Abgesehen von Frankreich ist Deutschland ohne Zweifel das Land, das Charles de Gaulle am meisten beschäftigt hat. Geprägt von seinem Vater, der den Krieg von 1870–1871 gegen Preußen mitgemacht hat und sich mit dem Verlust von Elsass-Lothringen nicht abgefunden hat, wächst er auf mit dem Gedanken der „Revanche“ gegen Deutschland. Die „Grandeur de la France“, die Größe Frankreichs, soll unbedingt wieder hergestellt werden. Nach seinem Eintritt in die Offiziersschule 1909 und seiner Teilnahme an den beiden Weltkriegen kämpft er tatsächlich 36 Jahre lang gegen Deutschland. Es kommen 12 Jahre ohne offizielle Funktionen von 1946 bis 1958 und es wachsen Überlegungen über die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Bonn. So verfolgt er die Entwicklung des geteilten Deutschlands einerseits mit Misstrauen, andererseits mit großem Interesse.
Da er zu dieser Zeit auch schon seine Memoiren schreibt, ist Deutschland auch in dieser Periode als Thema ständig gegenwärtig. Mit seiner Rückkehr zur Macht, erst als Ministerpräsident, dann als Präsident von 1958–1969, folgen 13 Jahre der friedlichen Zusammenarbeit mit Deutschland, um Europa neu zu gestalten – ein Versuch der nicht von allen Seiten Beifall findet. Das letzte Jahr, 1969 bis zu seinem Tod 1970, ist wieder den Memoiren und Deutschland gewidmet. 36 Jahre Rivalität und Krieg gegen Deutschland (1909–1945), 26 Jahre Frieden mit Deutschland (1946–1970). Wie ist sein Schwenk vom Krieg zum Frieden zu erklären?
De Gaulle hat viel für Frankreich geleistet und gehört deswegen zu den bedeutendsten Staatsmännern dieses Landes. Durch die Gründung und Leitung der Résistance bringt er das geschlagene Frankreich vom Juni 1940, das am Rande des Abgrunds steht, auf die Seite der alliierten Sieger am 8. Mai 1945. Durch die Verfassung der V. Republik (1958) und die Direktwahl des Präsidenten der Republik durch das Volk (1962) gibt er Frankreich feste Institutionen, nachdem diese vorher sehr unstabil waren. Die Wirtschaft wird modernisiert, die Finanzen saniert, ein neuer Franc eingeführt. Das Agrarland Frankreich bekommt nun eine wettbewerbsfähige Industrie. Der Krieg in Algerien wird 1962 unter schwierigen Umständen beendet und 14 französische Kolonien in Schwarzafrika werden weitgehend friedlich in die Unabhängigkeit entlassen.
Die Versöhnung, die Zusammenarbeit und die Freundschaft mit der Bundesrepublik Deutschland werden mit dem Elysée-Vertrag am 22. Januar 1963 besiegelt. Durch den ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ab 1945 und die force de frappe, die französische Atommacht, ab 1960, kann Frankreich mit den Weltmächten auf Augenhöhe sprechen. Darüber hinaus hinterlässt General de Gaulle ein umfangreiches literarisches Werk mit etwa 25 Büchern wie Memoiren, Reden, Aufsätzen und Abhandlungen über militärische Fragen.
Familie und Ausbildung
Charles André Josef Marie de Gaulle ist am 22. November 1890 in Lille in Nordfrankreich geboren. Seine Familie, aus der viele Juristen hervorgegangen sind, stammt ursprünglich aus Chalons-en-Champagne im Departement Marne, lebt und wohnt aber seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in Paris. Einige Vorfahren von De Gaulle und seiner Frau stammen aus Großbritannien, aus Irland und Schottland, und auch aus Deutschland. Der Vater, Henri de Gaulle, unterrichtet Geschichte und Literatur in privaten Schulen der Jesuiten. Er gehört einer katholischen konservativen Familie an, die jedoch fortschrittlichen sozialen Vorstellungen anhängt. Er sehnt sich nach der Monarchie, bleib aber der Republik treu. Im Krieg von 1870/71 wird de Gaulles Vater verletzt und kann sich in keiner Weise mit der Niederlage gegen Preußen und dem Verlust von Elsass-Lothringen abfinden. Der Gedanke der Revanche, ja sogar der Rache, prägt den Sohn schon sehr früh. Er lernt Deutsch, um den Feind später besser bekämpfen zu können. Während seiner Schulzeit verbringt er sogar im Sommer 1908 einen Sprachaufenthalt in Bayern. Sehr früh schon entscheidet er sich für eine militärische Laufbahn und mit 15 Jahren verfasst er eine Erzählung, in der ein General de Gaulle die Deutschen besiegt und Frankreich rettet. Außerdem liest Charles de Gaulle viele Geschichtsbücher.
Charles de Gaulle besucht von 1909 bis 1912 die renommierte Offiziersschule in Saint-Cyr in der Nähe von Versailles, die 1808 von Napoleon I. gegründet worden war. Die Schule wird übrigens 1944 im Krieg zerstört. Ab 1913 gehört de Gaulle einem Infanterieregiment in Arras im Departement Pas-de-Calais an, das unter dem Kommando des Oberst Philippe Pétain steht. Der spätere General, Marschall und Chef des Vichy-Regimes fördert De Gaulle damals nachhaltig. Beide Männer werden später allerdings Intimfeinde, unter anderem wegen einer gemeinsamen Publikation, als de Gaulle nicht nur als Ghostwriter auftreten, sondern als Mit-Autor genannt werden will. Berühmt geworden durch die Schlacht von Verdun 1916, zählt Pétain dann nach dem Ersten Weltkrieg zu den angesehensten Befehlshabern der französischen Armee. Im Sommer 1940, Pétain ist der neue Staatschef, lässt er de Gaulle, der sich in London befindet und den Waffenstillstand mit Hitler ablehnt, zum Tode verurteilen. Nach dem Zusammenbruch des Vichy-Regimes und der deutschen Niederlage wird Pétain im August 1945 von einem französischen Gericht zum Tode verurteilt. De Gaulle, damals Chef der Regierung, wandelt die Todesstrafe in eine lebenslange Gefängnisstrafe um, die Pétain in einer Zitadelle auf der Atlantikinsel Ile d‘Yeu verbüßt.
Der Erste Weltkrieg
Deutschland erklärt Frankreich den Krieg am 3. August 1914. De Gaulle, Oberleutnant seit 1913, wird 1915 zum Hauptmann gefördert. Er kämpft mit viel Bravour gegen die deutschen Truppen, wird dabei sogar mehrfach verwundet. Anfang März 1916, bei der Schlacht um Douaumont – nahe Verdun –, wird er sogar für tot erklärt. In Wirklichkeit gerät er in deutsche Gefangenschaft. Seine fünf Fluchtversuche scheitern und auch deshalb wird er in verschiedenen deutschen Kriegsgefangenlagern, zuletzt in Bayern in Ingolstadt und auf der Wülzburg bei Weißenburg, interniert. In der Festung Wülzburg kann man sogar noch heute eine Erinnerungstafel an diese Zeit lesen.
Während der Gefangenschaft liest er sehr viel, darunter auch deutsche Publikationen, und informiert sich dabei sehr gründlich über Deutschland. Auch hält er Vorträge vor den anderen Offizieren. Erst am Ende des Krieges kommt er frei und bedauert sehr, dass er in der Gefangenschaft so viel Zeit verloren hat, die er nicht für seine Ausbildung und seine Karriere als Offizier verwenden konnte.
Die deutsche Seite muss am 11. November1918 in Compiègne harte Bedingungen für einen Waffenstillstand annehmen. Der Text des Versailler Friedensvertrags wird dann ohne deutsche Beteiligung erarbeitet und muss von Berlin innerhalb von wenigen Tagen angenommen werden. Vor allem der Artikel 231 über die deutsche Alleinschuld am Ersten Weltkrieg wird in Deutschland mit sehr großer Verbitterung kritisiert. Der Vertrag wird aber unverändert am 28. Juni1919 vom Deutschen Reich und 27 alliierten und assoziierten Mächten unterzeichnet. Für de Gaulle allerdings, der keinerlei Vertrauen in Preußen und Deutschland setzt, ist der Versailler Vertrag nicht hart genug. Die Rückkehr Elsass-Lothringen an Frankeich, die Besetzung des Saargebietes und des linken Rheinufers mit Brückenköpfen bei Köln, Koblenz und Mainz sind für ihn nicht genug. Er hätte gerne eine völlige Abtrennung des Gebiets links des Rheinufers von Deutschland gesehen.
Die Zwischenkriegszeit
Zwischen beiden Weltkriegen sammelt de Gaulle wichtige Erfahrungen im Ausland. Darunter waren auch zwei Aufenthalte in Deutschland. Er vertieft in der Theorie wie in der Praxis seine Ausbildung als Stabsoffizier und er reüssiert als Autor und Theoretiker der modernen Kriegsführung. Er kommt dabei mit wichtigen Kreisen und Institutionen in Kontakt, die die französische Sicherheitspolitik bestimmen. Auch steigt er in die Militärhierarchie auf, wird 1933 Oberstleutnant und 1937 Oberst, obwohl er wegen seiner zu steifen Persönlichkeit immer wieder kritisiert wird.
Eine besonders prägende Zeit ist seine Tätigkeit in Warschau. Als Mitglied der französischen Militärmission in Polen von 1919 bis 1921 kann er sich mit den komplizierten Grenzfragen und Gebietsproblemen nicht nur zwischen Deutschland und Polen, sondern überhaupt im Osten Europas vertraut machen. Diese Probleme spielen wieder im Zweiten Weltkrieg und auch in der Nachkriegszeit dann eine eminent wichtige Rolle. Die polnische Republik entsteht ja nach dem Verschwinden des polnischen Staates am Ende des 18. Jahrhunderts erst am 11. November1918 wieder neu. Die neue polnische Regierung findet allerdings eine äußerst schwierige territoriale Ausgangslage vor, eingezwängt vor allem zwischen Deutschland und Sowjetrussland. Die französische Militärmission in Warschau soll dazu beitragen, die neu geschaffene polnische Armee zu organisieren und sie materiell zu unterstützen. Die Ausbildung der polnischen Offiziere gehört auch zu ihren Aufgaben. Darüber hinaus kann sich de Gaulle über die Konflikte zwischen Polen und der neu aufgestellten Roten Armee informieren, weil er den Kampfhandlungen direkt beiwohnt. Dabei beobachtet er ganz besonders die Rolle der Panzertruppen.
Nach dem Aufenthalt in Polen wird de Gaulle als Stabsoffizier in der Pariser Ecole Supérieure de Guerre ausgebildet. Es folgt ein Aufenthalt in Deutschland im Stab der Rheinarmee in Mainz. Anschließend wird er in den Stab von Marschall Pétain versetzt. Von 1927 bis 1929 kommandiert er dann das 19. Jägerbataillon einer Infanteriebrigade, die der Rheinarmee angehört. Das Bataillon ist in Trier, dem militärischen Hauptquartier in der französischen Besatzungszone, stationiert. An der Friedrich-Ebert-Allee 2 erinnert eine Tafel daran, dass die Familie de Gaulle zwei Jahre lang dort gewohnt hat. De Gaulle benutzt auch diese Deutschlandaufenthalte, um sich weiter gründlich über das Land zu informieren.
Zwischen November 1929 und November 1931 macht sich de Gaulle mit den komplizierten Problemen des Nahen Osten vertraut: im Libanon, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Teil des Osmanischen Reiches. Mit seiner französisch geprägten Kultur wird Beirut als „Paris des Nahen Ostens“ betrachtet. Nach der Niederlage der Mittelmächte besetzen die Entente-Mächte den Libanon und der Völkerbund erteilt Frankreich ein Mandat für Syrien und den Libanon. Es entwickeln sich in diesen Jahren unter der Bevölkerung heftige Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern eines modernen, westlichen Libanons und denen einer unabhängigen gesamt-arabischen Nation. De Gaulle ist in Beirut stationiert, um neben einer Reihe anderer Aufgaben dort Armeeoffiziere auszubilden. Diese Erfahrung ist für ihn sehr wichtig, denn Libanesen kämpfen dann im Zweiten Weltkrieg auf der Seite des Freien Frankreichs.
Es sei auch noch vermerkt, dass sich de Gaulle zwischen 1924 und 1938 einen Namen als Autor von vier Militärbüchern macht, die bei bekannten Verlagen erscheinen. Er kritisiert darin die defensive Haltung der offiziellen französischen Doktrin und plädiert für eine offensive Strategie mit dem Einsatz von Panzern und Flugzeugen sowie für eine Berufsarmee. In der höheren Hierarchie der Armee und unter vielen Politikern findet er kaum Gehör, da alle
darauf setzen, dass die Festungen der Maginotlinie sämtliche Angriffe aufhalten würden. Im Jahr 1940 wird der gestaffelte Festungsgürtel an der französischen Nord-Ost-Grenze von den deutschen Truppen umgangen, da er, auf Wunsch Belgiens, die Grenze zu Belgien nicht schützt. Seine Bücher werden übrigens in Deutschland und besonders von Adolf Hitler und Heinz Guderian, dem Organisator der deutschen Panzertruppen nach 1934, sehr genau gelesen.
Der Zweite Weltkrieg
Ab 1937 steht de Gaulle, der große Befürworter der Panzer, zuerst als Oberst eines Panzerregiments und ab 1939 als Kommandeur einer Panzerdivision in der Verantwortung. Nach dem deutschen Angriff auf Dänemark und Norwegen Anfang April 1940, greift die Wehrmacht ab dem 10. Mai Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Frankreich an. De
Gaulle kämpft zum Teil erfolgreich gegen die deutschen Einheiten, ganz besonders in Moncournet und Crecy-sur-Seine. Allein kann er die Niederlage allerdings nicht abwenden. In vier Jahren (1914–1918) konnte das Deutsche Kaiserreich Frankreich nicht schlagen, 1940 wird dieses Ziel in nur sechs Wochen erreicht.
Ende Mai 1940 wird de Gaulle zum Brigadegeneral – er ist der jüngste der französischen Armee – befördert. Und am 6. Juni wird er vom Regierungschef Paul Reynaud, der die Ideen von de Gaulle bezüglich der Panzer und der Berufsarmee teilt, zum Unterstaatssekretär für Nationale Verteidigung berufen. Ihm obliegt dabei die Koordinierung der französisch-britischen Militäraktionen. Winston Churchill, der für das weitere Schicksal de Gaulles von großer Bedeutung sein wird, ist seit dem 10. Mai britischer Regierungschef. Die französische Regierung ist nach Bordeaux, im Südwesten Frankreichs, geflohen. Dort setzen sich mit Philippe Pétain die Anhänger des Waffenstillstandes mit Hitler durch, während Reynaud und de Gaulle zurücktreten. De Gaulle fliegt schließlich nach London, um den Kampf gegen Hitler-Deutschland fortzusetzen.
Am 18. Juni 1940, im Einvernehmen mit Churchill, hält er in der BBC in London seine berühmte Rede, einen Appell an die Résistance. „Frankreich hat eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg“ ist die Botschaft. Das Land besitze noch viele Ressourcen, unter anderem die Kolonien; und es habe Verbündete. Die Franzosen sollten nach de Gaulles Worten also an der Seite der Alliierten weiter kämpfen. Strukturen werden dazu geschaffen. So ernennt sich de Gaulle selbst zum Chef des Londoner Komitees „Freies Frankreich“, zum Chef der Freien Französischen Streitkräfte und zum Chef des Nationalen Verteidigungskomitees.
Wegen seines Ungehorsams Pétain gegenüber und seiner „Flucht“ nach London wird er in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Das geschlagene Frankreich wird durch Nazi-Deutschland geteilt, besetzt, ausgebeutet und gequält. Von London, Algier, von den Kolonien in Afrika, vom Nahen Osten und ab 1944 von Paris aus führt de Gaulle den Kampf in Zusammenarbeit mit den Alliierten. Er bringt es fertig, dass das geschlagene Frankreich vom Juni 1940 sich auf der Seite der Siegermächte am Ende des Krieges in Mai 1945 befindet. Es wird Besatzungsmacht im besiegten Deutschland.
De Gaulle lehnt den Kommunismus eigentlich vehement ab. Aber um Deutschland zu besiegen und eine zukünftige deutsche Gefahr abzuwenden, schließt er eine Allianz mit Stalin und der Sowjetunion, die am 10. Dezember 1940 in Moskau unterzeichnet wird. Damit möchte er die sowjetische Unterstützung für seine Deutschlandpolitik erhalten. Mit diesem Schritt zeigt er, dass Frankreich wieder unter den Großmächten verkehren und die Balance zwischen Washington und Moskau halten kann. Diese Themen beherrschen auch die gaullistische Außenpolitik nach 1958. Nach der Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die NATO im Mai 1955 wird die Allianz Frankreich-UdSSR von sowjetischer Seite beendet. Moskau erklärt, dass das NATO-Mitglied Frankreich den deutschen Militarismus unterstütze.
Die Jahre der IV. Republik
De Gaulle leitet – neben seinem militärischen Oberbefehl – auch die provisorische Regierung, zuerst in Algier, dann ab Juni 1944 in Paris. Eine Nationalversammlung arbeitet eine neue Verfassung für die IV. Republik aus, wobei de Gaulle seine Vorstellungen über eine starke exekutive Macht und ein geschwächtes Parlament allerdings nicht durchsetzen kann. Deshalb zieht er sich im Januar 1946 aus der Regierung zurück. Und er gründet eine politische Bewegung – er vermeidet das Wort „Partei“ –, le Rassemblement du Peuple Français (RPF) / (die Versammlung des französischen Volkes), die nach anfänglichen Wahlerfolgen schnell an Bedeutung verliert. Im September 1955 zieht sich de Gaulle vorerst aus dem politischen Leben zurück.
Er lebt zurückgezogen auf seinem Landsitz in Colombey-les-deux-Eglises und arbeitet an seinen Kriegsmemoiren – die drei Bände erscheinen zwischen 1954 und 1959. Die intensive Beschäftigung mit Deutschland geht auch, gerade durch die Arbeit an den Memoiren, weiter; sie hat de Gaulle eigentlich seit seiner Jugend nie verlassen.
Während der Jahre der IV. Republik entwickelt de Gaulle ein gespaltenes Verhältnis zu Deutschland. Da er die Kriege zwischen 1870 und 1945 nicht vergisst, bleibt seine Furcht vor Deutschland stark. Nach seinen Vorstellungen sollte das besiegte Deutschland von 1945 geteilt werden, um nur einen losen Staatenbund zu bilden. Das Saarland, das Rheinland, Westfalen, einschließlich des Ruhrgebiets, sollten von Deutschland gelöst werden. De Gaulle ist für eine Internationalisierung des Ruhrgebiets, sogar unter Teilnahme der Sowjetunion. Er lehnt auch die ersten europäischen Institutionen wie die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (ab 1952) und die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (1954 gescheitert) nicht nur wegen der Supranationalität ab; er fürchtet besonders, dass die Bundesrepublik in diesen Organisationen bald wirtschaftlich und militärisch zu stark wird.
De Gaulle sieht aber auch, dass die geopolitische und strategische Lage sich im Vergleich zu 1871, 1919 und 1945 stark verändert hat. Deutschland ist besetzt, gespalten, moralisch wegen des Holocausts tief getroffen, seine internationale Rolle ist eng begrenzt. Die Folgen des „Dritten Reichs“ werden es noch lange belasten. Und! Der Kalte Krieg spaltet die Welt. Die amerikanischen und sowjetischen Atombomben haben zu einem prekären Waffenstillstand in der nördlichen Hemisphäre geführt. Und der Koreakrieg von 1950 bis 1953 zeigt, wie schnell eine Destabilisierung der internationalen Beziehungen stattfinden kann.
Deutschland ist, so sieht es de Gaulle, nicht mehr gefährlich, sondern gefährdet. Frankreich muss die Bundesrepublik schützen, weil das in seinem eigenen Interesse ist. Diese neue und positive Sicht der deutschen Frage führt dazu, dass Deutschland nicht mehr als Feind, sondern mehr als Partner gesehen wird. De Gaulle will mit diesem Deutschland zusammenarbeiten, vor allem, weil er eine gute Meinung von der Person und der Politik des Bundeskanzlers Konrad Adenauer hat. De Gaulle schätzt aber auch zunehmend
die deutsche Kultur.
Die Fünfte Republik
Algerien – 1848 von Frankreich annektiert – wird wie ein Teil Frankreichs verwaltet. Bei der Volkszählung 1954 zählt man 984 000 Nicht-Muslime und 8,4 Millionen Muslime (insgesamt hat das Land 9,8 Millionen Einwohner). Nach der Unabhängigkeit von Vietnam (1954) und vieler anderer französischer Kolonien wird auch in Algerien das Verlangen nach Unabhängigkeit sehr laut. Das Ungleichgewicht beider Bevölkerungsgruppen erschwert zunehmend ihre Verständigung. Die Nichtmuslime sind nicht bereit, ihre wirtschaftliche und politische Macht zu teilen. So kommt es ab Anfang November 1954 zu einem regelrechten Krieg. Die Unfähigkeit der Pariser Regierung, mit der Krise umzugehen, der Aufstand der Bevölkerung in Algerien und schließlich der Putsch der Armee am 13. Mai 1958 in Algier bringen de Gaulle an die Macht zurück.
Am 1. Juni 1958 wird er als Regierungschef mit 329 gegen 224 Stimmen gewählt. Er lässt eine neue Verfassung – die der V. Republik – erarbeiten, die am 28. September von fast 80 Prozent der Wähler angenommen wird. Die Macht des Staatspräsidenten wird darin deutlich verstärkt. Am 21. Dezember wird de Gaulle dann als Président de la République
Française mit 77,5 Prozent der Stimmen gewählt. Dabei handelt es sich allerdings um eine indirekte Wahl durch etwa 80 000 Wahlmänner. Am 8. Januar 1959 tritt er sein sieben-
jähriges Mandat an.
Nach dem Attentat von Petit Clamart bei Paris am 22. August1962 setzt er mit einer Volksabstimmung (Zustimmung: 61 Prozent) das Prinzip der Direktwahl des Präsidenten der Republik durch das Volk durch. Diese Verfassungsänderung erhöht auch noch einmal deutlich die Macht des Präsidenten. Die erste Direktwahl findet schließlich im Dezember 1965 statt. De Gaulle braucht allerdings zwei Wahlgänge für den Sieg, erst bei der Stichwahl kann er sich mit gut 55 Prozent gegen den Sozialisten François Mitterand durchsetzen. De Gaulle wird ja oft wegen seines autoritären Regierungsstils kritisiert, man kann ihm aber nicht vorwerfen, er sei undemokratisch an die Macht gekommen und geblieben. Und als er am 27. April 1969 die Volksabstimmung über die Reform der Regionen verliert, tritt er schon am nächsten Tag zurück.
Die Beziehungen zu Deutschland sind von Anfang an ein sehr wichtiges Politikfeld. General de Gaulle hat schon vor 1958 einen guten Eindruck von Konrad Adenauer. Der Bundeskanzler ist am Anfang eher misstrauisch. Ein Militär an der Macht, der durch die Reform der Institutionen noch mehr Macht haben will, der eine Außenpolitik mit nationalistischen Tönen verfolgt und einen Führungsanspruch in Europa anmeldet – all das gefällt ihm nicht. Es gibt sogar einen Protokollstreit. Wer soll wem den ersten Besuch machen? De Gaulle: Meine Legitimität geht auf das Jahr 1940 zurück. Adenauer: Ich bin Kanzler seit 1949, Sie leiten die französische Regierung erst seit Juni 1958, also habe ich Vorrang. De Gaulle beendet diesen Streit, indem er ein privates Treffen in seinem Landhaus La Boisserie in Colombey-les-deux-Eglises am 14. und 15. September 1958 vorschlägt.
Das ist eine richtige Entscheidung. Beide Staatsmänner können sich zum ersten Mal in einem familiären Rahmen kennenlernen und miteinander reden. Sie stellen fest, dass es in ihren politischen Vorstellungen mehr Konvergenzen als Divergenzen gibt. Im Schlusskommuniqué heißt es: „Wir glauben, dass die vergangene Gegnerschaft ein für alle Mal überwunden sein muss und dass Franzosen und Deutsche dazu berufen sind, im guten Einverständnis zu leben und Seite an Seite zu arbeiten.“
Nun gibt es starke Momente in den deutsch-französischen Beziehungen: Regelmäßige Treffen zwischen Adenauer und de Gaulle, der Staatsbesuch Adenauers in Frankreich im Sommer 1962, die triumphale Reise de Gaulles im September 1962 durch die Bundesrepublik. Die Krönung ist natürlich die Unterzeichnung des „Vertrages über die deutsch-französische Zusammenarbeit“ am 22. Januar 1963, auch bekannt als Elysée-Vertrag. Der Brüderkuss zwischen de Gaulle und Adenauer dabei überrascht die Anwesenden. In dem Vertrag sind regelmäßige Treffen zwischen dem französischen Präsidenten und dem Bundeskanzler, sowie zwischen den Fachministern und hohen Beamten vorgesehen. Die Konsultationen betreffen auch die Außen- und Verteidigungspolitik. Weiterhin soll das gegenseitige Erlernen der Sprache und der Jugendaustausch aktiv gefördert werden, wofür ein deutsch-französisches Jugendwerk gegründet wird. Diese guten Absichten werden zum Teil durch die deutsche Präambel zum Vertrag in Frage gestellt – ein Text, der gegen die gaullistische Außenpolitik gerichtet ist. Der Rücktritt Adenauers als Bundeskanzler am 15. Oktober 1963 und die blasse Kanzlerschaft des wenig frankophilen Ludwig Erhard von 1963 bis 1966 erschweren die Anfänge des Vertrags, der sich aber später als sehr segensreich erweist.
De Gaulle wird in der Bundesrepublik oft scharf kritisiert, weil er den supranationalen Charakter der europäischen Institutionen ablehnt. Er will ein „Europa der Nationen“, einen losen Bund von kooperierenden Staaten, konnte aber diesen Plan nicht durchsetzen. Wegen eines Streits über die Finanzierung der Agrarpolitik blockiert er von Juli 1965 bis Januar 1966 die Tagungen des europäischen Ministerrates. Zweimal (1963 und 1967) lehnt er die Aufnahme Großbritanniens in die EWG ab. Die Aversion gegen die Vereinigten Staaten von Amerika und der Rückzug aus der Militärorganisation der NATO 1966 finden kein Verständnis beim deutschen Partner. Die Anerkennung der Volksrepublik China 1964, die Reise in die UdSSR 1966 und eine Polenreise 1967 unterstreichen den Wunsch de Gaulles nach einer unabhängigen Außenpolitik. Er befürwortet auch die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze und findet den Wunsch nach einer deutschen Wiedervereinigung als legitim. Sein „Europa vom Atlantik bis zum Ural“ soll von den Großmächten unabhängig sein. Diese Visionen finden wenig Verständnis in Deutschland. Man wirft de Gaulle vor, eine Politik des „Grandeur“ zu praktizieren, ohne dafür die Mittel zu haben.
Fazit
De Gaulle, der zuerst gegen Deutschland kämpfte, hat viel für die deutsch-französische Versöhnung, Zusammenarbeit und Freundschaft geleistet. Sein Regierungsstil und seine Europa- und Außenpolitik wurden in Deutschland hingegen wenig geschätzt. Er bleibt trotzdem ein einflussreicher Franzose und Europäer, weil er gerade durch seine Auslandsbesuche und politischen Erklärungen Bewegung in den Beziehungen zwischen Ost- und Westeuropa gebracht hat.
Deutschland spielt noch indirekt eine Rolle bei seinem Abgang von der Macht. Die Studentenrevolte und die Streikwelle vom Mai 1968 erschüttern seine Autorität. Der ratlose de Gaulle wirkt wie gelähmt. Er holt sich überraschender Weise Rat und moralische Unterstützung in Baden-Baden bei General Jacques Massu, dem Oberbefehlshaber der französischen Truppen in Deutschland. Und danach handelt de Gaulle wieder kraftvoll. Er löst die Nationalversammlung auf und die Gaullisten bekommen bei der Neuwahl Ende Juni 1968 eine breite absolute Mehrheit.
Das Vertrauen zwischen de Gaulle und den Franzosen ist aber irgendwie gebrochen. Er verliert am 27. April 1969 das Referendum über die Reform der Regionen. Mehr als 52 Prozent der Wähler versagen ihm ihre Gefolgschaft und schon am nächsten Tag tritt er als Präsident der Republik zurück. Er bleibt dann in Colombey-les-deux-Eglises, wo er an seinen Memoiren für die Zeit ab 1958 arbeitet.
Am 9. November 1970 stirbt Charles de Gaulle unerwartet. Am 12. November, dem Tag der Beisetzung in Colombey, findet in Notre-Dame in Paris ein Requiem in Anwesenheit von über 80 Staats- und Regierungschefs statt. Sein Todestag, eine List der Geschichte? Der 9. November ist ja auch ein wichtiger Gedenktag in Deutschland.