenbeginn – was in einer erbosten Diskussion mit den Vorredner:innen mündete.

Meine erste Deutung bildete also nicht das vollständige Stimmungsbild der Klasse ab. Die hitzige Diskussion beeindruckte die Klassengemeinschaft merklich. In dramatisierender Weise hob ich die Unterschiedlichkeit der Sichtweisen auf das Thema ‚Islam‘ hervor, die nun sichtbar geworden waren. Hierauf folgte ein eher entdramatisierender Zugang: Bezugnehmend auf das vergangene Schuljahr sagte ich, dass mich die Klasse hoffentlich als eine Lehrkraft kennengelernt habe, die verschiedene Meinungen und unterschiedliche persönliche Perspektiven auch auf Glaubensfragen zugelassen und sich über offene Diskussionen gefreut habe. Dies wolle ich auch bei diesem Thema genauso halten, unter einer Bedingung: dass respektvoll diskutiert werde – und dass dieser Respekt auch Personen entgegengebracht werde, die nicht im Klassenzimmer sind und nicht selbst aktiv widersprechen können. Ich fragte die Klasse, wie sich wohl ein muslimisches Kind fühlen würde, wenn es die Diskussion in der Klasse miterlebt hätte. Die Antwort eines Schülers: „Es würde weinen.“ Darauf sprach er sich noch einmal klar für einen respektvollen Umgang mit seinen Mitmenschen aus.

Angesichts der im Klassenraum sichtbar werdenden Perspektivenvielfalt zeigte ich der Klasse (spontan) neun Porträtfotos von acht muslimischen Personen und einer christlichen Person, die im Lehrwerk Religion vernetzt plus abgebildet sind (s. Abb. oben). Die Seite, die das Kapitel über den Islam im Schulbuch eröffnet, betont die Vielfalt muslimischen Lebens. Mir gab die Fotoseite Gelegenheit, eine Brücke zu schlagen, und darauf hinzuweisen, dass sich diese intrareligiöse Vielfalt unter Muslim:innen genauso zeigen kann, wie gerade eben im Klassenraum. Darauf entspann sich eine Diskussion darüber, ob die bzw. welche abgebildeten Personen muslimisch seien. Einige vermuteten, dass die Frauen ohne Kopftuch Christinnen sein müssten. Darauf wies die Schülerin mit der muslimischen Freundin deutlich darauf hin, dass nicht alle muslimischen Frauen ein Kopftuch tragen.

Im vorherigen Abschnitt wurde der Ansatz beschrieben, Othering-Wissen gezielt zu irritieren. Die Schulbuchseite stellt eine subtile und altersgerechte Irritation von stereotypem Wissen dar, das eventuell auf Schülerseite besteht, und ist so ein gutes Beispiel für oben dargestellten Ansatz.

Weil das Gespräch im weiteren Verlauf auf das Thema Terrorismus zurückkam (schon zu Beginn war das Stichwort gefallen, vgl. das Zitat am Textanfang), zeigte ich der Klasse ebenfalls spontan noch ein weiteres Foto: Abgebildet ist darauf ein Muslim, der nach dem muslimfeindlichen Anschlag in Christchurch vor einer Vielzahl abgelegter Blumen betet. Ziel war auch hier die Irritation von Othering-Wissen, indem hier ein Muslim als Opfer terroristischer Attacken gezeigt wird und nicht, wie häufig in öffentlichen Debatten mit einem pauschalen ‚Tatverdacht‘ verbunden wird.

Hilfreich bei der Lenkung des Unterrichtsgesprächs war für mich das oben vorgestellte Modell, das von unterschiedlichen Blickwinkeln auf ‚Fremdheit‘ und ‚Othering‘ ausgeht, und dabei auch die Perspektiven derjenigen miteinzubeziehen versucht, die sich gegen Fremdzuschreibungen wehren wollen, aber oft nicht die Mittel dazu haben. Auch während ich diesen Text schreibe, denke ich an die muslimische Freundin der Schülerin: Wird ihr von der Diskussion im Unterricht erzählt werden? In welchem Tonfall? Welche Schlüsse wird sie selbst daraus ziehen? Dieses kleine Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, dass Bildung otheringsensibel ausgerichtet ist, und dass es Menschen gibt, die von gesellschaftlich verbreiteten Fremdzuschreibungen (teils aus unerwarteter Richtung) betroffen sind und sich ihrer Wirkmacht oft nur schwer entziehen können.

Zugleich ist zu wünschen, dass der Freundin nicht nur die Abwehrhaltungen gegenüber dem Islam weitererzählt werden, sondern auch das engagierte Dagegenhalten der Mitschüler:innen, und dass sie das Vorhandensein stützender Stimmen ebenso in ihr Selbstbild miteinbeziehen kann. Die Unterrichtsstunde zeigt, wie schnell sich die Deutung solcher Situationen verändern kann – auch meine persönliche Deutung, die sich im Lauf der Lernsequenz immer wieder änderte.

In der anschließenden Stunde wollte ich wegen der mehrfachen Erwähnung des Themas ‚Terrorismus‘ noch einmal expliziter über die mediale Berichterstattung zu diesem Thema, aber auch über persönliche Ängste der Schüler:innen sprechen. Diesmal zeigte sich die Klasse jedoch gelangweilt, wohl einerseits, weil der Versuch der Medienkritik für diese Altersstufe noch zu komplex war, und andererseits, weil diejenigen, die in der ersten Stunde am lautesten Kritik am Thema ‚Islam‘ geübt hatten, in dieser Stunde nicht anwesend waren. Wieder zeigte sich das Stimmungsbild deutlich verändert, und scheinbar konsensual wurde verlautbart, dass sie als Klasse das, worauf ich mit der zweiten Stunde hinauswollte, schon in der ersten Stunde verstanden hätten. Am Stundenende hatte die Klasse Gelegenheit, auf kleinen Zetteln aufzuschreiben, welche Einzelthemen sie interessieren würden. Bemerkenswerterweise stand auf mehreren Zetteln erneut grundsätzliche Kritik am Thema ‚Islam‘, die in der Stunde selbst jedoch nicht öffentlich geäußert wurde.

Die beiden Stunden zeigen die Komplexität solcher Unterrichtssituationen, in der ich auch meine eigene Planung spontan ändern musste. Einzelne Wortmeldungen oder die Ab-/Anwesenheit weniger Personen können die Gesprächsdynamik stark verändern. Deutlich wurde auch die Wirkmacht des kommunikativen Rahmens, den die Lehrkraft vorgibt. Gleichwohl sind die Interventionsmöglichkeiten von Einzelstunden sichtbar gering. Diejenigen, die die Kritik am Lehrplanthema auf die kleinen Zettel geschrieben hatten, blieben auch nach den ersten beiden Stunden wohl relativ konstant bei ihrer ursprünglichen Sichtweise.

Die Veränderung von Wahrnehmungsmustern und impliziten Wissensbeständen braucht Zeit. Zielführend erscheint daher ein aufbauendes Lernen. In Antizipation möglicher stereotyper Wissensbestände zum Lernbereich ‚Islam‘ hatte ich das Foto des betenden Muslims in Christchurch schon in einer vorherigen Unterrichtssequenz zum Thema Symbole eingeführt – und konnte nun darauf zurückgreifen. Möglicherweise wurden bei einigen bereits in der früheren Stunde Wahrnehmungsmuster subtil irritiert, ohne dass Wahrnehmungen ‚des Islams‘ im Unterrichtsgespräch explizit thematisiert wurden. Eine subtile Irritation kann manchmal zielführender sein, weil die Person sie für sich selbst erlebt und nicht gezwungen ist, sich für ihre Haltung öffentlich zu verteidigen. Die Isolierung des Lehrplanthemas ‚Islam‘ in einem einzelnen Lernbereich der 7. Klasse begünstigt jedoch Homogenisierungs- und damit auch die aufgetretenen Abwehrtendenzen. „Nicht zu wiederholen, was kritisiert werden soll“, ist in den beschriebenen Stunden nur teilweise gelungen. Wahrscheinlich lässt sich diese Problematik nicht immer vermeiden und es braucht beides: implizite und explizite Auseinandersetzung mit Othering und Fremdzuschreibungen.

Direkt herbeiführen lässt sich eine Irritation im Sinne einer Suche nach dem ‚Außer-ordentlichen des Othering‘ freilich nicht. Es liegt nicht allein in der Hand der Lehrperson, ob Lernende bereit sind, sich in ihren erlernten Denkweisen irritieren zu lassen, und sie kann sich nie sicher sein, ob ihre Darstellung unterschiedlicher individueller Perspektiven den dargestellten Individuen gerecht wird. Vielmehr geht es darum, mit didaktischen Mitteln einen gedanklichen Raum zu schaffen, in dem die Frage nach dem ‚Außer-ordentlichen‘ hegemonialer, subjektiv verfestigter Weltbilder zumindest möglich wird.

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