Laudatio auf die Preisträgerin Zsofia Schnelbach

Im Rahmen der Veranstaltung "Verleihung Kardinal Wetter Preis 2018", 22.11.2018

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Einführung

 

Der Ansatzpunkt dieser Untersuchung liegt mitten im Leben. Denn die Geburt eines Kindes ist – in den meisten Fällen jedenfalls – ein freudig herbeigesehntes Ereignis im Leben werdender Eltern. Schon lange vor dem errechneten Zeitpunkt der Geburt treffen sie alle Vorkehrungen, um dem neuen Erdenbürger ein Zuhause zu bieten, in dem er bzw. sie sich wohlfühlen kann. Neben der Einrichtung des Kinderzimmers und der Anschaffung der notwendigen Ausstattungsgegenstände haben die Eltern auch ein berechtigtes Interesse zu erfahren, ob die embryonale Entwicklung ihres Kindes normal verläuft, das Kind gesund ist oder möglicherweise Beeinträchtigungen aufweist. Die verschiedenen pränatalen Diagnosemöglichkeiten können in der Regel rasche und sichere Auskunft geben.

Doch trotz guter Untersuchungsergebnisse beim Fetus und eines anscheinend problemlosen Schwangerschaftsverlaufs können unvermutet Komplikationen auftreten. Im besten Fall gelingt es den behandelnden Ärzten, durch gezielte Maßnahmen der Intervention gegenzusteuern und die auftretenden Probleme zumindest so weit in den Griff zu bekommen, dass die Schwangerschaft bis zum festgesetzten Termin fortgesetzt und mit der Geburt eines gesunden Kindes abgeschlossen wird. Im zweitbesten Fall wird die Geburt auf medikamentösem Weg eingeleitet und ein frühgeborenes Kind erblickt das Licht der Welt.

Die Verfasserin der hier vorgelegten Dissertation wendet sich allerdings einer dritten, bisher noch nicht angesprochenen Möglichkeit zu.

Es kommt leider immer wieder vor, dass der Schwangerschaftsverlauf sich völlig problemlos darstellt, die Ergebnisse der pränatalen Diagnostik keinerlei Anlass zur Besorgnis bieten, plötzlich einsetzende Wehen oder nicht vorhersehbare Komplikation aber dazu führen, dass ein voll ausgebildetes Kind tot auf die Welt kommt. Die Dramatik wird noch gesteigert, wenn die Schwangerschaft bis kurz vor dem errechneten Zeitpunkt der Geburt völlig normal verläuft und die Mutter plötzlich bemerkt, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist, weil die Kindsbewegungen auf einmal nicht mehr wahrnehmbar sind.

Nach der Feststellung des intrauterinen Todes wird die Geburt in den meisten Fällen medikamentös eingeleitet. Den Eltern, besonders der Mutter, die in ihrer Phantasie bereits das Kind mit allen Zeichen der Liebe und Zuneigung umgab, bleibt nur die traurige Gewissheit, ein totgeborenes Kind in den Armen zu halten.

Aber wie gehen Eltern mit solchen Erfahrungen um, die ihre gesamten Lebenspläne durchkreuzen?

Früher sprach man in solchen Fällen gewöhnlich von einer Fehl- oder Totgeburt, je nachdem, in welchem Stadium seiner Entwicklung der Fetus auf die Welt kam.

Heute verwendet man immer mehr den aus dem Englischen stammenden Terminus der „stillen Geburt“ (stillbirth). Dieser Begriff beschreibt das tragische Ereignis sensibler und einfühlsamer und entspricht dadurch besser der Gefühlswelt der Eltern.

Allerdings wurden die psychischen und sozialen Folgen des Kindsverlustes während der Schwangerschaft sowohl im klinischen Bereich als auch in der Forschung lange Zeit kaum erforscht. Erst Ende der 1960er Jahre wurden im englischsprachigen Raum die Auswirkungen der stillen Geburt im Blick auf den psychischen Zustand der Mütter nach Tot- und Lebendgeburt untersucht. Für die Ärzte bzw. das Pflegepersonal, Familienangehörige sowie den Freundes- und Bekanntenkreis ist die Totgeburt in der Regel ein Nicht-Ereignis (non event), das nur schwer zuzuordnen und nicht so greifbar ist wie der Verlust eines anderen Menschen. Für die Eltern aber war das Kind existent. Sie hatten ihm vielleicht schon einen Namen gegeben, sein Zimmer eingerichtet und sich in ihrer Phantasie das Leben mit ihm ausgemalt. Das Schweigen des Umfeldes, das meistens mit Hilflosigkeit reagiert, vergrößert die eingetretene Leere und verstärkt die Erfahrung der Totgeburt als leere Tragödie. In einem Satz gesagt herrschte lange Zeit die Überzeugung, es sei das Beste, das Drama einer stillen Geburt möglichst totzuschweigen und so bald wie möglich in die „Normalität“ zurückzukehren. Diese „Bewältigung“ wurde allerdings mit einem hohen Preis bezahlt: der Traumatisierung der Mütter und Väter, die ihr Leben lang unter der Last des Schweigens und der Nichtbeachtung einer menschlichen Tragödie litten, die in den Augen ihrer Umwelt keine war, weil man sie behandelte, als habe sie niemals stattgefunden.

Heute wissen wir, dass Unterstützung und Begleitung für betroffene Frauen genauso wichtig sind wie die Möglichkeit, ihr Kind sehen und halten zu dürfen. Werden den Betroffenen Sehen, Berühren und Teilnahme an der Beerdigung vorenthalten, sind spätere Traumatisierungen wahrscheinlich. Weitere kritische Momente sind die Rückkehr in die eigenen vier Wände und die Reaktionen des sozialen Umfeldes. Als besonders negativ werden in diesem Zusammenhang sowohl Bagatellisieren und Totschweigen erlebt.

Das Thema Totgeburt wurde bereits eingehend erforscht, sodass in diesem Bereich umfangreiche Literatur vorliegt. Jedoch stand der Bewältigungsprozess, den betroffene Eltern leisten, bislang kaum im Mittelpunkt wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Die vorliegende Dissertation hat zum Ziel, einen Beitrag zur Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Diskussion über die Verarbeitung einer stillen Geburt zu leisten.

Das Erkenntnisinteresse dieser Dissertation richtet sich auf die folgende Forschungsfrage: Wie gestaltet sich die Bewältigung bei den Eltern, die ihr Kind durch intrauterinen Tod verloren haben? Im Zusammenhang mit dieser zentralen Fragestellung sind weitere Aspekte zu berücksichtigen: Was erleben Eltern zum Zeitpunkt der Feststellung des Todes, kurz nach der Geburt und nach dem endgültigen Abschiednehmen von ihrem Kind? Wie gestaltet sich ihr Elternsein?

 

Aufbau und Inhalt

 

Die Beantwortung dieser Fragen erfolgt in einer auf drei Hauptteile angelegten Untersuchung.

Im ersten Hauptteil erfolgt zunächst eine Einleitung in Form einer Definition der zentralen Begriffe (Totgeburt, Fehlgeburt, stillbirth) sowie der Darstellung des aktuellen Forschungsstandes zu diesem Bereich. Dieser notwendigen definitorischen Vorabklärung und Dokumentation schließen sich unmittelbar die Formulierung der Forschungsfrage und eine Erläuterung des systematischen Leitfadens an, dem diese Dissertationsschrift folgt.

Dazu noch eine Bemerkung zu der Prämisse, von der Frau Schnelbach ausgeht und damit schon eine deutliche Vorentscheidung im Blick auf die Hermeneutik trifft, die ihrer Untersuchung zugrunde liegt: In der Forschungsfrage ist keineswegs zufällig nicht nur von den betroffenen Frauen und Müttern, sondern bewusst von den Eltern die Rede. Die Formulierung der Forschungsfrage gibt bereits zu erkennen, dass Frau Schnelbach in die Prozesse der Bewältigung von Kindsverlust von Beginn an die Väter mit einbezieht. Anders gesagt: Das Thema „stille Geburt“ ist nicht nur Frauensache, sondern betrifft beide Elternteile. Es handelt sich also um ein genuines Elternthema. Dieser Sachverhalt war der feministischen Bioethik der ersten Stunde noch nicht bewusst. In dieser Frage ist die Forschung inzwischen ein gutes Stück vorangekommen.

Nachdem Frau Schnelbach in Kapitel 1 präzise Grundlagenarbeit geleistet hat, verfolgt sie in den Kapiteln 2 – 4 das Ziel, die Theorie aufzuarbeiten und sich mit dem aktuellen Forschungsstand auseinanderzusetzen. In den folgenden Kapiteln „Gesellschaftliche Aspekte des Eltern- und Kindseins“, „Psychologie der Schwangerschaft“ und „Bewältigung“ geht die Verfasserin der Frage nach, in welchem medizinischen und sozialen Kontext sich Frauen heute auf die Geburt ihres Kindes vorbereiten und wie sich die Bindung an das ungeborene Kind entwickelt. Im zweiten Hauptteil (Kapitel 5 – 6) ihrer Untersuchung wendet sich Frau Schnelbach der Empirie zu.

Vor dem dargestellten theoretischen Hintergrund formuliert sie drei übergeordnete Fragen, an denen sich der Verlauf dieses Hauptteils orientiert:

  • Was erleben Eltern bei der Diagnosestellung, kurz nach der Geburt und nach der endgültigen Trennung von ihrem Kind?
  • Wie gestaltet sich ihr Bewältigungsprozess?
  • Wie lässt sich das Elternsein bei stiller Geburt beschreiben?

Das Forschungsinteresse besteht darin, anhand des empirischen Materials die erzählten Prozesse und psychischen Zustände zu benennen und zu den referierten Theorien in Beziehung zu setzen. Hier sind insbesondere die Trauermodelle von Ruthmarijke Smeding und Dennis Klass hervorzuheben. Aufgrund der Sensibilität des Themas hat Frau Schnelbach die vorliegende Studie als qualitative Untersuchung konzipiert. Anhand dieser Ansätze wurde als Erhebungsinstrument das semistrukturierte Leitfadeninterview gewählt; für die Auswertung der Daten die qualitative Inhaltsanalyse. Der empirische Teil stellt die Ergebnisse der Befragung von insgesamt 15 Gesprächen mit 11 Müttern und 4 Vätern vor, unter denen sich 3 Ehepaare befanden.

Der Befragung wurde eine Zeitgrenze von 20 Schwangerschaftswochen zugrunde gelegt. Neben dem Gestationsalter wurde auch eine Mindestgrenze gezogen, wie lange die Erfahrung zurückliegen sollte. Demnach fand ein Gespräch statt, wenn seit der stillen Geburt mindestens 12 Monate vergangen waren. Eine Obergrenze wurde nicht festgelegt, da die Verfasserin dieser Untersuchung zu Recht davon ausgehen konnte, dass – unabhängig vom Geburtsjahr des Kindes – eine Narration vorhanden ist.

Die Lektüre der dokumentierten Gespräche bzw. wichtiger Gesprächsausschnitte kann niemanden unberührt lassen. Dass solche Gespräche, die Menschen am Punkt der tiefsten Erschütterung und Durchkreuzung ihrer Lebenspläne abholen, überhaupt möglich werden konnten, ist zum einen sicher mit der hohen Empathiefähigkeit zu erklären, über die Frau Schnelbach verfügt, zum anderen sicher auch der Tatsache geschuldet, dass sie als unmittelbar selbst Betroffene diese Gespräche anbahnen und durchführen konnte. Das allein verdient schon hohe Anerkennung.

Der Respekt vor dieser Leistung wird noch einmal beträchtlich gesteigert, weil es Frau Schnelbach gelungen ist, trotz aller persönlichen Betroffenheit die nötige reflexive Distanz herzustellen, indem sie es immer wieder versteht, die sehr persönlich gefärbten Gespräche an den wissenschaftlichen Forschungsstand und in der umfassenden Theorie kritischer Lebensereignisse zu verorten.

Im dritten Hauptteil (Kapitel 7) erreicht die vorliegende Untersuchung ihren Höhepunkt. Die Verfasserin hat sich der anspruchsvollen Aufgabe gestellt, die zentralen Forschungsfragen anhand der Ergebnisse des empirischen Teils zu beantworten. Das geschieht in zwei Schritten. Im ersten Schritt (Abschnitt 1 – 4) werden die zentralen Elemente des Erlebens und der Bewältigung dargestellt und mit den im theoretischen Teil der Arbeit referierten Konzepten und Forschungsergebnissen verknüpft. Auch theologische Ansätze werden aufgearbeitet, insbesondere die Gottes- und Theodizeefrage hinsichtlich der Veränderung des Weltbildes.

Der zweite Schritt (Abschnitt 5) der Interpretation wird anhand der dem ersten Teil zugrundeliegenden Reihenfolge der Ereignisse durchgeführt. Der Punkt “Das Wesen des Elternseins bei stiller Geburt“ leitet über in die Entwicklung eines Modells, in dem die wesentlichen Erkenntnisse der vorliegenden Untersuchung in einer Gesamtschau zusammengefasst und an die Forschungsarbeiten von Dennis Klass und Ruthmarijke Smeding zurückgebunden werden.

Von dort stammt auch großenteils die metaphorische Begrifflichkeit, die Frau Schnelbach von Ruthmarijke Smeding übernommen und zu einem Vier-Stationen-Modell des Elternseins bei stiller Geburt weiterentwickelt hat.

Dieses Vier-Stationen-Modell lässt sich unter die Oberbegriffe Schwangerschaft, Januszeit (Schleusenzeit), Labyrinthzeit und Regenbogenzeit subsumieren. Da die Begrifflichkeit der 1. Station, der Schwangerschaft, praktisch selbsterklärend ist, gestatten Sie mir, dass ich mich auf eine kurze Erläuterung der für die folgenden 3 Stationen verwendeten Metaphorik beschränke, die inzwischen in der Trauerforschung weithin Verbreitung gefunden hat.

Am Anfang steht als 1. Station die sog. Janus-Zeit, so benannt nach dem römischen Gott, der als Schutzhüter der Tore, der Durchgänge und des Anfangs galt und stets mit einem Doppelantlitz dargestellt wurde. Er ist bekanntlich auch Namensgeber des ersten Monats im neuen Jahr.

Die Januszeit wird auch als Schleusenzeit bezeichnet. Sie ist die Zeit zwischen dem Eintritt des Todes und der Bestattung. Mit dem Tod bzw. der Totgeburt des gelieb­ten Menschen, des Kindes, schließt sich die Tür zwischen den Angehörigen und dem Verstorbenen, dem Kind – aber eine neue Tür hat sich noch nicht geöffnet. In dieser Phase erfolgt der Übergang eines Angehörigen bzw. der Eltern in die Rolle der Hinterbliebenen, in eine neue Wirk­lichkeit. Dabei kommt dem „Abschiednehmen” eine besondere Bedeutung zu – also der Realisation des Todes des geliebten Menschen.

Die Betroffenen beschreiben diese Zeit als eine Schleuse, durch die sie “wie fernge­steuert” gehen mussten. In diesen ersten Tagen haben Helfer (Begleiter, Lotsen), z.B. Ärzte, Schwestern, Bestatter und Seelsorger, engen Kontakt zu den Betroffenen und können eine unterstützende Hilfe sein. Oft sind es praktische Hilfen, mit denen man den Betroffenen am besten helfen kann, und Zeit. „Trösten“ kann man die Trauernden nicht: Trauernde sind untröstlich, denn der Verlust ist endgültig.

Die Janus-Zeit steht am Anfang der Trauerzeit und ist die Zeit der Zerrissenheit. Das Leben der Angehörigen ist gespalten. Einerseits blicken die Betroffenen zurück in die Vergangenheit und erinnern sich sehr intensiv an die gemeinsame Zeit der Schwangerschaft und des Lebens, das sie gemeinsam mit dem geliebten Kind erhofft hatten. Andererseits wissen sie genau, dass sie nach vorn blicken sollten bzw. die alltäglichen Verpflichtungen regeln müssen, um im Hier und Jetzt zu bestehen. Die Trauernden sehnen sich nach ihrem erhofften und erträumten Leben mit dem geliebten Kind und wehren sich gegen ein Leben ohne die verlorene Person. Kenn­zeichnend ist das Hin und Her zwischen der Vergangenheit und der Notwendigkeit, weiterleben zu müssen (zu funktionieren).

Den Verlust eines Menschen zu bewältigen, stellt für die Hinterbliebenen eine Auf­gabe dar. Das Labyrinth ist ein Symbol für die 2. Station des inneren Weges: dieser ist gewunden, unruhig und schwer, aber es geht immer vorwärts, auch dann, wenn die Angehöri­gen manches Stück des Weges rückwärtsgehen. Es ist die Zeit des Lernens, der Traurigkeit, des Schmerzes und der Gefühle wie Wut und Verzweiflung. Die Laby­rinth-Zeit kann als die Suche nach einem Weg zur Mitte beschrieben werden, wodurch die Trauernden an einen Punkt kommen, den sie durchschreiten und von dem aus sie als „Veränderter” aus dem Labyrinth herauskommen. In dieser Zeit müssen die Trauernden lernen, die Belastungen auszuhalten und den Verstorbenen loszulassen.

Beim Ankommen an der 3. Station, der sog. Regenbogenzeit, beschreiten die Trauernden ihren persönlichen Lebensweg weiter, ohne die ver­storbene Person aufzugeben (= Weiterleben und Erinnern). Sie sind schon weit auf ihrem Trauerweg fortgeschritten, erfreuen sich am Leben und betrachten gleichzei­tig die Trauer als einen Teil ihres Lebens. Das heißt aber auch, sie haben keine Angst, in „kleine Janus-Zeiten oder Labyrinth-Zeiten“ zurückzufallen – z. B. am Geburtstag oder Hochzeitstag.

Der Abschluss des Trauerweges (= Ende der Regenbogenzeit) bedeutet nicht, dass die Trauer beendet ist. Aus der sog. „Rest-Trauer” können z. B. Rituale ent­stehen, die die Beziehung zum Verstorbenen am Leben erhalten und damit Teil des neuen Lebens werden. Ruthmarijke Smeding, der Frau Schnelbach auch in diesem Punkt folgt, versteht unter dem Begriff der „Resttrauer“, dass ein Teil der Trauer nie verschwindet, aber der Trauernde lernt, damit ohne Schmerzen zu leben: nicht trauern müssen, aber trauern dürfen.

Diese Typisierung gibt zu erkennen, dass Verlustarbeit mit intensiver Identitätsarbeit einhergeht. Diesem Identitätsverständnis kommt jedoch der Charakter eines Fragments zu. Das gilt in beide Richtungen der Zeitachse. Es ist insofern Fragment der Vergangenheit, weil etwas, das bereits existierte, unwiederbringlich verloren gegangen ist. Es ist aber auch ein Fragment, das in die Zukunft weist. Die mögliche Entwicklung dieses einmal dagewesenen Kindes wird für immer verborgen bleiben. Damit wird deutlich, dass in diesem Kontext sowohl die Existenz des stillgeborenen Kindes als auch die elterliche Identität nur als Fragmente existieren. Sie tragen jedoch den Verweischarakter auf Transzendenz in sich, der indirekt schon die beiden großen Herausforderungen thematisiert, die sich am Ende dieser umfassenden Untersuchung stellen: die Gottesfrage und – eng mit ihr verbunden – die Theodizeefrage. Die Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen wird im fortgeschrittenen Bewältigungsprozess unvermeidlich. Allerdings kann der Ausgang durchaus in unterschiedliche Richtungen verlaufen. Es ist möglich, dass die Frage „Wo war Gott, als er nicht da war und unser Kind starb?“ nur durch das Schweigen Gottes beantwortet zu werden scheint. Die Vergeblichkeit der Suche nach einer Antwort, die ja auch Wolfgang Borcherts Nachkriegsdrama „Draußen vor der Tür“ wie ein cantus firmus durchzieht, kann möglicherweise durch den Aufbruch in einen Atheismus ad maiorem hominis salutem abgemildert und erträglicher gestaltet werden (um eine durch Odo Marquard bekannt gewordene Formulierung in abgewandelter Form zu zitieren). Sie kann allerdings auch zu einer Veränderung des Welt- und Gottesbildes auf einer höheren Stufe der Reflexion oder zu einer Wiederentdeckung kindlichen Vertrauens auf einer höheren Stufe führen, das heißt zu einer „zweiten Naivität“ im Sinne Paul Ricœurs. Im Hintergrund dieser Transformation des Gottesglaubens steht im Übrigen die Gestalt des biblischen Hiob, der zum Urbild des unschuldig Leidenden wurde und auf den sich Frau Schnelbach zu Recht bezieht.

Ein ähnliches Schicksal wie der Krise des Gottesglaubens kann der nahezu unausweichlichen Auseinandersetzung mit der Theodizeefrage beschieden sein. Eltern, die sich vergeblich an der Warum-Frage abarbeiten, um eine Antwort auf die Frage zu finden, warum gerade ihr Kind sterben musste oder warum Gott, dem man die Attribute der Allmacht und Güte zuspricht, solches zulassen konnte, werden sich möglicherweise von jeder Form transzendenter Spiritualität und damit auch vom Gottesglauben abwenden. In einem therapeutisch oder seelsorglich begleiteten Trauer- und Bewältigungsprozess kann die erlebte Krise des Gottesglaubens aber auch zu dem Ergebnis führen, dass Eltern sich von der Warum-Frage verabschieden, deren Vergeblichkeit sie erkannt haben. Frau Schnelbach fasst diesen Schritt in die folgenden Sätze: „Es ist jedoch […] feststellbar, dass die Warum-Frage – obwohl ihr Aufbrechen in den meisten Krisensituationen zunächst unvermeidbar ist – die psychische Qual vertieft. Damit das seelische Gleichgewicht wiederhergestellt wird, sollen diese Stimmen verstummen. In den inneren Auseinandersetzungen gelangen Eltern zu der Erkenntnis, dass es für den Eintritt des tragischen Lebensereignisses […] keine Erklärung gibt und dass sich auf die Warum-Frage keine Antwort finden lässt.“

Ihre Suche nimmt stattdessen eine neue Richtung und löst die kausale Frage durch eine finale Frage ab: Welcher Sinn verbirgt sich hinter der menschlichen Tragödie, die uns widerfahren ist? Im Hintergrund dieser Überlegungen steht die richtungweisende Schrift Kants „Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“, die Frau Schnelbach überzeugend für den therapeutischen Kontext rezipiert. Eine authentische Theodizee lehrt uns deshalb, die Unverfügbarkeit des Todes als Grundverfasstheit unserer Existenz zu akzeptieren. Sie hat deshalb ihren legitimen Ort in der Mitte der Theologie.

 

Würdigung

 

Die vorliegende Arbeit hat einen wichtigen und innovativen Forschungsbeitrag geleistet. Dafür können drei wichtige Gründe angeführt werden.

Frau Schnelbach hat erstens in ihrer Dissertation Neuland betreten, das im Bereich der Theologie, insbesondere in den thematisch relevanten Disziplinen der Caritaswissenschaft, Moraltheologie, Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie, bisher weitgehend unbearbeitet ist. Insofern hat sie substantiell zur Weiterentwicklung des intratheologischen Diskurses beigetragen, indem sie neue und weiterführende Einsichtsbestände eröffnet und damit den Anspruch in vollem Umfang erfüllt hat, der an eine Dissertation zu stellen ist.

Aus methodisch systematischer Hinsicht ist zweitens hervorzuheben, dass die vorliegende Arbeit durch den konsequent durchgehaltenen gedanklichen Duktus überzeugt, in vorbildlicher Weise die Theorie- und Praxisebene des ersten und zweiten Hauptteils miteinander verzahnt, im dritten Hauptteil miteinander vermittelt und einer inhaltlich anspruchsvollen Synthese zuführt.

Es ist drittens als beachtlicher Ertrag dieser Arbeit hervorzuheben, dass Frau Schnelbach auch den theologischen Ansprüchen in vollem Umfang gerecht wird, weil sie in sachlicher Hinsicht einem zentralen Anliegen der Pastoralkonstitution des 2. Vatikanischen Konzils „Die Kirche in der Welt von heute“ konsequent folgt. Dort heißt es, dass es Aufgabe der Kirche sei, Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute zu teilen. Es dürfe von daher nichts Menschliches geben, das der Kirche fremd sei. Man sollte diese Sätze jeder theologischen Arbeit, die in verantworteter Zeitgenossenschaft betrieben wird, als Präambel voranstellen. Frau Schnelbach wird diesem Anspruch gerecht und zeigt in ihrer Dissertation die Geschichtsverwiesenheit theologischer Erkenntnis anhand der Bezeugungsorte in den Biographien von Eltern auf, die Erfahrungen wie Trauer, Abschied, Bewältigung und Neuentwurf eines Welt- und Gottesbildes nach plötzlichem Kindstod bewältigen müssen. Insofern zeigt sie implizit einen Weg, auf dem es möglich wird, jene beiden Grundtypen von Theologie, die vor etlichen Jahren Otto Hermann Pesch auf der einen Seite durch Thomas von Aquin, auf der anderen Seite durch Martin Luther repräsentiert sah, einer anspruchsvollen Synthese auf höherer Ebene zuzuführen, in die als neuer Protagonist auch die empirischen Wissenschaften mitspielen. Während bei Thomas die Person des Theologen bzw. der Theologin ganz hinter den disziplinierten und rationalen Argumentationsgang zurücktritt, ist bei Luther das Gegenteil der Fall. Ohne die Person des Reformators und dessen Lebensgeschichte wäre die leidenschaftliche und aufwühlende Art der Auseinandersetzung gar nicht nachvollziehbar. Insofern hat Luther, im Gefolge von Paulus und Augustinus, eine Theologie hervorgebracht, die eine, um ein in ähnlich lautender Form von Johann Baptist Metz, Klaus Demmer und Herbert Vorgrimler benutztes Diktum aufzugreifen, umgewandte Biographie oder bedachte Lebensgeschichte ist.

Die existentiell erschütternden Situationen in einem Menschenleben sind aber nicht nur Applikationsort, Bewährungskontext und Forschungsgegenstand von Theologie, sondern auch Entstehungskontext und Lernort. Die damit verbundenen Erfahrungen können somit auch Orte in dem Sinne sein, dass die Theologie selbst in die Schule geschickt wird und dazulernt. Anders gesagt: Sie sind „ein theologiegenerativer Ort.“

Sie bringen Theologie erst hervor. Freilich nicht eine Theologie, die doktrinär, besserwisserisch oder im Brustton der Überzeugung auftritt, sondern eine „Theologie im pianissimo.“ Leise und zurückhaltend wird sie Vertrauen wecken, weil sie sagt, was sie kann, aber auch den Mut hat zu sagen, was sie nicht mehr kann. Eine Theologie von solcher Art, und das gilt insbesondere für die Caritaswissenschaft, wenn sie ihren Ursprung in der Ethik nicht vergessen hat, erreicht an diesem Punkt eine therapeutische Dimension. Sie macht deutlich, was das Studium der Caritaswissenschaft an theologischer Kernkompetenz auch vermitteln will: Ein Können an der Grenze des Nichtkönnens, ein Mitsein an der Grenze des Fernbleibens, ein Verstehen an der Grenze des Unverständlichen, ein Mitgehen an der Grenze der undurchdringlichen Geschiedenheit.

Aufgrund der innovativen Themenstellung und der auf hohem Niveau durchgeführten Einlösung eines anspruchsvollen Forschungsvorhabens freue ich mich sehr, dass am heutigen Tag der renommierte Kardinal-Wetter-Preis erstmals für eine Dissertation vergeben wird, die im Fach „Caritaswissenschaft und werteorientiertes Management“ angefertigt wurde. Ganz herzliche Gratulation zu dieser hohen Auszeichnung!

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