Ausgehend von einem kurzen Text Romano Guardinis aus dem Jahr 1964, „Fragen zum Problem der Macht“, möchte ich einige Überlegungen zur Aktualität seines Denkens anstellen, und zwar hinsichtlich der Fragen im Spannungsfeld von Macht und Ethik, welche uns heute beunruhigen.
Warum „Fragen“?
Romano Guardini verfasste diesen Text als Beitrag zur Festschrift für Karl Rahner. Mit den folgenden Worten entschuldigt er sich bereits zu Beginn für dessen Kürze und offensichtliche Leichtigkeit: „Verehrter P. Rahner, ich brauche Ihnen gewiß nicht zu sagen, wie gern ich etwas Gewichtigeres für Ihre Festschrift beigetragen hätte, muß aber zur Zeit mit meinen Möglichkeiten haushalten. So habe ich die Schriftleitung gebeten, meinen Beitrag in einer gelösteren Weise leisten zu dürfen, nämlich durch die Formulierung von Fragen, die mich selbst beschäftigen, und von denen ich denke, sie beschäftigen auch andere – oder sollten es wenigstens tun. Fragen sind ja Stellen, an denen sich Einsicht entzünden kann, so hoffe ich, daß sie ihren bescheidenen Platz finden werden“.
Eine oberflächliche Analyse könnte den Grund dafür, dass Guardini seinen Beitrag in eine Reihe von Fragen kleidet, auf seinen gesundheitlich prekären Zustand bei der Abfassung des Textes zurückführen. Wenn dies auch unbestreitbar der Fall war, so reicht diese Konstatation jedoch keinesfalls als Erklärung hin. Bereits in den vorausgehenden Jahren hatte Guardini dem Thema der Macht einige Reflexionen gewidmet und sicherlich wäre es ihm nicht schwer gefallen, diese in einer kurzen Synthese zusammenzufassen. Daher muss man nach möglichen tiefer liegenden Gründen suchen, welche der Wahl dieser Darstellungsweise zugrunde lagen. Im Folgenden werde ich versuchen, zwei solcher Gründe anzuzeigen.
Der erste ist methodologischer Art: Bekanntlich ist der philosophische Ansatzpunkt Guardinis streng der sokratischen Methode verpflichtet, die sich zentral auf das Fragestellen gründet. Die sokratische Frage drückt in diesem Sinn nicht nur das „Wissen, nichts zu wissen“, und damit die charakteristische Haltung dessen, der nicht die Wahrheit zu besitzen glaubt, aus. Sondern sie macht sich auf demütige Weise auf die Suche nach ihr. Die sokratische Frage ist damit immer auch die „Position“, das Stellen, eines Problems, sofern diese „Position“ eine Sichtweise auf ein Problem ausdrückt und den Gesprächspartner dazu einlädt, eine bestimmte Sichtweise einzunehmen. Dadurch soll er dazu gebracht werden, – möglicherweise zum ersten Mal – das fragliche Problem von jenem Standpunkt aus zu betrachten, den der Fragesteller mit seiner Frage einzunehmen gedenkt.
Daher drücken die sokratischen Fragen wesentlich eine Suche nach der Wahrheit aus. Sie sind keine statischen Eckpunkte eines Nicht-Wissens, sondern dynamische Aspekte, die in kontinuierlicher Bewegung die Wahrheit zu erforschen drängen. In diesem Sinn haben wir auch im zitierten Textausschnitt gehört: „Fragen sind ja Stellen, an denen sich Einsicht entzünden kann“. Das unablässige Fragen des Sokrates stellt sich für Guardini mithin nicht als das Ergebnis einer skeptischen Haltung dar, sondern ist im Gegenteil Ausdruck eines Erfassens der Wahrheit als einer, die die menschliche Erkenntnis übersteigt und somit niemals gänzlich erfasst und durchdrungen werden kann. Es ist genau diese Beziehung zur Wahrheit, welche die Suche immer weiter treibt.
Ein weiterer Hinweis, dass man die Fragen Guardinis mit Hilfe der sokratisch-platonischen Methode interpretieren kann, scheint mir die Tatsache zu sein, dass eine der letzten Schriften Guardinis den Titel Wahrheit und Ironie trägt. An ihr kann man synthetisch ablesen, wie Guardini – mit explizitem Hinweis auf Sokrates und Platon – die Suche nach der Wahrheit verstanden hat. Hier unterstreicht er mit klaren Worten, dass die sokratische Methode, die von diesem unablässigen und ironischen Fragen charakterisiert ist, „[a]uf jeden Fall keine Skepsis [sc. ist], so daß eigentlich Sokrates – wie das Nietzsche gemeint hat – selbst zu den Sophisten gerechnet werden müßte, sondern sie folgt aus dem tiefsten Wesen dieses Wahrheitserlebnisses selbst.“ Somit setzt das Fragen gleichzeitig zwei Elemente voraus, nämlich „ein Wissen um die Wahrheit und zugleich ein Wissen um die Inkommensurabilität der eigenen Kraft ihr gegenüber; eine Erkenntnis der eigenen Ungemäßheit, aus der aber nicht Skepsis, sondern höchste Zuversicht hervorgeht“.
Vor dem Hintergrund dieses Verweises auf die sokratisch-platonische Methode scheint mir die Wahl Guardinis, seine letzten Gedanken zum Thema der Macht in Form von Fragen auszudrücken, einen tieferen Grund zu besitzen als allein sein prekärer Gesundheitszustand.
Auf eine zweite Erklärung möchte ich an dieser Stelle ebenfalls verweisen: Eine Abhandlung über die Macht kann sich in Form von Fragen ausdrücken, weil es das Wesen der Macht selbst ist, fraglich zu machen.
Guardini analysiert das Phänomen der Macht als spezifisch menschliches Phänomen. Gewiss gibt es eine Macht der physischen Natur, wie auch der pflanzlichen und tierischen Lebewesen, sowie letztlich auch der anderen geistbegabten Wesen wie der Dämonen oder der Götter. Im eigentlichen Sinn basiert jedoch das, was wir als Macht bezeichnen, auf der ontologischen Struktur eines Seins, dessen Dasein an die Dimension des Möglichen und nicht des Notwendigen gebunden ist. Sie hat demnach etwas mit der Handlungsfreiheit zu tun. Es ist gerade das Mögliche, welches das Sein infrage stellt. Damit ist es aber auch nichts Neues und mitnichten ein Charakteristikum nur unserer Zeit, dass das Mögen im Sinne von Macht-haben fraglich macht und das Sein des Menschen und der Dinge infrage stellt bzw. problematisch macht. Dieses Fraglichsein ist weiterhin von einer tief sitzenden Angst begleitet. Als aufmerksamer Leser Kierkegaards kommt Guardini an dieser radikalen Verbindung zwischen dem Entstehen der Macht und dem Fraglichmachen nicht vorbei. Damit ist es nicht nur der Mensch, der die Macht infrage stellt. Vielmehr stellt auch die Macht den Menschen selbst infrage.
Auch dieser zweite Versuch, die im genannten Text gewählte Methodik des Fragens zu erklären, kommt damit zum Ergebnis, dass Guardini alles andere als zufällig auf sie rekurriert. Vielmehr ist sie vom Objekt selbst gefordert, das der Autor behandelt: nämlich der Macht.
Aus dieser Voruntersuchung der Fragen Guardinis zur Macht können wir an dieser Stelle einige wertvolle Hinweise auf die Probleme unserer heutigen Zeit gewinnen, die sich aus dem unglaublichen Wachstum der Macht der Technik ergeben.
Ein erster Hinweis mahnt zur Vorsicht: Bevor wir uns auf die Suche nach konkret-operativen Antworten machen, sollten wir uns der grundlegenden Fragestellung in ihrer ganzen Ernsthaftigkeit vergewissern. Hier kommt wiederum die sokratisch-platonische Rolle der Philosophie als Suche nach der Wahrheit zum Vorschein „Wir müssen wieder die elementare Frage nach dem Wesen der Dinge stellen“, so Guardini. Nicht, weil sich aus solchen Fragen unmittelbar anwendbare Hinweise ergäben, sondern weil diese Fragestellungen uns neue Sichtweisen eröffnen, dank derer wir einen neuen Zugang zum Problem selbst finden: „Fragen sind ja Stellen, an denen sich Einsicht entzünden kann“. Dieser guardinische Ausdruck – an denen sich Einsicht entzünden kann – erinnert uns gewiss an eine Erkenntnistheorie augustinischer bzw. vielmehr bonaventurianischer Prägung. Guardini verfasste seine Doktorarbeit wie auch die Habilitationsschrift über Bonaventura. Aber auch wer diese erkenntnistheoretische Grundausrichtung nicht teilt, kann gleichermaßen die Fruchtbarkeit einer Methode anerkennen, die in der Auseinandersetzung mit praktischen Fragen zunächst zur Klärung der grundlegenden Termini der Fragestellung mahnt.
In unserer Auseinandersetzung mit dem Thema der Macht – so der zweite Hinweis, den uns Guardini in seinem kurzen Text an die Hand gibt – dürfen wir niemals dessen zutiefst „problematische“ Natur vergessen. Gewiss rufen die gegenwärtigen Anwendungen der technischen Macht zahlreiche Fragestellungen in uns hervor. Was uns aber in einer viel radikaleren – weil tiefgreifenderen – Weise infrage stellt, ist die Existenz der Macht selbst, das Faktum, dass etwas sein oder nicht sein kann, dass etwas auch ganz anders sein könnte, als es de facto ist, dass sich etwas auf das Leben anderer Seiender auswirken kann und dass all dies eine tief greifende Relation zum menschlichen Sein einschließt und damit den Menschen selbst kennzeichnet.
Die theologischen und ontologischen Wurzeln der Macht
Diese Verankerung der Macht im Sein des Menschen selbst unterbindet von Anfang an den Gedanken, die Macht sei an sich ein dämonisches Phänomen. Wer dennoch versuchte, die Macht zu dämonisieren, würde nur enttäuscht. Guardini ist sich des dämonischen Gebrauchs der Macht, den der Mensch gemacht hat und auch weiterhin machen kann, durchaus bewusst (und es ist genau diese Hinsicht, in der die Verurteilung des nationalsozialistischen Regimes und jedes anderen totalitaristischen Systems bei Guardini immer wiederkehrt). Dennoch enthält er sich strikt der sich an diesem Punkt eröffnenden Möglichkeit, eine negative Theorie der Macht zu formulieren. In seiner auf das Jahr 1950 datierten Schrift Die Macht zögert er nicht, jene bürgerliche Haltung zu kritisieren, welche über die Ausübung der Macht ihren Deckmantel legt, als ob man sich des Machtgebrauchs schämen müsste und nicht gerade darin die Würde des Menschen selbst zu finden sei: „Und wir Heutige tun gut, uns daran zu erinnern, daß im Träger der neuzeitlichen Entwicklung, auch und gerade der darin sich vollziehenden Entfaltung menschlicher Macht, nämlich im Bürger, eine verhängnisvolle Neigung wirksam ist: in immer gründlicherer, wissenschaftlich wie technisch vollkommenerer Weise, Macht auszuüben, sich aber nicht offen zu ihr zu bekennen, bzw. sie hinter Gesichtspunkten des Nutzens, der Wohlfahrt, des Fortschritts usw. zu verstecken“.
Der Wurzelgrund der Macht ist für Guardini – weitab davon, dämonisch zu sein –: theologisch. So ist es Gott selbst, der aus dem Menschen ein mächtiges Seiendes macht und ihm eine Macht über sich selbst, über die Dinge und über die anderen in die Hände gibt. Diese Macht scheint Guardini so bedeutsam, dass er sich sogar fragt, ob nicht in ihr selbst bzw. aus der sich aus ihr ergebenden Verantwortung die grundlegende und konstitutive Eigenschaft des Menschen selbst zu finden sei: Jene, die in synthetischer Form alles in sich birgt, was charakteristisch menschlich ist, wie das bewusste Denken, den freien Willen und das übernatürliche Ziel.
So lautet die erste Frage über die Macht bezeichnenderweise wie folgt: „Man bestimmt in der Regel die Gottebenbildlichkeit des Menschen ihrer natürlichen Seite nach von der Anlage zur Erkenntnis und freien Willensentscheidung, ihrer übernatürlichen Seite nach von der heiligenden Gnade her. Wäre es nicht fruchtbarer, nach Genesis 1,28 zu sagen, der Mensch sei das Wesen, dem Gott Macht über die Welt wie auch über es selbst gegeben und entsprechende Verantwortung auferlegt hat?“
Diese guardinische Frage ist von besonderem Interesse. Guardini fragt sich mit anderen Worten, ob es nicht hilfreicher wäre, den Menschen ausgehend von der Tatsache zu definieren, dass er ein Seiendes ist, dem eine Macht verliehen worden ist und derer er sich bedienen kann. Es geht ihm hierbei offensichtlich nicht um die Eigentlichkeit der Frage, sondern um ihren Ertrag. Damit weist er die klassischen Definitionen der Philosophie und Theologie nicht ab, jene Definitionen des Menschen als eines animal rationale bzw. als eines Seins in Freiheit oder als Geschöpf Gottes. Vielmehr stellt er die Frage, ob andere Definitionsversuche nicht weiter führen.
Dieser Hinweis scheint mir für die gegenwärtigen Diskussionen äußerst hilfreich. In einer Zeit, in der es immer schwieriger wird, zu einer einhelligen und universal teilbaren Definition der menschlichen Natur oder der Freiheit zu gelangen, könnte die Identifizierung des Menschen als eines Seienden, das eine Macht über sich und andere Seiende ausübt und sich dieser Macht bewusst werden muss, einige weiterführende Perspektiven eröffnen. Diese wären meines Erachtens in der Lage, eine Übereinkunft darüber zu etablieren, welche Ethik der Ausübung einer solchen Macht voranstehen sollte bzw. welche juristischen Mittel herangezogen werden müssten, um zu vermeiden, dass eine solche Macht – über sich und die
anderen – in Missbrauch ausartet und somit andere an der Ausübung des je eigenen Seinsvermögens hindert.
Aus den Überlegungen Guardinis wird deutlich, dass der eigentlich neuralgische Punkt nicht in der Anerkenntnis der Tatsache liegt, dass der Mensch eine Macht ausübt oder dass seine Handlungen Auswirkungen zeitigen. Bestünde die Macht nur darin, könnte man seinen Standpunkt getrost einer hobbesschen Perspektive zuordnen: Dann ginge es ihm lediglich darum, eine physische Theorie der Gesellschaft und der Politik ausgehend vom Phänomen der Macht der einzelnen als bewegter Körper zu entwerfen. Für Guardini ist jedoch, wie wir bereits betont haben, die Macht im eigentlichen Sinn nicht auf die physische Macht reduzierbar. Vielmehr besitzt sie ihre Charakteristik darin, aus einem freien und bewussten Seienden hervorzugehen, wie er schreibt.
Guardinis betont den Aspekt der „Initiative“ und verweist uns direkt auf die Zentralität dieses Themas im Denkens Hannah Arendts, die in Berlin die Vorlesungen Romano Guardinis hörte. 1958 charakterisierte sie in der Schrift Vita Activa die menschliche Handlung grundlegend durch ihre Fähigkeit, Initiative zu sein, d. h. etwas Neues zu beginnen bzw. hervorzubringen. Und weil die Handlung die politische Aktivität par excellence ist, ist es auch die Natalität und nicht die Mortalität, welche im Zentrum der politischen Macht steht. Arendt greift dieses Thema im posthum erschienenen Fragment Was ist Politik? (1993) wieder auf. Hier bekräftigt sie nochmals diese Verbindung zwischen der Fähigkeit zur Initiative und der politischen Handlung. Ihrer Analyse zufolge taucht die Verbindung erstmals im griechischen Denken auf, das für das Beginnen und das Beherrschen dasselbe Wort gebraucht (archein), und gleichzeitig mit dem Begriff prattein, d. h. Handeln, das Beenden und Vollenden dessen, was begonnen wurde, bezeichnet.
Auch in Rom ist die Verknüpfung zwischen Freiheit und Beginn präsent. Hier wurde die republikanische Freiheit stets mit der Gründung der Stadt (ab urbe condita) in Verbindung gebracht. Augustinus betonte seinerseits, dass die menschliche Existenz, die eben durch die Geburt – durch das Zur-Welt-Kommen – gekennzeichnet ist, ontologisch mit jener Dimension des Beginnens zusammenhängt. Und Kant führte in der Neuzeit die Idee vom Beginnen auf die spezifisch menschliche moralische Fähigkeit zurück. Die verheerenden Verwüstungen des Totalitarismus bestünde darin – so schließlich Arendt am Ende des Fragments –, den Menschen diese Macht aberkannt zu haben, d. h. jenes Recht, etwas Neues beginnen zu können. Der „neue Mensch“, den die totalitäre Macht erschaffen wollte, war demzufolge die exakte Negation jenes „Menschen als einer, der den Beginn von etwas Neuem setzt“. Der „neue Mensch“ des Totalitarismus präsentiere sich dagegen als reiner Nachahmer, als Teil der Maschine des Determinatismus.
Diese Macht, einen Beginn zu setzten, ist eine Macht des einzelnen Individuums. Zwar gibt Arendt zu, dass die politische Handlung als solche immer eine „konzertierte Handlung“ darstellt und eine Handlung freilich niemals isoliert abläuft; doch liegt das Anfangsmoment, eben jene Initiative, immer auf Seiten des Einzelnen und seines Mutes. Daher kann im Grunde der Mensch auch alleine – wenn ihm die Götter beistehen – so wie Herakles große Heldentaten vollbringen. Der anderen Menschen bedarf er nur noch, um die Erinnerung an sich zu erhalten. Aus diesem Grund kann die Freiheit der Initiative sogar im Dunkel der Tyrannei bewahrt werden.
Diese Parallele zu den Ausführungen Hannah Arendts über die „Initiative“ zeigt uns, wie die Reflexionen Guardinis zutiefst mit einigen der signifikantesten Abhandlungen der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts in Verbindung stehen.
Die Gefahren der Macht
Die Wurzeln der Macht liegen demzufolge in der theologischen und ontologischen Dynamik der Verbindung zwischen Macht und Person. Nur ein selbstbezüglicher Geist, d. h. eine Person, kann Macht im eigentlichen Sinne besitzen. Ist dies aber der Fall, dann kann nun in einem weiteren Schritt der grundlegend problematische Aspekt der Macht in ihrer Möglichkeit erkannt werden, sich von ihrem Grund im personal Seienden loszusagen und gegen dieses zu wenden. Damit degeneriert sie von einer Kraft zur Humanisierung zu einer dehumanisierenden Potenz.
Im Einzelnen individuiert Guardini vier Gefahren solcher Art. Dabei handelt es sich gleichzeitig um Gefahren von höchster Aktualität.
a) Die erste Gefahr geht von jener Macht aus, welche aufgrund der technischen Errungenschaften das menschliche Leben in einer bislang ungeahnten Weise zerstört. Es handelt sich dabei um die Macht der Atomwaffen, die dem Menschen ein niemals zuvor besessenes zerstörerisches Potenzial in die Hände legt. Durch den Gebrauch solcher Waffen gäbe es keine Sieger und Besiegte mehr, sondern nur noch ein totaler Krieg, der nichts als eine vollständige Auslöschung mit sich brächte. An diesem Punkt treffen sich die Erörterungen Guardinis mit jenen Karl Jaspers zum Problem der Atombombe sowie mit den Analysen Hannah Arendts;
b) eine zweite Gefahr birgt die Macht der Totalitarismen, die das Leben des Geistes zerstört. Die Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Stalinismus zeigten Guardini, wie zerbrechlich der Schutz des menschlichen Geistes ist, jenes Geistes, der sich stets unendlich über die Barbareien erhebt. Es ist aber auch der Geist, der angesichts des Entstehens von Tyranneien elend kapituliert. Wurden auch einige Totalitarismen erfolgreich überwunden, so entstehen währenddessen neue, die oft nicht auf den ersten Blick sichtbar und somit hinterhältig sind; als solche bedrohen sie aber nicht weniger gefährlich das Leben des Geistes;
c) das Phänomen der Gewalt über eine andere Person stellt die dritte Form der Gefahr der Macht dar. Nur allzu oft ist es so, dass unser Wunsch, die Realität an unsere Vorstellungen anzupassen, nicht die nötige Geduld mit sich bringt, die jedoch für eine authentische Realisierung unerlässlich wäre. Man verneigt sich nicht vor der Natur, um ihre Rhythmen zu erkennen; man schenkt den anderen kein Gehör, wenn man mit ihnen ein bestimmtes Projekt durchführen will; sondern man will immer alles und sofort. Dabei macht man aber den Anderen zu einem einfachen Mittel des eigenen Willens. Der Andere wird so nicht mehr in seiner Natur, in seinem personalen Sein, anerkannt, d. h. in seinem Recht, selbst eigene Handlungen zu beginnen. Seine freie Zustimmung und Kreativität ist immer notwendig, wird aber ein Mittel zur Durchsetzung eigener Ziele. Es ist mithin die Macht, die die Personalität des Anderen zerstört;
d) die vierte und letzte Gefahr geht von der Macht aus, die uns selbst zerstört, d. h. die Personalität desjenigen, der sie ausübt. Guardini hält es für eine Illusion zu glauben, dass die Ausübung einer Macht sich nicht auf den Ausübenden selbst auswirkt. Die antiken Denker waren sich jener der Machtausübung inhärierenden Gefahren durchaus bewusst – jener Gefahren, die also nicht nur für die Adressaten, sondern auch für die Subjekte der Machtausübung besteht. Oder, um denselben Sachverhalt mit Hegel auszudrücken: In der Knechtschaft wird nicht nur die Menschheit des Knechtes, sondern auch jene des Herren negiert. Der verzerrte Gebrauch der Macht mündet so in die Zerstörung des Subjekts selbst, das sie ausübt. Damit wird die Macht nicht länger von einer Person ausgeübt, sondern sie wird unpersönlich, sie wird zu einer Macht des Apparates, der Organisation, der Maschine.
Macht und Verantwortung
Angesichts dieser Gefahren konzipiert Guardini eine Rückführung der Macht auf die Person. Die verantwortete Macht ist damit jene, die auf ihren Urheber, d. h. auf den Menschen, bezogen wird. Wenn Macht in diesem eigentlichen Sinn die menschliche Macht ist, dann existiert nachgerade keine Macht, die nicht vom Menschen ist; eine Macht, die keinen Verantwortlichen kennte, gibt es mithin nicht: „Es gibt keine nicht-verantwortete Macht. […] Deren Wirkung ist immer Tat – oder wenigstens Zulassung – und steht als solche in der Verantwortung einer menschlichen Instanz, einer Person. Das ist auch dann so, wenn der Mensch, der sie ausübt, diese Verantwortung nicht will. […] Sobald letzteres geschieht; sobald auf die Frage: wer hat das getan? weder ein „Ich“ noch ein „Wir“, weder eine Person noch eine Personengemeinschaft mehr antwortet, scheint die Machtausübung zur Naturwirkung zu werden. […] In Wahrheit wird dadurch der wesenhafte Charakter der Macht als personal verantworteter Energie nicht aufgehoben, sondern nur verdorben. Der Zustand wird zur Schuld und wirkt sich als Zerstörung aus“ (103–104).
Die nicht-verantwortete Macht wird also ausgeübt, ohne dass ihr Träger auch deren Autor sein will. Dagegen wird die verantwortete Macht von einer Person ausgeübt, die sich nicht hinter dieser versteckt, sondern offen und frei akzeptiert, Ursprung einer solchen Handlung zu sein. Guardini spricht auch von der Notwendigkeit, ein „Ethos des Befehlens“ wiederzugewinnen und erhofft diesbezüglich eine „Regierung“ der Macht. Damit will er keine institutionell-systematische Kontrolle der Macht einführen – wer wäre auch schon dazu in der Lage, da doch die menschliche Macht der Freiheit eines jeden einzelnen unterliegt? –, sondern erhofft sich vielmehr, dass sich jeder seiner persönlichen Verantwortung gewahr werde möge, d. h. seiner Funktion als deren Urheber.
Herr der Macht zu sein, und zwar durchaus im Sinn des göttlichen Auftrages der Genesis, heißt damit nicht, jede mögliche Auswirkung unserer Handlungen zu kontrollieren zu versuchen. Fasste man die Beherrschung der Macht in dieser Weise, dann wäre nicht einmal Gott selbst der perfekte Herr seiner schöpferischen Handlungen, da die Erschaffung des Menschen aus seiner Kontrolle geriet. So kann eine Beherrschung der Macht nur darin bestehen, die Urheberschaft unserer Handlungen anzuerkennen, und zwar genau im wörtlichen Sinne eines Vaters, der ein Seiendes anerkennt, das durch ihn geboren ist, das er aber gleichwohl nicht vollständig kontrollieren kann. Verantwortung heißt in diesem Sinn nichts anderes, als eine Handlung in freier Weise und gemäß einem Ziel zu beginnen sowie gegenüber den Anderen sich zu deren Urheberschaft zu bekennen. Sie kann dagegen nicht als ein absoluter Wille zur Kontrolle gefasst werden – dieser Wille bezeichnet ganz im Gegenteil jene totalitäre Macht, welche die Personalität des Anderen doch
gerade negiert.
Wenn man von einer Ethik der Macht als einer Ethik der Verantwortung spricht, dann scheint es unverzichtbar, auf eine Parallele zu einem anderen großen Repräsentanten der gegenwärtigen politischen Philosophie hinzuweisen, nämlich auf Max Weber und sein berühmtes Werk Politik als Beruf. Diese Schrift ist von der offenen Polemik mit Friedrich Wilhelm Foerster gekennzeichnet, also mit jenem antiautoritären und antimilitaristischen Pädagogen, den Guardini bewunderte. Aus diesem Grund scheint es alles andere als willkürlich, den hier vorgestellten Text Guardinis zum Thema der verantworteten Macht auch als eine Antwort auf Weber zu lesen.
Bekanntlich erkennt Max Weber in der Ethik der Verantwortung den typischen Ausdruck der politischen Ethik, d. h. einer Politik, die als Gebrauch der Macht bzw. als Ausübung des legitimen Zwanges verstanden wird. Weber sieht die politische Macht konstitutiv an deren äußerste Möglichkeit, nämlich die Gewaltanwendung, gebunden. Genau aus diesem Grund erfordert ihr Gebrauch auch ein bestimmtes Ethos. Andernfalls würde sie letztlich zu einem rein willkürlichen Instrument entarten. Und in der Tat – was bereitet mehr Gefallen als den Lauf der Geschichte und die Existenz der Anderen beeinflussen zu können?
Zur politischen Rechtfertigung der Machtanwendung müssen mithin drei Bedingungen erfüllt sein: „Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß“. Weber versteht dabei (1) „Leidenschaft im Sinn von Sachlichkeit: leidenschaftliche Hingabe an eine ‚Sache’, an den Gott oder Dämon, der ihr Gebieter ist“. (2) Verantwortung ist die Bereitschaft des Politikers, „für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen“. Und (3) wird das Augenmaß als die Fähigkeit bestimmt, „die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen, also: […] [die] Distanz zu den Dingen und Menschen“.
Die Verantwortungsethik Webers versteht sich vor einem grundlegend anderen Hintergrund als jene Guardinis. Letzterer geht nicht von einem polytheistischen Universum aus, in welchem sich jeder aussucht, seinem eigenen Gott oder einem Dämon zu dienen. Sondern er erkennt eine objektiv begründete Ordnung der Dinge. Die menschlichen Handlungen sind nachgerade nicht auf willkürlich festgelegte Ziele des subjektiven Willens ausgerichtet, sondern vielmehr Handlungen, die vor allem die „Wahrheit der Dinge“ erfüllen sollen: “Die Dinge haben aber ein Wesen; wenn das verkommt oder vergewaltigt wird, dann zieht sich ein Widerstand zusammen, gegen den weder List noch Gewalt mehr helfen. Die Wirklichkeit sperrt sich dann gegen den menschlichen Griff. Die Ordnungen gehen aus den Fugen. Die Achsen des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen Gefüges laufen sich heiß. Man kann mit den Dingen nicht umgehen, wie man will, wenigstens nicht im Ganzen und auf die Dauer, sondern nur so, wie es ihrem Wesen entspricht, sonst bereitet man Katastrophen vor. Wer sehen kann, sieht, wie überall die Katastrophe der falsch gehandhabten Wirklichkeit im Gange ist“.
Somit kann auch der „Grund“, dem sich der Mensch leidenschaftlich widmen soll, nicht willkürlich festgelegt werden, sondern er erweist sich als dem Menschen zusammen mit seiner Macht mitgegeben. Er ist der Mensch selbst. Genau in diesem Sinn richtete sich Dietrich Bonhoeffer in seiner Untersuchung der „Strukturen des verantworteten Handelns“ innerhalb seiner Ethik aus theologischer Perspektive gegen die Verantwortungsethik Webers. Und dies völlig zu Recht. Sich indirekt auf Weber beziehend, stellt Bonhoeffer heraus, dass die Verantwortung niemals gegenüber einer „Ursache“, sondern stets gegenüber Personen, gegenüber Personen aus Fleisch und Blut, besteht. An seinen Freund Bethge schreibt er: „Für mich sind die Menschen das Wichtigste“. Gewiss hätte auch Guardini diese Worte vollauf geteilt.
Ein Element, das die Verantwortungsethik Webers mit derjenigen Guardinis verbinden könnte, ist die zentrale Bedeutung der Askese in Bezug auf die Macht. Guardini fasst diesen nicht in weberscher Art als eine innerweltliche Askese des kapitalistischen Unternehmers oder als den tragischen Dualismus des politischen Helds, der den Pakt mit dem Teufel auf sich nimmt und sich dem Gericht der Geschichte unterwirft. Jedoch verraten die Überlegungen zur notwendigen Askese des verantwortlichen Menschen, der die Beherrschung der Macht annimmt, mehr als nur einen flüchtigen Hinweis auf Weber.
Guardini schreibt: „Askese bedeutet, daß der Mensch sich selbst in die Hand bekomme. Dazu muß er das Unrecht im eigenen Innern erkennen und es wirksam angreifen […] Er muß seine physischen wie geistigen Triebe ordnen, was ohne Selbstüberwindung nicht möglich ist […] Er muß sich erziehen, seine Habe in Freiheit zu besitzen und das Geringere um des Höheren willen zu opfern […] Er muß um die Freiheit und Gesundheit seines Inneren kämpfen: gegen die Maschinerie der Reklame, gegen die Flut der Sensationen, gegen den Lärm in allen Formen, wie sie von allen Seiten her auf ihn eindringen […] Er muß sich zur Distanz erziehen; zur Unabhängigkeit des Urteils; zum Widerstand gegen das, was „man“ sagt […] Straße, Verkehr, Zeitung, Rundfunk, Kino stellen Aufgaben der Selbsterziehung, ja der elementarsten Selbstverteidigung, die weithin nicht einmal geahnt, geschweige denn klar gestellt und in Angriff genommen sind […] Überall kapituliert der Mensch vor den Mächten der Barbarei – Askese bedeutet, daß er nicht kapituliere, sondern kämpfe, und zwar an der entscheidenden Stelle, nämlich gegen sich selbst. Daß er durch Selbstzucht und Selbstüberwindung von innen heraus wachse, damit das Leben in Ehren stehe und seinem Sinn gemäß fruchtbar werde […]“.