Nachhaltigkeit und Religion in der Literatur

Eine Spurensuche

Im Rahmen der Veranstaltung "Rückkehr der Religion – passé?", 21.11.2022

©tilialucida, canva

Gott ist tot“, so lautet der wohl berühmteste Satz Nietzsches, der die Begebenheiten seiner Zeit analysierte und die christliche Kirche kritisch betrachtete. Wenn Friedrich Nietzsche vom Tod Gottes spricht, meint er damit, dass die Idee eines Gottes in der modernen Welt unglaubwürdig erscheint.

Der heutigen Generation – und auch bereits der vorhergegangenen wird Desinteresse und Gleichgültigkeit, wenn nicht gar Ablehnung des Religiösen nachgesagt. Für mich, als Vielleserin auffallend ist, dass sich die Belletristik religiöser Motive bedient. So sind in sehr vielen Büchern, die ich außer Fachliteratur, gelesen habe, religiöse Motive zu finden. Besonders auffallend im Kriminalroman, was aber ein anderes Thema dieser Veranstaltung ist, in der wir uns mit Fragen der Literatur- und Medien beschäftigen. Es gibt Unmengen davon – allein die Aufzählung der Titel würde meine Redezeit hier überschreiten.

Näher eingehen möchte ich auf einige wenige, die mir wegweisend erscheinen, um einen roten Faden in meinen Vortrag zu bringen. Und besonders möchte ich auf einige Werke Joseph Bernharts hinweisen, die in Verbindung zu meiner Dissertation zu einem ähnlichen Thema stehen, an der ich gerade arbeite. Das ist der Grund, weshalb der Name Joseph Bernhart, der Ihnen bis jetzt möglicherweise völlig unbekannt war, häufig zu hören sein wird. Er ist ein Mann, dessen wegweisende Gedanken und Werke bisher viel zu wenig Beachtung gefunden haben.

Religion und Technik

Begleiten Sie mich jedoch zu Anfang bitte auf eine kurze Reise durch verschiedene Epochen der Literatur und deren Verbindung zur Religion bzw. zu religiösen Motiven.

Im frühen Mittelalter, bis etwa zum Ende des karolingischen Reiches (911) bestand Literatur fast ausschließlich aus religiöser Gebrauchsliteratur, in lateinischer Sprache verfasst, die zur Vermittlung der christlichen Glaubenslehre dienen sollte. Bald folgten deutsche Übersetzungen von Glaubenstexten, wie das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis, Beicht- und Taufgelöbnisse für das Volk. In dieser geistlich geprägten Zeit waren Bibel- und Legendendichtungen, Reimpredigten und v. a. Marienlyrik literarische Begleiter. Beispielhaft sind hier Willirams Paraphrase des Hohen Liedes, um 1061 datiert und der Versuch eines Memento mori des Heinrich von Melk, um 1160 entstanden, anzuführen, wobei letztes bereits an die höfische Dichtung angelehnt ist und Elemente des Minnesangs enthält.

Wolfram von Eschenbachs bekanntester Versroman der mittelhochdeutschen höfischen Literatur, Parzival, der zwischen 1200 und 1210 entstand, ist durchdrungen von religiösen Motiven: Denn erst als Parzival die Gier abgelegt und Demut gelernt hat, gelingt es ihm, den Fischerkönig durch die richtige Frage zu erlösen. Nach dem mittelhochdeutschen Wörterbuch Lexer bedeutet diemuot, (diemüete oder dêmuot) auch Herablassung, Milde und Bescheidenheit.

Der enorme Einfluss der Kirche im Mittelalter zeigt sich in der Literatur des späten Mittelalters in den beiden einflussreichsten Glaubensrichtungen der Scholastik, zu deren Hauptwerk die im 13. Jahrhundert entstandene Summa Theologiae des Thomas von Aquin gehört und der Mystik. Hier sei der herausragende Meister Eckhart genannt.

Während das Mittelalter als Zeit des dunkeln Aberglaubens angesehen wurde, wollten die Menschen des 18. Jahrhunderts in der Epoche der Aufklärung nun Licht in diese jahrhundertelang währende Dunkelheit bringen. Immanuel Kants Antwort auf die Frage: „Was ist Aufklärung?“ in der Dezemberausgabe des Jahres 1784 der Berlinischen Monatsschrift scheint für alle gut verständlich zu sein: Der Mensch soll sich aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit befreien und mündig werden. Den Mut haben, selbst zu denken. „Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ wurde zum Leitmotiv des 18. Jahrhunderts. Die preußischen Zensurbehörden sahen seine Schriften mit den geltenden Herrschaftsverhältnissen und der Bibel als nicht vereinbar an. Schiller, Voltaire, Rousseau, Lessing sind Vertreter dieser Zeit, wobei Lessing bereits der aus der Aufklärung resultierenden Strömung der Empfindsamkeit zugewiesen werden muss. Es ist bekannt, dass Kant deren Schriften kannte und mit ihnen korrespondierte. Kants Einfluss auf die Philosophie und Geistesgeschichte ist nicht zu vernachlässigen. Auch Joseph Bernhart nimmt v. a. in seiner Technik-Kritik Bezug auf diesen Philosophen.

In manchen Epochen wie der Empfindsamkeit oder dem Vormärz hat die Auseinandersetzung mit der Religion eine konstitutive Rolle gespielt. Dabei entstanden vor allem Oden und Elegien. Besonders Friedrich Gottlieb Klopstock prägte die Literatur der Empfindsamkeit durch eine naturnahe Religiosität im Beispiel des Epos Messias (1748–1773). Manche literarische Gattungen wie etwa das barocke Trauerspiel, oder die mittelalterlichen Passionsspiele, einige von Ihnen werden vielleicht in diesem Jahr in Oberammergau gewesen sein, sind ohne deren religiösen Kontext nicht zu verstehen.

In der Neueren Deutschen Literatur, im Zauberberg von Thomas Mann sind sich Lodovico Settembrini und Leo Naphta uneins in der Frage, wie denn Geist und Natur zueinander stehen. Naphta ist der Meinung, dass die Natur völlig frei von Geist sei. Settembrini hingegen vertritt die Meinung, dass die Natur selber Geist sei. In den Streitgesprächen der beiden, oft im Nietzsche-Kontext, werden neben vielen anderen auch Gespräche über Religion geführt. Leo Naphta ist jüdischer Herkunft, zum Christentum konvertiert und hat im Jesuitenorden eine Heimat gefunden, während Settembrini als Sprachrohr für Demokratie und Fortschritt auftritt. Religiöse Motive sind in vielen von Manns Werken zu finden. Denken wir an Joseph und seine Brüder, oder die Novelle Tod in Venedig.

Die Literatur der Moderne/Postmoderne, zu deren Zeit ich auch Max Frisch zähle, widmet sich, v. a. in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, der hochgelobten Technik, mit deren Hilfe es möglich sein sollte, die Wirtschaft wieder anzukurbeln und die im Krieg verlorene Lebensqualität schnellstmöglich zurückzuholen – ja sogar noch zu steigern. Der Wandel des Zeitgeistes beschleunigte diese Entwicklung des Technikoptimismus’.

Max Frischs Homo Faber ist eine klassische Schullektüre, 1957 erschienen. Faber, der Protagonist ist Ingenieur mit einem ausgeprägten rationalistischen Weltbild. Typisch für diese Zeit sagt er: „Wir brauchen gar nicht mehr so viele Leute. Es wäre gescheiter, Lebensstandard zu heben“. Nach einem Unfall, als er mit dem Flugzeug in der Wüste notlanden muss, gerät eben dieses Weltbild erstmals ins Wanken. „Homo faber“ als anthropologischer Begriff bezeichnet seit der Antike den Menschen als Handwerker, als ein werkzeugmachendes Wesen. Ob die Romanfigur sich von seiner technikfixierten Weltsicht lösen kann, bleibt offen und ist von Kritikern umstritten. In einem von Frischs Tagebüchern soll folgende Passage zu finden sein: „Wir können, was wir wollen, und es fragt sich nur noch, was wir wollen; am Ende unseres Fortschritts stehen wir da, wo Adam und Eva gestanden haben; es bleibt uns nur noch die sittliche Frage.“

Die Angst, dass wir uns von der Maschine schon lange haben vereinnahmen lassen, dass Roboter im Alltag unsere Selbstbestimmung zu unterwandern beginnen, schleichend, aber mit immer bedrohlicherer Konsequenz, wirft nicht nur die Frage auf, ob Mensch und Maschine bald miteinander verschmelzen, oder ob die Maschine sogar den Menschen verdrängen wird, der dann bald nicht mehr die „Krone der Schöpfung“ sein könnte. Wo auf der Skala befinden wir uns gerade, und wie weit geht es noch? Was macht jetzt eigentlich den Menschen zum Menschen? Wenn Maschinen immer menschenähnlicher werden, sind sie noch Maschinen? Ist es möglich, Körper und Geist dermaßen zu optimieren, um womöglich sogar Unsterblichkeit zu erreichen? Verfechter sehen durchaus eine Möglichkeit im Einsatz von Computerchips oder künstlichen Organen im menschlichen Organismus. Damit stellen sich natürlich eine Vielzahl ethischer und politischer Fragen.

Bereits für Francis Bacon war in seiner Utopie New Atlantis, die erst 1627 postum erschien, die Entwicklung der Technologie zur Beherrschung der Natur gleichzusetzen mit der Vollendung der göttlichen Schöpfung auf Erden, in der auch Wissenschaftler der frühen Neuzeit – bis hin zu Charles Darwin – den Nachweis für einen vernünftigen Plan Gottes suchten.

Religion und Technik bei Joseph Bernhart

Joseph Bernhart, schwäbischen Ursprungs, geboren 1881 in Ursberg, 1904 zum Priester geweiht, aber 1913 standesamtlich geheiratet und nach einem bewegten Leben 1969 gestorben. Der kritisch theologische Denker und Schriftsteller hat sich Gedanken über Fluch und Segen der Technik gemacht. Der technisierte Mensch ist ein Büchlein von nur 47 Seiten, auf das ich folgend näher eingehen möchte, vollgepackt mit Wissen, Vorahnungen auf die Entwicklungen und Warnungen. Es ist 1946 erschienen, aber bereits 1932 scheint er sich Gedanken zu dieser brisanten Thematik gemacht zu haben, was aus seinen unveröffentlichten Aufzeichnungen, die in seinem Nachlass, der in der Bayerischen Staatsbibliothek München zu finden ist, hervorgeht.

Deus ex machina betitelt er ein Fragment zur Eschatologie der Technik. Er schreibt: „Die schlechten Tragiker haben sich für alle Zeiten den Spott des Sokrates zugezogen. Sie nehmen, sagt er, ihre Zuflucht zu den Maschinen, wenn sie in Verlegenheit sind, und lassen zur Lösung ihres Stücks die Götter herauf. Deus ex machina heißt der athenische Witz.“ Denn, wenn es im griechischen Drama unlösbare Konflikte gab, erfolgte die Lösung dieser Konflikte durch das überraschende Eingreifen einer Gottheit, die, gehalten durch eine Art Kran über der Theaterbühne schwebte, und so unerwartete Hilfe in die sonst unlösbare Situation brachte.

Deus ex machina: Ein Maschinengott? Oder ein Retter in der Not?

Bernhart ahnte zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch nicht, wie brisant diese Thematik ist, dass 2015 angelehnt an sein Wortspiel ein Gruselfilm mit dem Titel Ex Machina über die Leinwände flimmert, in dem es um einen Silicon-Valley-Milliardär und Menschen, die gnadenlos nach Perfektion streben, geht, und es von Androiden nur so wimmelt, was nach der Lektüre von Mark O‘Connells Buch Unsterblich sein. Reise in die Zukunft des Menschen, erschienen 2017 im Carl Hanser Verlag, durchaus die nahe Zukunft widerspiegeln könnte. Denn er führt uns in eine Welt, die einem Science-Fiction-Film zu entstammen scheint, wo zum Beispiel Köpfe in Lagerhallen darauf warten, zum Leben erweckt zu werden, wo Menschen zu Cyborgs geworden sind, wo Technik Milliardäre hervorgebracht hat, die fieberhaft daran arbeiten, was dem Menschen bisher nicht gelungen ist – letztendlich unsterblich zu werden. „Eine digitale Finsternis“, schreibt ein Leser in seiner Rezension auf Amazon über die 279 Seiten.

Joseph Bernhart meint im Zusammenhang mit seiner Technikkritik: „Deus ex machina ist auch die Formel für die Tragödie des technisierten Menschen, eine wahre, erschreckend gute Tragödie, weil ihre Handlung hervorgeht aus Schuld und Notwendigkeit zugleich. […] [H]ätten wir‘s unterlassen sollen, auch nur unterlassen können, die Maschine, nachdem sie einmal unserem Hirn entsprungen war, einzusetzen […]? War es denn nicht gut, nicht menschen- und naturgemäß, die Zeugung aus Vernunft und Element auch groß zu ziehen? Aber nachdem wir sie aus allen Kräften groß gezogen haben, steht sie selbstherrlich vor uns, steht gegen uns […]“. In Joseph Bernharts unveröffentlichten Anmerkungen zu seinem Büchlein Der technisierte Mensch findet sich eine wundervolle Geschichte aus den Gleichnissen des alten Chinesen Dschuang-Tse, der im 4. Jahrhundert v. Chr. lebte: „Da war das Schöpfrad erfunden worden, und die Bauern freuten sich über die Erleichterung ihres Tagewerks. Einer aber sagte, er wolle nichts davon wissen, und erklärte auch warum. So eine Maschine, meinte er, ist ein listiges Werkzeug, und wenn ich damit umginge, bekäme ich selbst ein listiges Herz – ein Maschinenherz – und so hörte ich auf, ein guter Mensch zu sein.“

Wir mögen darüber lächelnd den Kopf schütteln und ihn vielleicht einen Dummkopf nennen, der sich lieber abplagt, als die Hilfe dieser einfach konstruierten Maschine anzunehmen. Aber irgendwo muss der Ursprung liegen, woraus sich die Technik, die wir, mit Bernharts Worten „großgezogen“ haben, oder so wie wir ihr heute, ob kritisch oder nicht, gegenüberstehen, oder wie Bernhart sagt, sie uns selbstherrlich gegenübersteht, entwickelt haben. Ernst Kapp, ein Liberaler, schreibt 1877 in seinem Werk Grundlinien einer Philosophie der Technik, das 2015 neu aufgelegt wurde, dass technische Geräte Erweiterungen der menschlichen Organe sind. Ein Hammer verbessert also die Wirkung der Faust und das Fernrohr ermöglicht weiteres Sehen, was dem bloßen Auge nicht möglich wäre. Die Technik ist nach Kapp ein zentrales Element zivilisatorischen Fortschritts. Nicht weit entfernt also von dem von Joseph Bernhart zitierter Geschichte, und doch bereits so nah am Cyborg.

Religion und Nachhaltigkeit

Bei meiner Spurensuche bin ich auf einen Artikel in der Zeitschrift NATUR aus dem Jahr 2016 gestoßen, in dem das Anthropozän als ein neues Zeitalter beschrieben wird, das nun angebrochen sei. Dieser Begriff geht auf den Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen zurück. Im Jahr 2000 argumentierte der Atmosphärenforscher, dass die Einwirkung menschlicher Aktivitäten eine neue Dimension erreicht habe, und somit die Definition eines neuen Erdzeitalters gerechtfertigt sei. Bisher seien die Erdzeitalter durch typische Formen von Ablagerungen wie beispielsweise von Kreide oder Sandstein charakterisiert, meint der Verfasser des Artikels, der auf eine Studie der Freien Universität Berlin verweist, jetzt hingegen seien es Müll, Dreck und Abgase. „Wir produzieren jährlich fast so viel Plastik, wie es der Biomasse aller auf der Erde lebenden Menschen entspricht. Plastik findet sich bereits in allen Ablagerungsräumen der Erde, vom Gebirgstümpel bis zur Tiefsee und wird so als Technofossil zu einem der wichtigsten Leitfossilien des Anthropozäns werden“, sagt Reinhold Leinfelder, einer der beteiligten Forscher der Freien Universität Berlin. „Die Signatur des Menschen wird damit in allen Sedimentschichten nachweisbar“, ergänzt er. Deshalb sei eine formale Etablierung des Anthropozäns als Zeiteinheit der Erdgeschichte nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu erforderlich. Ein weiteres Mal möchte ich auf Max Frisch verweisen. Nämlich auf sein wenig beachtetes Spätwerk Der Mensch erscheint im Holozän, das besonders nach dem Vorschlag von Paul Crutzen, ein neues Erdzeitalter als das Anthropozän zu bezeichnen, plausibel erscheint.

Der Zusammenhang zwischen Religion und Technikkritik ist verständlich. Wie steht es mit der Nachhaltigkeit, die wie die Religion, ebenfalls Teil meiner Spurensuche sein soll? Verfolgen wir den Faden, der sich von der Religion zur Technikkritik zieht, weiter, dann führt uns dieser zielstrebig zum Thema Nachhaltigkeit. Die immer ausgefeiltere Technik hielt Einzug in der Landwirtschaft. Die Felder konnten mit Traktoren in weitaus kürzerer Zeit mit weitaus weniger Anstrengung bestellt werden. Der Mähdrescher führte zwei Aufgaben gleichzeitig aus und Melkmaschinen ermöglichten, dass in derselben Zeit weitaus mehr Kühe gemolken werden konnten als mit der Hand. All diese Dinge führten zu einer Technisierung im landwirtschaftlichen Bereich. Diese Geräte waren teuer in der Anschaffung und als dringendes Ziel galt die Gewinnmaximierung, wenn sie sich bezahlt machen sollten. Besonders in der Tierhaltung waren die Folgen verheerend. Die Tiere wurden auf immer engerem Platz gehalten. Witwe Boltes scharrende Hühner im Hinterhof sind heutzutage eher ein seltenes Spektakel. Das Verhältnis zwischen dem Menschen und den sogenannten Nutztieren hat sich geändert. Wir sehen heute nichts mehr vom Sterben des Schlachtviehs. Das geht maschinell, anonym und von der Öffentlichkeit abgeschottet vor sich. Was eben noch ein Tier war, ist im Nu zerteiltes Fleisch, oder zu drolligen Tierfiguren verarbeitete ‚Hühnermatsche‘, die Otto Normalverbraucher nicht billig genug sein kann. Gewinn vor Tierwohl ist die Devise!

Jonathan Safran Foer hat in seinem Spiegel-Bestseller Wir sind das Klima, der 2019 in der 2. Auflage erschien, recherchiert, dass laut der Welternährungsorganisation FAO Nutzvieh verantwortlich für ca. 7.516 Millionen Tonnen Co2-Äquivalent pro Jahr und somit ein Hauptverursacher des Klimawandels ist. Weltweit werden für den Futteranbau Pestizide in der Landwirtschaft eingesetzt. Viele sind für den Anbau von Soja und Mais bestimmt, denn die vielen Tiere in den Intensivhaltungsbetrieben wollen fressen. Somit gelangen diese Gifte in unseren Körper, da der Mensch am Ende der Nahrungskette steht. Und dass wir Menschen 59 Prozent der auf der Erde landwirtschaftlich nutzbaren Fläche zum Anbau von Tierfutter verwenden, ist ebenso bei Foer zu lesenwie das Ergebnis einer Studie der Johns Hopkins University, die folgendes besagt: „Halten die globalen Trends beim Konsum von Fleisch und Milchprodukten an, wird die mittlere Temperatur höchstwahrscheinlich um mehr als zwei Grad ansteigen, selbst im Falle dramatischer Emissionsreduzierung in allen nicht-landwirtschaftlichen Bereichen.“ Selbst demjenigen, dem Tierschutz nicht am Herzen liegt, ist die Lektüre dieses Buches sehr zu empfehlen. Denn jedem wird danach bewusst werden, dass wir den Klimawandel nicht in den Griff bekommen, solange wir weiter an dem immensen Fleischkonsum und der daraus resultierenden Intensivhaltung festhalten. Um Platz für den Anbau von Tierfutter und Viehweiden zu schaffen oder um Holz und Papier zu gewinnen, wird der Regenwald abgeholzt. Die dort beheimateten Tiere sind gezwungen ihren Lebensraum zu verlassen und woandershin auszuweichen – auch in von Menschen bewohnte Gebiete. So werden Viren wilder Tiere auf Menschen oder Nutztiere übertragen. Sogenannte Zoonosen, darunter Ebola, die Schweinegrippe, Tollwut, Malaria und das neuartige Coronavirus. Dass die Zahl an Zoonosen steigt, liegt vor allem an der Art und Weise, wie die Menschheit in Ökosysteme eingreift und mit Tieren umgeht.

Vertraute Gewohnheit oder vertrauter Planet

Wir können unsere vertrauten Gewohnheiten nicht beibehalten und zugleich unseren vertrauten Planeten behalten. Eins davon müssen wir aufgeben. Davon berichtet bereits Alexis Carell, der 1912 den Nobelpreis für seine medizinische Forschung erhalten hat, in seinem 1955 erschienenen, nicht unumstrittenen Buch Der Mensch, das seine Nähe zum Nationalsozialismus spüren lässt. Recht zu geben ist ihm jedoch in einer Forderung nach einem neuen Menschen, denn: „solange die von der Technik geschaffene Geborgenheit, Schönheit und mechanische Wunderwelt ihn umgibt, kann er nicht verstehen, wie dringend die Notwendigkeit des ­Eingriffs ist. Es ist ihm nicht richtig klar, daß [sic] er entartet: warum also sollte er sich anstrengen und seine Wesens-, Denk- und Lebensgewohnheiten ändern?“ Und sein Fazit lautet: „Wir müssen uns aufmachen und vorwärts schreiten, müssen das Joch einer blinden Herrschaft der Technik abschütteln und die Vielfalt und Reichhaltigkeit unserer Natur recht erfassen. […] In einer Welt also, die nicht für uns gemacht ist, da sie aus einem Irrtum unserer Vernunft und aus der Unkenntnis unseres wirklichen Wesens stammt. In eine solche Welt können wir durch keine Anpassung hineinfinden, so bleibt uns nur, uns gegen sie zu empören.“

Wie Joseph Bernhart bereits in seiner Schrift Der technisierte Mensch warnt, hat sich der Mensch die Zügel aus der Hand nehmen lassen, wobei der technische Fortschritt eine Art Eigenleben erfahren hat, dessen rasante Entwicklung nicht mehr aufzuhalten ist. Wer glaubt, die Natur durch Technik ‚aufheben‘ zu können, um sie dann auf einer vermeintlich höheren Stufe reproduzieren zu können, hat die Worte Hegels falsch gedeutet. Weiter bedauert Bernhart: „Man kann es nicht genug beklagen, dass wir über lauter Eroberung der Natur, Überwindung von Zeit und Raum durch die Wissenschaft ertaubt sind für die tiefste Sprache der Schöpfung. Diese Sprache aber ist ein einziger Seufzer nach Erlösung und Wiederkehr des Urzustandes der ersten Kraft und Freudigkeit, zu welchen Gottes ‚Werde‘! [Gen 1,3] sie herangerufen hat.“ Seit Joseph Bernhart seine Gedanken niedergeschrieben hat, sind sowohl die Wissenschaftsgläubigkeit als auch die Technisierung fortgeschritten und haben viel Platz eingenommen.

Es ist wie bei Goethes Zauberlehrling. Die Geister, die wir riefen, sie wachsen uns über den Kopf und wir sind nicht länger Herr der Lage. Betroffen sind davon nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere haben unter dem ‚Fortschritt‘ zu leiden. Abgesehen vom Umweltschutz ist Intensivhaltung eine Qual für die so ausgebeuteten Tiere, was erst in den letzten Jahren ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit durchgesickert zu sein scheint. Angestoßen durch einen im Winter des Jahres 1940 geschriebenen Brief des Pfarrers Christoph Kaiser aus Walchensee im Allgäu, der sich fast schon verzweifelt die Frage stellte, warum das Wild in den Bergen in den strengen Wintermonaten so viel Leid erfahren musste, und Joseph Bernhart um seine Meinung zu diesem Thema bat, hat sich der Theologe Joseph Bernhart auch über diese Geschöpfe Gottes Gedanken gemacht und in seinem Anfang der 60er-Jahre erschienenen Buch Die unbeweinte Kreatur zusammengefasst. Von der Theodizee-Frage angetrieben versucht er das Leid der Tiere zu (er)klären, indem er sich sehr intensiv mit den Fragen zur Rolle des Tiers in der Schöpfung und der Beseelung der gesamten Erdbevölkerung auseinandersetzt. Die Antwort auf die Frage nach dem Warum des Leidens blieb Bernhart verwehrt – und wird auch in Zukunft offen bleiben.

Aktuell wird Religion nicht mehr selbstverständlich mit dem erhobenen Zeigefinger theologischer Dogmatik oder dem Christentum identifiziert, nein, inzwischen findet sich jüdische Zugehörigkeit, islamische Frömmigkeit und spirituelles Wissen ganz allgemein in der Literatur wieder, wobei der Begriff „Nachhaltigkeit“, der inzwischen zu einem Modewort, nahezu einem Leitbild in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft geworden ist, ganz eng mit der Religion zusammenhängt, denn es geht eigentlich um nichts anderes als den Schöpfungsauftrag, gepackt in die Form eines gerechten Zivilisations- und Wirtschaftsmodells, das Verantwortung trägt, den heute und künftig lebenden Erdbewohnern ­gerecht zu sein.

Einer meiner Schüler hat kürzlich seinen schriftlichen Beitrag eines Diskurses über Nachhaltigkeit mit dem Rechtschreibfehler „Nachhalltigkeit“ bei mir abgegeben. Vielleicht hat er ja recht mit der Herleitung des Wortes, denn wir sollten stets darauf achten, dass unser Fußabdruck, den wir auf dieser Welt hinterlassen, unser Nachhall also, es auch nachfolgenden Generationen möglich macht, ein gutes Leben auf diesem Planeten zu führen. Vielleicht gelingt es uns, wie einst Parzival, mit etwas mehr Demut. Möge uns die Literatur dabei eine Hilfe sein!

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