Zu Anfang möchte ich zwei grundlegende Bemerkungen machen:
1. Während meines eigenen Geschichtsstudiums wurden wir sehr häufig auf die wissenschaftliche Vorgehensweise hingewiesen. Einer unserer Professoren, ein ausgezeichneter Historiker und Wissenschaftler, formulierte folgenden prägnanten Satz: „Lesen Sie die Quellen, und lesen Sie sie gründlich. Wenn Sie das nicht tun, können Sie sich gleich aufs Canapé werfen und überlegen, wie es gewesen sein könnte.“
Im Titel des Vortrags könnte man „Ideologie“ daher auch mit „Phantasie“ ergänzen. Dieser Satz bedeutet, dass man überhaupt die Quellen lesen soll, dass man alle Quellen lesen soll, deren man habhaft werden kann, und dass man sie alle verwenden soll, nicht nur selektiv, um eine eigene Ideologie (oder Phantasie), die man sich gebastelt hat, zu bedienen. Man soll außerdem Quellenvergleich und Quellenkritik üben (dasselbe gilt auch für die Sekundärliteratur).
2. Historiker sind Mythenjäger, wie z. B. auch der bedeutende Soziologe Norbert Elias sagte, der interdisziplinär arbeitete. Das heißt: Historiker sollen Mythen aufdecken und sie sollen nicht selbst Mythen produzieren – weder im positiven noch im negativen Sinn. Gegen beide Grundsätze wird auch heute noch in der Geschichtsschreibung zuweilen verstoßen – auch in der Geschichtsschreibung zu St. Ottilien und der benediktinischen Mission.
Ich werde versuchen, an einigen ausgewählten Beispielen zu verdeutlichen, was mit dieser Vorbemerkung konkret gemeint ist. Ich werde allerdings bei den kritischen Bemerkungen keine Namen der „Produzenten“ der Ideologie bzw. Phantasie nennen, sondern nur versuchen, den Mythos aufzudecken. Bei Interesse kann man das meiste in Band 1 und 2 meiner Darstellung der Geschichte St. Ottiliens im Einzelnen nachlesen. Dort findet sich auch ausführlich und detailliert die Geschichte der Ottilianischen Ostafrika-Mission bis einschließlich des 1. Weltkriegs.
Beispiel 1: Nähe der Katholischen Mission zur deutschen Kolonialregierung
Dass die Missionare mit der jeweiligen Regierung des Landes, in dem sie Mission betreiben wollen, auf irgendeine Weise zusammenarbeiten mussten und immer noch müssen, ist klar. Dabei ist es egal, ob es sich um eine sogenannte Kolonialregierung handelt (entweder der eigenen Nation oder einer anderen) oder um die Regierung eines selbständigen Staates. Über die Vorgehens- und Verhaltensweise der deutschen Kolonialregierung und vieler Kolonisten in Ostafrika brauchen wir, glaube ich, nicht zu diskutieren. Dass da – vorsichtig ausgedrückt – einiges im Argen lag, ist bekannt.
Dennoch gibt es allenthalben einigermaßen verwunderliche Aussagen zu dieser sogenannten „Nähe“ zwischen katholischer Mission und Kolonialregierung.
a) So z. B. wenn es mit Bezug auf alle drei katholischen Missionsgesellschaften, die in Ostafrika arbeiteten (Weiße Väter (PA), die Spiritaner (CSSp), die Benediktinerkongregation von St. Ottilien (OSB)), heißt, dass die katholischen Missionare „Teil des weltlichen Herrschaftskonzepts“ waren; oder dass „sich die Patres nicht selten ähnlich rabiater Methoden“ wie die Kolonialregierung bedienten und „nicht nur der Kolonialmacht an sich, sondern ihrer militanten Zusammenfassung, der Schutztruppe aktive Hilfe“ leisteten; oder dass die katholischen Missionare „konsequente nationalistische Apologeten von Kaiser und Reich, von preußischem Gehorsam und katholischem Obrigkeitsverständnis“ gewesen seien; etc. – Ich denke, dass ein weiterer Kommentar zu solchen einseitigen und undifferenzierten Äußerungen, die nicht wirklich wissenschaftlich sind, sich erübrigt. Zumal die protestantische Mission bei solchen Äußerungen nicht berücksichtigt ist, die generell eine größere Nähe zum Staat und damit auch zur Kolonialregierung hatte (Katholiken waren als ultramontan der deutschen Regierung lange suspekt und seien keine verlässlichen Deutschen – was auch immer das heißen mag). Solche Sätze fallen also unter die Rubrik „Ideologie“.
b) Diese gerade angeführten Aussagen sind kein Einzelfall. Die Nähe zwischen Kolonialregierung und katholischer Mission wird immer wieder betont, wobei bei manchen Autoren auch besonders der Aspekt der Gewaltanwendung, gerade auch durch die Missionare zum Tragen kommt. So z. B. wenn es heißt, dass die christliche Mission „im kolonialen Alltag integraler Bestandteil der oft gewaltsamen Ausgestaltung von Herrschaft“ war; oder: Europäische Missionen waren „Teil der kolonialen Machtelite und begriffen sich als solche“. Die generelle und undifferenzierte Behauptung der Gewaltanwendung und Unterdrückung der Afrikaner in der Ostafrikanischen Kolonie durch die Missionare ist im Grunde Ideologie (genauso wie damals die Ideologie der Überlegenheit der weißen Rasse). Das klingt, als wäre Unterdrückung und Gewaltanwendung missionarisches System gewesen. Dass das in einigen Fällen vorkam, ist unbestritten.
Solche Aussagen sind beliebig vermehrbar. In den zitierten Abhandlungen geht es nicht generell um Mission, sondern um katholische Mission und speziell um die Missionsbenediktiner. Bei solchen Pauschalurteilen liegt der Ideologieverdacht nahe, vor allem weil die auch in Ostafrika zahlreich vertretenen protestantischen Missionen (jeglicher Denomination) mit keinem Wort erwähnt werden. Selbstverständlich ist es genauso falsch, generell zu sagen „die Protestanten haben …“. Es ist zur Zeit allerdings auch wieder „modern“ und „politisch korrekt“, die katholische Kirche, die Mission und alles, was damit zusammenhängt, anzuprangern. Ob die einzelnen Aussagen auf Tatsachen beruhen oder nicht, tut dabei nichts zur Sache. Wenn Fehlverhalten jedoch auf Tatsachen beruht, muss man es natürlich deutlich sagen.
Um diese Beurteilungen zu relativieren bzw. zu widerlegen, möchte ich einige Beispiele von benediktinischen Missionaren bzw. Verantwortlichen für die Mission bringen, die sich „widersätzlich“ verhielten, entweder in ihrem Tun oder in ihren Äußerungen.
a) Da ist z. B. Pater Johannes Häfliger OSB, der sich nach dem Maji-Maji-Krieg um die hungernden Afrikaner kümmerte und sie auch vor den Ruga-Ruga-Banden zu schützen versuchte und deshalb Probleme mit der Regierung bekam.
b) Weiterhin Pater Clemens Künster OSB, der einen Kolonialbeamten angezeigt hatte, weil dieser Afrikaner prügelte. Die Konsequenzen für Pater Clemens waren von Regierungsseite aus nicht angenehm: Er hatte die Alternative zwischen Gefängnis oder Ausreise. Sein Bischof schickte ihn dann nach Deutschland zurück, weil er keinen seiner Missionare im Gefängnis sehen wollte.
c) Bischof Thoams Spreiter, der sich – ebenso wie Abt Norbert Weber – sehr für Bildung und Ausbildung der Afrikaner einsetzte, schrieb, dass afrikanische Christen lesen und schreiben lernen sollen. Denn wenn in Zukunft Wahlen in dem Land abgehalten werden, sollen afrikanische Christen nicht ohne Stimme sein (offenbar ging Spreiter von einem irgendwann einmal eigenständigen Land aus).
Solche Beispiele kann man aus den Quellen vermehren.
Interessant sind auch einige Aussagen von Bischof Thomas Spreiter OSB und Abt Norbert Weber OSB, dem Generalsuperior der Ottilianischen Kongregation, die die vermeintliche „Nähe“ zwischen benediktinischer Mission und Kolonialregierung etwas anders aussehen lassen:
a) Zum Beispiel ist hier ein Brief Thomas Spreiters an die Kolonialregierung zu erwähnen: Die Regierung hatte sich bei ihm dafür bedankt, was die Missionare auf kulturellem Gebiet leisteten. In diesem Zusammenhang ging es vor allem um die Schulen der Mission. Die Antwort Thomas Spreiters lautete: Dieser Dank sei ja schön und gut, besser wäre es allerdings, wenn die Regierung die Benediktinermission wirklich unterstützen würde. Das war eine ziemlich klare Ansage.
b) Abt Norbert Weber machte in etlichen seiner Schriften und Reden deutlich, dass ein grundlegender Unterschied zwischen Kolonialregierung / Kolonisten einerseits und Missionaren andererseits bestehe, da Kolonialpolitiker nur aus den Schätzen des Landes und aus der Kraft des Volkes Kapital schlagen wollen, den Missionaren es aber um die unsterblichen Seelen der Afrikaner ginge. Die Kolonialpoilitiker wollen die Afrikaner zu Sklaven machen, was die Missionare nicht akzeptieren könnten.
c) Norbert Weber machte weiterhin oft kritische Bemerkungen über die Kolonialregierung, ihr Verhalten und ihr Vorgehen gegenüber den Afrikanern, unter anderem in seinen Reisetagebüchern, die er auf seinen Visitationsreisen verfasste. So bezeichnete er, noch während er selbst in Ostafrika war und noch während der Maji-Maji-Krieg tobte, diesen Krieg als Freiheitskampf der Afrikaner, wobei er Vergleiche mit der deutschen Geschichte zog. Der Begriff des „Freiheitskampfes“ kam dann auch in der offiziellen Stellungnahme der Benediktiner vor, die sie verfassten, um Vorwürfen der Kolonialregierung entgegenzutreten, sie seien für einige Entwicklungen während dieses Krieges mit verantwortlich.
Dass da oft sehr wenig Nähe zwischen den Missionsbenediktinern und der Kolonialregierung bestand, wird auch hier ziemlich deutlich.
Beispiel 2: Katholische Missionare sind konsequente nationalistische Apologeten
Der Vorwurf, dass katholische Missionare „konsequente nationalistische Apologeten“ waren, bringt mich gleich zu einem ähnlichen Punkt.
Bischof Thomas Spreiter, dem Apostolischen Vikar des Vikariats Daressalam, wurde auch ein solcher Vorwurf gemacht. Es ist bekannt, dass die deutschen Missionare (sowohl katholische als auch protestantische) zusammen mit allen Deutschen das nach dem Ersten Weltkrieg unter englische Herrschaft geratene Ostafrika verlassen mussten. Irgendwann war dann das Gerücht aufgekommen, dass Spreiter auf ein Angebot der Engländer hin mit seinen Missionaren hätte bleiben können, wenn er sich aus übertriebenem Nationalismus nicht geweigert hätte, die milden Bedingungen der Engländer anzunehmen.
Wann das Gerücht aufgekommen ist, lässt sich nicht feststellen. Aber wir erfahren davon durch eine Anfrage von 1931 an Erzabt Chrysostomus Schmid, der die Sache auch an Spreiter weitergab. In diesem Gerücht hieß es, der Bischof sei dreimal zu dem freundlichen Angebot der Engländer befragt worden und habe jedes Mal den Vorschlag heftig zurückgewiesen. Auf diese Weise habe der Bischof aus übertriebenem Nationalismus einem blühenden Missionsgebiet großen Schaden zugefügt. Spreiter selbst hat diesen Vorwurf natürlich zurückgewiesen (sowohl in seinem Tagebuch als auch in seiner Antwort an den Fragenden). Dass er dies zu Recht tat, geht aus den Quellen hervor, die zeigen, was Spreiter alles unternommen und versucht hat, um tatsächlich bleiben und die Mission weiterführen zu können. Außerdem wird auch aus den generellen Zielen der Engländer, die sie nach dem ersten Weltkrieg hatten, deutlich, dass an dem Vorwurf nichts war und nichts gewesen sein konnte.
Allerdings gibt es spätere sogenannte „Geschichtsschreiber“, die dieses Gerücht nicht nur gerne glaubten, sondern in diesem Zusammenhang von einer „gut gesicherten mündlichen Tradition“ sprechen, auch wenn sie keine Quellenbeweise dafür hatten. Besonders fatal wird es, wenn man auch noch die Schlussfolgerung zieht, dass das Verhalten Spreiters „für die Mission verhängnisvoll“ gewesen sei und „ein Ereignis von großer Tragweite“. Wobei hier auch die Argumente und Belege für diese Behauptung fehlen. Ist das nun Ideologie oder Phantasie? Trotzdem bleibt die Frage, wer und aus welchen Gründen solche Gerüchte in die Welt setzte.
Beispiel 3: Visitationsrezess von Abt Norbert Weber
Ein weiteres Beispiel, das sich auf Thomas Spreiter (aber auch auf Abt Norbert Weber) und auf einen früheren Zeitpunkt bezieht:
Es handelt sich um den Visitationsrezess, den Abt Norbert Weber nach seiner Afrikareise von 1905 schrieb. Ein solcher Rezess war der Propaganda zeitnah einzureichen. Nun gibt es in einer Abhandlung die Äußerung, dass Norbert Weber seinen Bericht mit großer Verspätung geschrieben habe, d. h. ein Jahr nach seiner Rückkehr (also Ende 1906), und dies sei deswegen geschehen, weil Thomas Spreiter die rechtzeitige Abfassung des Rezesses verhindert hätte (wofür es jedoch keine Belege gibt). Davon abgesehen, dass der Rezess mit „Weihnachten 1905“ datiert ist, geht aus Webers Korrespondenz mit dem Abtprimas (1.2.1906) und einer Empfangsbestätigung bzw. dem Dank der Propaganda für den Rezess (3.3.1906) hervor, dass der Bericht Anfang 1906 eingereicht worden war. Das heißt, dass diese Aussage / Behauptung nicht nur von den Quellen nicht gestützt wird, sondern ihnen auch widerspricht.
Was die Interpretation angeht, dass Thomas Spreiter die rechtzeitige Abfassung des Rezesses verhindert habe, muss man sich mehrere Fragen stellen: 1. Wenn man die Handlungs- und Verhaltensweise Thomas Spreiters kennt, ist eigentlich klar, dass er ein Legalist war, d. h. er eher auf die rechtzeitige Abfassung gedrängt hätte (da rechtlich so gefordert); 2. Warum hätte Thomas Spreiter den Rezess verhindern sollen? Zu der Zeit, um die es in dem Bericht ging (1903-1905), war Spreiter für das Missionsgebiet noch nicht verantwortlich (er war erst ab 1906 Apostolischer Vikar und Bischof). Zudem äußerte sich Norbert Weber in seinen eigenen Aufzeichnungen sehr lobend über die damals von Spreiter geführte Station Lukuledi. 3. Wie hätte er den rechtzeitigen Bericht überhaupt verhindern können? – Übrigens: Was gibt das für ein Bild von Thomas Spreiter?
Das Ganze gehört also mehr in den Bereich der Phantasie. Bedauerlich ist, dass solche Dinge dann in andere Abhandlungen als „Ergebnis neuester Forschung“ übernommen werden.
Beispiel 4: Der Umgang mit Initiationsriten
Einer von vielen weiteren Aspekten ist die Frage der Initiationsriten (Unyago). Diese Initiationsriten unterlagen innerhalb der Stämme zunächst strikter Geheimhaltung und hatten offenbar auch einen ziemlich starken sexuellen Aspekt. Was nicht verwunderlich ist, da es um die Einführung der Jugendlichen ins Erwachsenenleben ging.
1908 hatte ein afrikanischer Christ in Ndanda den Missionaren über das Unyago der Jungen Einzelheiten berichtet. Die Sache als solche war den Missionaren zwar schon lange bekannt, aber diese neuen und detaillierteren Kenntnisse haben die dortigen Missionare so irritiert, dass diese handelten. Auch das ist nicht verwunderlich, da die Missionare über die starke Sexualisierung der Riten nicht sonderlich begeistert waren. In einer Abhandlung der Sekundärliteratur wird der Effekt dieser Eröffnungen als „moralische Panik“ bezeichnet, die die Missionare sofort zu rigorosem Handeln gebracht habe. Wenn man sich nun die zeitgenössischen Quellen anschaut, sieht die Sache etwas anders aus. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zunächst der Rundbrief Bischof Thomas Spreiters vom November 1908, den er speziell dem Unyago widmete und in dem er sich ausführlich mit dem Thema auseinandersetzte. Hier, wie auch in späteren Abhandlungen und Äußerungen, machte er klar, dass bei diesen Initiationsunterweisungen nicht alles verwerflich war und manches gesellschaftlich Nützliche tradiert wurde. Daher war es, um Unterscheidungen treffen zu können, seiner Ansicht nach unbedingt nötig, die Sitten und Bräuche der Eingeborenen genauestens zu erforschen, schriftlich zu dokumentieren und die eigenen Erkenntnisse den anderen Missionaren zu kommunizieren. Nur so könne man erkennen, was man als schädlichen Aberglauben einzuordnen hat. Von überstürztem Handeln und Panik ist hier nichts zu bemerken (auch in anderen Quellenaussagen nicht). Dass es einige Missionare gab, die heftiger auf solche Dinge reagierten als andere, ist allerdings unbestreitbar. Das war aber nicht die generelle Linie.
Solche Beispiele – gepaart auch mit offensichtlichen und zum Teil heftigen Fehlern bei den historischen Fakten – könnte ich noch weiterführen. Schon die wenigen Beispiele zeigen jedoch meiner Ansicht nach, wie viel Ideologie und Phantasie im Zusammenhang mit der Geschichte St. Ottiliens produziert werden, die keineswegs quellengestützt sind, ja den Quellen sogar widersprechen.