Nietzsches Antichristentum – und das Christentum nach Nietzsche

Im Rahmen der Veranstaltung "Gott ist tot!", 12.11.2019

Historischer Kontext

Friedrich Nietzsche ist ein gewaltiger Irritator, ein gewaltiger Infragesteller all dessen, was wir für wertvoll, sicher, gewiss, schön und gut halten. Friedrich Nietzsche ist aber keineswegs nur auf dem Gebiet der Religion in zerstörerischer und zugleich neuschaffender Absicht aufgetreten, sondern hat auch diverse andere Bereiche des Nachdenkens – des Nachdenkens über die Welt und über das, was wir als Menschen auf dieser Welt sein sollen – wesentlich geprägt. Wir wollen uns heute Abend aber mit der speziellen Problematik der Religionskritik auseinandersetzen. Das berühmteste Textstück Nietzschescher Religionskritik ist der Aphorismus 125 aus der „Fröhlichen Wissenschaft“, einer 1882 zum ersten Mal erschienenen Schrift Nietzsches. Dieser Aphorismus 125 trägt den Titel „Der tolle Mensch“, und da tritt ein Mensch auf, am hellichten Tag, mit einer Laterne, und sucht nach Gott, fragt die Leute, die ihn auslachen, nach ihm, und versucht ihnen vor Augen zu stellen, dass, wenn sie Gott tatsächlich getötet haben, es auch notwendig wäre, vollständig neu den eigenen Ort in der Welt zu bestimmen, das eigene Dasein auf völlig neue und andere Füße zu stellen, eben ohne Hilfe von oben. Wir hätten dann keine Rückversicherung mehr, beispielsweise unserer Moral. All das versucht der „tolle Mensch“ mit seiner Diagnose „Gott ist tot, Gott bleibt tot“ diesen Leuten, die eigentlich den Gott schon längst verabschiedet haben, nahe zu bringen, aber erntet eigentlich nur Unverständnis und Spott.
Nietzsche ist in seiner Zeit ein ungehörter Philosoph geblieben. Ganz entgegen der breiten Rezeption im 20. und auch im 21. Jahrhundert hat er zu geistig aktiven Lebzeiten fast gar keine Resonanz gefunden. Man hat seine Schriften nicht gekauft; er musste bei den allerletzten Büchern sogar selber mit Druckkostenzuschüssen dafür sorgen, dass sie überhaupt veröffentlicht werden konnten. Kurzum, er blieb ein Ungehörter, und je länger dieses Empfinden des Ungehörtseins andauerte, desto stärker sah er sich veranlasst, laut, schrill, durchdringend zu reden. Seine späteren und spätesten Schriften zeugen vom Bedürfnis, um jeden Preis gehört zu werden. Sie verletzen – vielleicht auch um der Aufmerksamkeitserzeugung willen.
Wir wollen uns für heute Abend eine Schrift etwas genauer anschauen, die nach Nietzsches eigenem Selbstverständnis die „Umwertung aller Werte“ sein sollte. Die Schrift trägt im Haupttitel den eschatologischen Namen „Der Antichrist“. Nietzsche schreibt sie 1888 in seinem letzten bewussten Schaffensjahr, und – der Anspruch „Umwertung aller Werte“ zu sein, macht es deutlich – hat hier die Ambition, tatsächlich all das zu vernichten, was bisher im abendländischen, christlichen Kulturkreis als wertvoll, als wichtig, als gut gegolten hat.
Bevor ich Ihnen sieben Fragen auf den Denk- und Lebensweg geben möchte, die Nietzsche uns allen im „Antichrist“ von 1888 stellt, möchte ich Ihnen aber doch noch einen Kontextrahmen zur Verfügung stellen, damit Sie diese Positionsbezüge besser einordnen können; denn Nietzsche ist keineswegs der erste und einzige Kritiker des Christentums oder Kritiker des monotheistischen Gottglaubens gewesen. Es gibt in der Neuzeit seit dem 16. Jahrhundert prominente Vertreter nicht-theistischen Weltanschauungen. Manche wie Giordano Bruno mussten ihre theologische Dissidenz mit dem Leben büßen. Die Stimmen der Religionskritik haben sich im 18. Jahrhundert intensiviert. Da hat dann zwar meist kein Scheiterhaufen mehr gedroht, aber doch immerhin soziale und persönliche Ächtung. Das hat die französischen Materialisten und Atheisten nicht davon abgehalten, grundsätzlich die Religion in ihrer institutionalisierten kirchlichen Form als Priesterbetrug darzustellen und der Kirche als solcher entgegenzutreten. Manche moderateren Aufklärer wie Voltaire haben an einem Theismus festgehalten – was denselben Voltaire aber nicht daran gehindert hat, seine Briefe jeweils mit der Formel „Écrasez l’infâme“, d.h. „zerschmettert die Niederträchtige“ – damit ist die katholische Kirche gemeint – zu beschließen. Eine vernünftige Form von Glauben ging also durchaus mit einer radikalen Kirchenkritik zusammen. Bei anderen Denkern wie etwa La Mettrie oder d‘Holbach und Hélvetius gestaltet sich der Atheismus viel radikaler; das ist echter Atheismus und nicht bloßer Antiklerikalismus.
Es gibt also eine starke philosophische Strömung, die aus Vernunftgründen die Theologie und all das, was als christliche Offenbarungswahrheit gilt, aber auch das, was als vernünftige, natürliche Theologie angesehen wird, in Frage stellt. Und diese Strömung ist im 18. Jahrhundert philosophisch bereits sehr prominent. Der Atheismus tat sich dann spätestens im 19. Jahrhundert mit der historischen Kritik zusammen. Auch da gibt es Vorläufer, die bereits ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Die historische Bibelkritik ist keineswegs eine atheistische Erfindung, eher im Gegenteil. Ein frommer katholischer Priester, Richard Simon, ist einer der Begründer – damals im 17. Jahrhundert in der Absicht, den Protestanten ihren Biblizismus auszutreiben, und die Institution der Kirche als notwendig herauszustellen, nämlich als Vermittlerin zwischen dem Bibeltext und den heutigen Menschen.
Diese historische Bibelkritik ließ sich nun aber sehr wohl in die Ströme des Atheismus umlenken. Jedenfalls intensiviert sich die philosophische Religionskritik im 19. Jahrhundert mit Hilfe der historischen Wissenschaften, die einen ganz nüchternen Befund beibringen, nämlich den, dass es sich bei den Texten, die wir als Altes und Neues Testament kennen, um antike religiöse Texte handelt, die sich in keiner Art und Weise von anderen überlieferten antiken religiösen Texten unterscheiden, egal ob es sich um altägyptische, um babylonische, um griechische oder um römische handelt. Bei all diesen antiken Dokumenten haben wir es mit Texten zu tun, die von Menschen für Menschen geschrieben worden sind. Aus der Sicht jener kritischen Bibelwissenschaft, die sich mit atheistischen oder religionskritischen Überlegungen paart, gibt es keinerlei Grund, warum man die Texte des Alten und Neuen Testamentes privilegieren sollte, warum man diesen Texten mehr Glauben schenken sollte als jenen, die zum Beispiel von Mithras oder von Zeus oder von Osiris handeln.
Die atheistische Philosophie wird also verstärkt von historischer Kritik. So stellt sich die religionskritische Großwetterlage zur Zeit von Nietzsches Anfänge in der Internatsschule Schulpforta dar, einem ehemaligen Zisterzienserkloster bei Naumburg, heute in Sachsen-Anhalt gelegen. Dort bekommt er eine hervorragende philologische Ausbildung. Zwar wird diese Schule streng christlich-protestantisch geführt, aber der Religionsunterricht ist nicht so beschaffen, dass er den kritischen Einwänden, die Nietzsche von seinen Lehrern in Griechisch, Latein und Geschichte eingeflößt bekommen hatte, so einfach hätte trotzen könenn. Die Familientradition mütterlicher- und väterlicherseits legte es zwar, dass Nietzsche Pfarrer geworden würde – sein Großvater hat es sogar zum Superintendenten gebracht. Aber er nimmt 1865 in Bonn das Studium der Theologie nur halbherzig auf und gibt es nach einem Semester wieder auf, um sich mit geballten Kräfen seiner eigentlichen Profession zuzuwendne. Das ist nicht die Philosophie – er ist kein ausgebildeter Philosoph –, sondern die Philologie, die Altphilologie, die ihn als Leitwissenschaft ein Leben lang begleiten wird. Er kommt dann in den Semesterferien zurück nach Naumburg zu seiner Mutter und Schwester und verweigert den Gang zum Abendmahl. Damit ist alles gesagt; er ist als Leser von Werken von Ludwig Feuerbach und David Friedrich Strauß nicht mehr in der Lage, den christlichen Glauben im Stile seiner Vorväter zu praktizieren.
Nun, „Der Antichrist“ entsteht fast ein Vierteljahrhundert nach diesen Absetzungserfahrungen. Eine Weile lang hat sich Nietzsche überhaupt nicht mit dem Christentum beschäftigt. Es hat ihn philosophisch nicht interessiert, als er von der Philologie nach und nach zur Philosophie überwechselte. Er ist ein Denker, der stark auf Eindrücke reagiert, die ihm in seiner Zeit aufgetragen oder zugetragen werden. Zwei dieser Eindrücke will ich doch nennen: Der eine ist der sehr persönliche des Komponisten Richard Wagner. Nietzsche lernt Wagner 1868 kennen und ist fortan ein glühender Wagnerianer, etwa ein Jahrzehnt lang, um sich dann noch schroffer von Wagner zu distanzieren als von seinem anderen prägenden Eindruck. Der andere prägende Eindruck ist kein persönlicher, sondern ein philosophischer, nämlich der Eindruck von Artur Schopenhauer. Schopenhauer und Wagner sind also die beiden philosophisch-weltanschaulichen Leitsterne des jungen Nietzsche, des Studenten und jungen Basler Philologie-Professors. Nietzsche wurde 1869 nach Basel berufen, ohne auch nur ein Studium abgeschlossen zu haben, und zwar auf besondere Empfehlung seines akademischen Lehrers Friedrich Ritschl, der ihn für einen überragenden Philologen hielt. Dennoch bleibt Nietzsche nur zehn Jahre Baseler Professor; er muss aus gesundheitlichen Gründen sein Amt niederlegen und ist von 1879 an – er ist dann also 35 Jahre alt – zehn Jahre lang ein umherschweifender freier Philosoph, der immer nach einem Ort sucht, der ihm gesundheitlich und geistig bekommt.
Gegen Ende seiner Professorenzeit verabschiedet er sich also von diesen Übervätern und versucht, eine völlig neue Philosophie zu erfinden. Er tut dies unter dem Zeichen des berühmtesten aller französischen Aufklärer, nämlich Voltaire, dem er zum 100. Todestag 1878 sein neues Buch „Menschliches, Allzumenschliches“ widmet. Richard Wagner ist entsetzt: Wie kann sich Nietzsche, der doch sein treuester Jünger war, nun den Franzosen, diesen oberflächlichen Schreiberlingen, andienen? Wie kann er den deutschen, sprich: den Wagnerschen Tiefsinn, einfach so in die Gosse stoßen? Nun, Nietzsche konnte, und hat es offensichtlich sein Leben lang nicht bereut.
Ich sagte schon, dass in Nietzsches ersten philosophischen Schriften das Christentum kein wirkliches Thema ist. Rückblickend sagt er, er habe es mit feindseligem Schweigen übergangen. Es gibt freilich nebenher immer wieder Bekundungen, dass es mit dem Christentum nicht mehr weit her sein könne, aber es erscheint kaum des näheren Nachdenkens wert. Religion und herkömmliche Moral erscheinen als Irrtümer, die eine sich selbst aufklärende Philosophie quasi nebenbei beseitigt. Diese Erwartung, das Christentum nebenbei beseitigen zu können, wird jedoch nach und nach enttäuscht. Sie schwindet, denn ebenso wenig wie sich Wagner mit Bosheiten en passant aus der Welt schaffen und der Einfluss der Wagnerschen kulturreformatorischen Bemühung sich nicht einfach so vom Tisch wischen lässt, ebenso wenig lässt sich das Christentum mit ein paar rätselhaften Aphorismen ausräumen.
Das Christentum fordert also offensichtlich größere, intensivere Auseinandersetzung; es fordert eine grundlegende Kritik. So lautet der erste, fast noch bescheidene Untertitel des zehn Jahre nach „Menschliches, Allzumenschliches“ entstehenden „Antichrist“ zunächst: „Versuch einer Kritik des Christenthums.“ Danach sollte das Buch dann „Umwerthung aller Werthe“ heißen; der letzte Untertitel, den man auf dem Titelblatt des Manuskriptes findet, heißt: „Fluch auf das Christenthum“. Auch hier beobachtet man also diese Bewegung der Radikalisierung, die Bewegung des Schriller-Werdens. Deutlich wird das dann noch an einem jetzt nicht näher zu erörternden „Gesetz wider das Christenthum“, das Nietzsche offensichtlich in den allerletzten bewussten Tagen vor seinem geistigen Zusammenbruch Anfang 1889 zu Papier bringt. Das ist ein Gesetz, das tatsächlich das Christentum physisch ausrotten zu wollen vorgibt. Die Frage ist natürlich, wie weit das literarische Fiktion ist und wie man damit umgehen soll. Aber diesem Text wollen wir uns nicht widmen, sondern den „Antichrist“ als einen Versuch betrachten, in 62 Abschnitten das gesamte christliche Glaubensrepertoire, das gesamte christliche Überzeugungsgerüst zum Einsturz zu bringen.
Hierzu werde ich sieben Fragen formulieren, die sich von Nietzsche und seinem „Antichrist“ her an uns alle, an unser aller Christentümer und Nicht-Christentümer stellen lassen.

Die Frage nach Jesus Christus

Die erste Frage betrifft Nietzsches Umgang mit der Figur, die gemeinhin als Gründer des Christentums gilt. Im Zentrum, tatsächlich in der Mitte des Buches „Der Antichrist“, findet sich eine längere Passage, die der „Psychologie des Erlösers“, dem „psychologischen Typus des Erlösers“ gewidmet ist. Dabei geht es – Sie werden es unschwer erraten – um Jesus von Nazareth. In dieser Darstellung wird keineswegs die Feindlichkeit gegenüber Jesus als womöglich einem der drei großen Betrüger der Menschheitsgeschichte zum Ausdruck gebracht, wie das eine alte religionskritische Tradition will. Es gibt nämlich in der frühen Neuzeit Traktate „De tribus impostoribus“, „über die drei Betrüger“; gemeint sind Mose, Jesus und Mohammed. Nietzsche schlägt nicht in diese Kerbe. Er sagt nicht, Jesus sei ein Betrüger gewesen, der die Menschheit mit seinen Lehren irreführen wollte. Vielmehr erscheint dieser Jesus oder dieser psychologische Typus des Erlösers in ganz eigentümlichem Licht, so eigentümlich, dass viele Interpreten auf die Idee verfallen sind, Nietzsche verachte zwar die gesamte christliche Tradition, sei aber Jesus von Nazareth gegenüber nicht nur freundlich gesonnen, sondern habe ihm gegenüber eine eigene Frömmigkeit, eine sozusagen radikalpietistische Privat-Jesusfrömmigkeit entwickelt.
Nietzsche räumt tatsächlich ein, dass „…bloß die christliche Praktik, ein Leben so wie Der, der am Kreuze starb, es lebte, ist christlich… Heute noch ist ein solches Leben möglich, für gewisse Menschen sogar nothwendig: das echte, das ursprüngliche Christenthum wird zu allen Zeiten möglich sein…Nicht ein Glauben, sondern ein Thun, ein Vieles-nicht-thun vor Allem, ein andres Sein…“ Also, was dieser Jesus von Nazareth gelebt hat, seine „Praktik“ – wir würden heute „Praxis“ sagen – ist für den Verfasser des „Antichrist“ offensichtlich etwas, was nach wie vor reproduzierbar ist. Da kann man natürlich als Leser, der nur diesen Text isoliert nimmt, darauf verfallen: Na ja, klar, dieser Nietzsche will Jesus gegen die Kirche verteidigen oder gegen die Kirchen, gegen all die Christentümer, die nach Jesus kamen. So leicht ist es allerdings nicht, meine Damen und Herren, denn man wird auch weiterlesen müssen und sich fragen, was es denn mit diesem Jesus in der „Psychologie des Erlösers“ näherhin auf sich hat.
Zunächst einmal können Sie die Methode, mit der Nietzsche hier vorgeht, selber kritisch betrachten, denn sein Anspruch ist der, hinter den angeblich korrumpierten Bericht, den uns die Evangelien liefern, zu diesem Typus zurückzugehen. Er ist aber hier nicht wirklich als ein Philologe tätig, der er ja von Berufswegen wäre, sondern als eine Art divinatorischer Kritiker, ein Kritiker, der im Modus des Wahrsagens versucht zu isolieren, was sich dahinter versteckt, obwohl wir ein korrumpiertes Bild von Jesus in den Evangelien haben. Dieser Jesus nun – deswegen sollten wir sehr vorsichtig sein, wenn wir Nietzsche eine persönliche Jesus-Frömmigkeit zuschreiben –, ist für den Verfasser des „Antichrist“ eine exemplarische Figur der „décadence“, des Niedergangs, denn „auf übergroßer Leid- und Reizfähigkeit gründen beim Typus des Erlösers der Instinkt-Hass gegen die Realität, und die Instinkt-Ausschließung aller Abneigung, aller Feindschaft, aller Grenzen und Distanzen im Gefühl“. Also, ein „Instinkt-Hass“ gegen die Wirklichkeit, eine „Instinkt-Ausschließung aller Abneigung“.
Dieser Jesus, wie ihn Nietzsche vor Augen stellt, ist eine hochgradig von Leiden heimgesuchte Person, eine Person, die allerdings einen Weg gefunden hat, mit diesem Leiden umzugehen, nämlich das abzustellen, was das Leiden verursacht. Und das, was das Leiden verursacht, sind nach Nietzsches „Psychologie des Erlösers“ die Distanzen, die Grenzen, kurz: ist das, was uns vom anderen unterscheidet. Was dieser Jesus nun macht, ist, alle Distanzen aufzugeben, alle Grenzen einzureißen, sich sozusagen in kosmische Liebe zu verwandeln. Das tut er aber nicht, weil er Gottes Sohn oder dergleichen ist. An derlei Mythologie kann Nietzsche natürlich mit seinem historisch-kritischen Wissen nicht glauben. Jesus tut es also nicht, weil er Gottes Sohn oder der Erlöser ist. Wenn hier von „Erlöser“ die Rede ist, sind die Anführungszeichen immer mitzudenken. Nietzsche macht einen ironischen Gebrauch vom Begriff Erlöser. Dieser Jesus gibt alle Distanzen auf, weil er so sein Leiden kanalisieren kann. Denn wenn er alle Grenzen aufgibt, dann ist er frei, zumindest so frei, wie jemand sein kann, der eine „décadence“-Figur ist.
Was Nietzsche also macht ist, Jesus auf ein Krankheitsbild zurückzubuchstabieren – ein Krankheitsbild, das er nach der zeitgenössischen Psychiatrie modelliert, für die er sich sehr interessiert. Nietzsche reichert das Bild zusätzlich an mit Elementen aus russischen Romanen, insbesondere aus Dostojewskijs „Idiot“, den er, allerdings wohl sekundär, zur Kenntnis nimmt. Tolstoi spielt ebenfalls eine große Rolle. Dieser Jesus hat etwas geschafft, auch in Nietzsches Perspektive. Was er aber geschafft hat ist Selbsterlösung. Er hat seine eigene krankhafte Disposition und auch die Lösung erkannt, nämlich, alle Grenzen aufzugeben. Das tut er, und diese „Praktik“ kann auch nach wie vor als eine immer noch mögliche Praktik des Christlichen für manche Menschen, für manche „décadents“, Vorbildcharakter besitzen. Es mag sein, dass jemand so sehr an jeder Berührung leidet, dass er lieber alle Grenzen aufgibt, als weiter den Schmerz zu ertragen. Es geht also um eine Praktik der Selbsterlösung, die Jesus vorgelebt hat.
Worum es also letztlich geht ist, dass Nietzsche zu zeigen versucht, dass Jesus Christus mit Glauben gar nichts zu tun hat, sondern nur mit einer Praxis – einer Praxis der Selbstmodellierung. Auch in der Gegenwart können sich das manche zu eigen machen. Ein fundamentales Missverständnis wäre jedoch die Vorstellung, dass es hier irgendwie um so etwas wie Glauben geht. Die Frage, die sich von hier stellt – abgesehen von der Frage, wie weit Nietzsche hier ein adäquates Jesus-Bild entwirft –, ist die Frage, wie wir denn sicher stellen können, dass das Christentum, das auf Jesus folgt, all die Christentümer, die auf ihn folgten, etwas mit diesem Jesus zu tun haben, dass also beides genuin zusammengehört. Diesen Zusammenhang auseinanderzureißen fällt einem Protestanten, so wie Nietzsche sozialisiert ist, naturgemäß leichter als einem Katholiken, für den die Kirche als solche einen Heilswert hat. Für Nietzsche ist völlig klar, dass Jesus und Kirche nichts miteinander zu tun haben.

 

Die Jesus-Epigonen und das Ressentiment

Ich komme zum zweiten Fragekomplex. Seit der bahnbrechenden „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ von Albert Schweitzer gilt es als Gemeinplatz in der neutestamentlichen Wissenschaft, dass man des historischen Jesus biographisch nicht habhaft werden kann. Also bezieht man sich gern auf den Christus des Kerygmas, den Christus der neutestamentlichen Verkündigung in den frühen Gemeinden, und versucht, beispielsweise prominent bei Rudolf Bultmann, im Prozess einer Entmythologisierung dieses Kerygma für die Gegenwart zu adaptieren. Es ist also nach verbreiteter Auffassung durchaus möglich, christlich zu glauben, ohne über den historischen Jesus näher Bescheid zu wissen. Der geglaubte Christus wäre dann das Wesentliche, die wesentliche Gestalt. Unter solchen Umständen könnte man Nietzsche sogar zugestehen, dass vielleicht dieser Jesus ein ganz anderer war, als man normalerweise glaubt, zumindest ein ganz anderer als der Heiland der frühchristlichen oder der modernen Gläubigen. Man könnte also die antichristliche Delegitimation des Christentums unter Rückgriff auf diesen Typus des Erlösers unterminieren, indem man den Regress auf Jesus von Nazareth abschneidet und sagt, man habe sich zu konzentrieren auf den Glauben der ersten Gemeinden und so das Wesentliche fortzutragen.
Aber auch hier versucht Nietzsche, fundamental zu desillusionieren: Was diesen Glauben der ersten Jünger ausmacht, ist nämlich seiner Darstellung nach ein fundamentales Missverständnis, Jesus sei gerade nicht der Verkünder von Glaubenswahrheiten, von religiösen Lehrsätzen gewesen, die man dann im frühen Christentum auf den Begriff zu bringen versuchte, sondern habe als ein Praktiker einer neuen Form der Daseinsbewältigung gelebt.
Ein Werk der Entstellung sei mit dem Tod am Kreuz eingetreten: „Das erschütterte und im Tiefsten beleidigte Gefühl, der Argwohn, es möchte ein solcher Tod die Widerlegung ihrer Sache sein, das schreckliche Fragezeichen, warum gerade so, dieser Zustand begreift sich nur allzu gut. Hier muss denn alles notwendig sein, Sinn, Vernunft, höchste Vernunft haben. Die Liebe eines Jüngers kennt keinen Zufall.“ Also habe man im Nachhinein nach einer Rechtfertigung gesucht und sich im Aufruhr gegen die bestehende Ordnung verstanden. Die ersten Christen werden verstanden als eine anarchistische Bewegung. Auf diese Weise habe das Ressentiment die ersten Christen in den Bann geschlagen, denn sie konnten sich nicht an den Römern rächen, die die Hinrichtung Jesu vollzogen haben; oder am jüdischen Establishment, das zumindest nach dem Bericht des Johannes-Evangeliums die Hinrichtung betrieben hat. Das Machtungleichgewicht war ganz offensichtlich viel zu groß. Deswegen sei das aufgetreten, was Nietzsche mit dem Begriff des Ressentiments fasst – ein Begriff, der von Nietzsche her auch in die gegenwärtigen politischen Debatten eingedrungen ist. Von diesem Ressentiment haben sich, so Nietzsches Diagnose, die frühen Christen bestimmen lassen, und dabei versucht, nicht die offene Rebellion zu betreiben, sondern den Herren dieser Welt posthum die Hölle an den Hals zu wünschen.
Was sich hier als Frage ergibt, ist natürlich die, ob denn Nietzsche nicht etwas sehr Wahres trifft, dass nämlich trotz der persönlichen, ja kosmisch integrierenden Worte der Bergpredigt Jesu das Christentum in seiner nachjesuanischen Form eine höchst bedenkliche Schlagseite hin zum Ressentiment habe, zu einem vergällten Blick auf die Wirklichkeit, zu einer scheelen Sicht auf das, was der Fall ist. Die Frage stellt sich, ob denn nicht eine Unfähigkeit, sich mit dem Hier und Jetzt abzufinden, von den allerersten Christen an, das Geschick des Christentums bestimmt habe. Es müsste sich also, so die zweite Frage, ein selbstkritisches Christentum erkundigen, wie es denn mit dem Ressentiment umgehen will, und wie weit es bereit ist, sich mit dem Gegebenen abzufinden. Oder aber man müsste die Argumentationsweise umkehren. Max Scheler hat das ansatzweise versucht, nämlich über die Fruchtbarkeit des Ressentiments nachzudenken. Nietzsche suggeriert, dass die unmittelbare Rache oder das Schlagen, auf das dann gleich ein Zurückschlagen folgt, eigentlich die einzig psychisch gesunde Reaktion sei. Dieser Suggestion braucht aber niemand aufzusitzen. Man könnte also auch fragen, ob denn Ressentiment als verzögerte Reaktion nicht etwas ausgesprochen Heilsames ist.

Jesus und die Hinterwelt

Ein dritter Punkt kreist um die Problematik der Verjenseitigung, denn nicht nur Ressentiment ist bei den ersten Jüngern im Aufruhr gegen die Ordnung greifbar, sondern auch die Vorstellung von Gericht und Vergeltung. Das hat jene Figur systematisiert, die der „Antichrist“ nicht eben wohlwollend als „Genie im Hass“ tituliert. Dieses „Genie im Hass“ ist laut Nietzsche der Apostel Paulus, der die Jenseits-Dimension, die nach Nietzsche für Jesus völlig irrelevant gewesen ist, einführte. Jesus lebte nur im Hier und Jetzt; für ihn war das Himmelreich schon mitten unter uns, es war schon da, es war immer schon gegeben. All das wird zerstört durch das Werk des Paulus, so der „Antichrist“, der eine Hinterwelt hinzuerfindet, die dann eben mit Gericht und mit Jenseits, Himmel und Hölle eine ganz große kultur- oder menschheitsgeschichtliche Folgewirkung haben wird.
Wie also sollte man damit umgehen? Was kann man als Christ hier und heute sagen im Hinblick auf die von Nietzsche diagnostizierte Schwergewichtsverlagerung von dieser Welt, in der wir leben, hin zu einer anderen, angeblich besseren Welt – im Hinblick auf die Abwertung unseres hiesigen Daseins als bloßem Bewährungsraum für das, was dann danach kommt, als Bewährungsraum, in dem wir uns möglichst des Himmelreichs würdig erweisen sollen? Welches Gewicht, so lässt sich also drittens fragen, soll denn das Christentum den Jenseits-Überlegungen, den Jenseits-Überzeugungen beimessen, die fast seit Geburt dieser Religion da sind? In Klammern bemerkt: Nietzsche blendet systematisch die apokalyptischen, die eschatologischen, also die endzeitlichen Verkündigungen, die das Neue Testament Jesus zuschreibt, aus seiner „Psychologie des Erlösers“ aus, und nimmt sie als Beweis für die Korruption des Jesus-Bildes. Der habe überhaupt nicht auf Gericht, auf eine Welt hinter dieser Welt abgezielt. Das zu entscheiden überlasse ich den Bibelwissenschaftlern. Nietzsche ist hier nicht als Historiker tätig, sondern dem Anspruch nach als Umwerter aller Werte.

 

Sklavische Werte und priesterliche Selbstermächtigung

Der pauschale Vorwurf an die Adresse der nachjesuanischen Christen im „Antichrist“ ist der, dass mit ihnen sklavische Werte zur Geltung gekommen seien – , dass mit ihnen tatsächlich eine Umwertung aller Werte stattgefunden habe. Diese christliche, „sklavenmoralische“ Umwertung habe dazu geführt, dass die Vorstellungen der sozial Benachteiligten, der Untergeordneten, der Unterprivilegierten an die Oberfläche drangen und zu leitenden Werten wurden. Nietzsches Diagnose ist die, dass bis in seine Gegenwart diese sklavenmoralischen Werte herrschend geblieben seien, auch da, wo von Christentum und seinem Gott keine Rede mehr ist, also beispielsweise in der modernen egalitären Demokratie.
Dazu kommt der zweite Punkt, dass diese Sklavenherden – Nietzsche liebt die Herdenmetaphorik – geführt würden, ohne wirkliche „pastores“, Hirten zu haben, nämlich von einer Gruppe von Menschen, die sich zu ihrem Sprachrohr aufschwingen. Das sind die „Priester“, wobei mit diesem Ausdruck nicht nur die offiziellen Sachwalter einer institutionalisierten Religion gemeint sind, sondern letztlich jeder, der die Weltanschauung des Christentums anderen Menschen vorlebt, es ihnen zur Vorgabe macht. Mit anderen Worten: Priester sind für Nietzsche sowohl die kirchlich berufenen und angestellten Amtsträger mit dieser Bezeichnung als auch beispielsweise die älteren Damen, die versuchen, ihren Enkeln die Leitwerte des Christentums näher zu bringen. Sie alle hätten sich dem Ziel verschrieben, die sklavenmoralische Umwertung auf die Dauer zu stellen, sie zu stabilisieren.
Die Gegenoption, die Nietzsche ins Feld führt, ist nun eine Rückkehr zu Naturordnung, die hierarchisch sei und dem „Willen zur Macht“ gehorche. Hier zeigt sich eine offensichtliche Schwachstelle der Nietzscheschen Argumentation: Woher wissen wir, was „die Natur“ ist, was wirklich „natürlich“ ist? Und selbst, wenn wir es wüssten, warum sollte daraus normativ irgendetwas folgen? Dass wir Natur, das Vorgefundene, als Angehörige der Gattung Homo sapiens stets bearbeiten, umgestalten, zu Kultur formen, steht außer Zweifel. Wir verfügen nie über eine reine Natur, die etwas vorgibt. Die Suggestion im „Antichrist“ ist aber die, dass es eine feste Naturordnung gebe, die vom Christentum, von den sklavenmoralischen Werten und den Priestern, die sie verwalten, in den Abgrund gestoßen worden sei. Das hört sich ausgesprochen dogmatisch an.
Die Frage bleibt, wie denn das Christentum sich zum priesterlichen Machtanspruch stellen will. Die Frage stellt sich gerade im katholischen Kontext. Und gravierender noch stellt sich die Frage, wie man zur Diagnose der sklavenmoralischen Umwertung steht. Nietzsche erscheint das Christentum als „Selbstschändung der Menschen“: „die Begriffe ‚Jenseits‘, ‚jüngstes Gericht‘, ‚Unsterblichkeit der Seele‘, die ‚Seele‘ selbst; es sind Folter-Instrumente, es sind Systeme von Grausamkeiten, vermöge deren der Priester Herr wurde, Herr blieb… Jedermann weiss das: und trotzdem bleibt Alles beim Alten.“

 

Heteronomie und Autonomie

Heteronomie bedeutet Fremdbestimmung, Autonomie bedeutet Selbstbestimmung. Für Nietzsche ist deutlich, dass das Christentum der weltgeschichtlich exemplarische Fall der Fremdbestimmung ist, eine Ideologie, die 2000 Jahre lang auf Menschen aufgepfropft wurde, um es ihnen zu verunmöglichen, Herren ihres eigenen Schicksals zu sein, weil immer schon ein anderer, nämlich Gott, über dieses Schicksal befunden habe. Nach Nietzsche bleibt in dieser Konstellation keinerlei Raum für eine Selbstbestimmung, die die Banden des Gebotenen überschreitet. Sie wissen, meine Damen und Herren, dass andere Philosophen und Philosophinnen das anders gesehen haben. Für Kant etwa ist ein vernünftiges Christentum sehr wohl mit Autonomie zusammenzudenken. Aber Autonomie meint bei Kant eine vernünftige Selbstgesetzgebung, in der die Sinnlichkeit in Schranken gewiesen wird. Nietzsche wiederum glaubt nicht an die Kantische Vernunft; er würde sagen, sie sei ein Schleichweg der Theologen zum alten Ideal. So wird im „Antichrist“ die Kantische Philosophie charakterisiert.
Die Frage, die sich daraus ergibt, lautet, wie es eine selbstkritische Theologie, ein selbstkritisches Christentum mit Selbst- und Fremdbestimmung hält. Inwiefern hat Nietzsche recht oder unrecht, wenn er behauptet, dass das Christentum Selbstbestimmung eigentlich verunmöglicht, zumindest dann, wenn man es ernst nimmt und nicht nur ein unverbindliches Sonntagschristentum daraus macht?

 

„Pathos der Distanz“

„Pathos der Distanz“ ist eine merkwürdige Formel, die Nietzsche einige Male in seinen späten Werken braucht. Sie meint, dass wir zur Selbstkonstitution, zur Selbstmodellierung die Fähigkeit haben müssen, uns von anderem und von anderen abzugrenzen. Nietzsche denkt das zunächst einmal gesellschaftlich; er denkt an sozial stratifizierte Gesellschaften, also Gesellschaften, die verschiedene, sozusagen fest zemenierte Schichten kennen, zwischen denen es kaum oder keine Durchlässigkeit gibt. Bei diesen Gesellschaften verhält es sich so, dass für die oben Stehenden eine solche Distanz sozial möglich und nötig ist. Daraus sei, so die Nietzschesche Lesart der Kulturgeschichte, so etwas wie menschliches Selbstbewusstsein oder menschliche Selbstwahrnehmungsfähigkeit erst entstanden: Die Fähigkeit, sich von anderen zu unterscheiden. Nietzsche konstruiert – wie bereits erwähnt – im Gegensatz dazu seinen „Typus des Erlösers“ als eine Figur, die radikal jede Distanz aufgegeben hat, der radikal jedes „Pathos der Distanz“ fehlt.
Dieser Begriff des „Pathos der Distanz“ ist ein rätselhafter Begriff, der zumindest eines deutlich macht: den Umstand nämlich, dass das Subjekt keine für sich bestehende Gegebenheit ist. Es ist keine ontologische Substanz; wir haben keine Welt, die aus Subjekten besteht, die schon in sich konstituiert sind, sondern jedes Subjekt wird Subjekt – und es wird es zum einen in der Interaktion, zum anderen aber eben in Abgrenzung von anderem und von anderen. Man könnte sagen, dass die Formel „Pathos der Distanz“ die Notwendigkeit zur Selbstwerdung in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von anderen beschreibt. Nietzsche hält am Postulat von Individualität und Subjektivität fest, aber nicht in dem Sinne, dass wir ein für sich bestehendes Subjekt retten oder herausgraben müssten, sondern dass sich dieses Subjekt aktiv und interaktiv erst herstellt.
Die Frage ist also, wie sich diese Idee des „Pathos der Distanz“, einer Selbstkonstitution durch Abgrenzung, mit dem Christentum zusammendenken lässt. Anders gefragt: Wie lässt sich überhaupt Individualität als Abgrenzung zusammendenken mit – polemisch gesprochen – der Herde der Gleichgläubigen und der Gleichgültigen. Oder bieten vielmehr gerade die vielen Christentümer eine Chance zur Selbstkonstitution durch Abgrenzung, wenn Sie etwa an die konfessionellen Auseinandersetzungen denken, wo es darum ging, sich in Abgrenzung gegen andere zu profilieren, die eben auch in Anspruch nehmen, die (einzig wahren) Christen zu sein? Das ist sicher nicht unter der damals noch gar nicht erfundenen Nietzscheanischen Formel vom „Pathos der Distanz“ geschehen. Aber es zeigt sich zumindest, dass das Christentum doch in seiner realen Erscheinungsform in höchstem Maße divers ist, was gegen die Gleichschaltungsthese Nietzsches sprechen könnte.

 

Skepsis und Überzeugung

Falls Sie sich an dieses Werk, den „Antichrist“, heranwagen wollen, dann schauen Sie sich gründlich den 54. Abschnitt an. Der 54. Abschnitt ist sehr bemerkenswert, weil er herausfällt aus dem Fortissimo der Polemik, die vom Anfang bis zum Ende das Christentum und das ihm vorangehende Judentum und das ihm nachfolgende egalitär demokratische Zeitalter auf dem Holzweg sieht. Dieser 54. Abschnitt ist einer, der gewissermaßen Auskunft gibt über die Funktionsweise des ganzen Buches. Es wird da nämlich ein Hohelied auf die Skepsis angestimmt. Ich zitiere: „Die Stärke, die Freiheit aus der Kraft und Überkraft des Geistes beweist sich durch Skepsis. Menschen der Überzeugung kommen für alles Grundsätzliche von Werth und Unwerth gar nicht in Betracht. Überzeugungen sind Gefängnisse. Das sieht nicht weit genug, das sieht nicht unter sich: aber um über Werth und Unwerth mitreden zu dürfen, muss man fünfhundert Überzeugungen unter sich sehn, — hinter sich sehn… Ein Geist, der Grosses will, der auch die Mittel dazu will, ist mit Nothwendigkeit Skeptiker. Die Freiheit von jeder Art Überzeugungen gehört zur Stärke, das Frei-Blicken-können… Die grosse Leidenschaft, der Grund und die Macht seines Seins, noch aufgeklärter, noch despotischer als er selbst es ist, nimmt seinen ganzen Intellekt in Dienst; sie macht unbedenklich; sie giebt ihm Muth sogar zu unheiligen Mitteln; sie gönnt ihm unter Umständen Überzeugungen. Die Überzeugung als Mittel: Vieles erreicht man nur mittelst einer Überzeugung. Die grosse Leidenschaft braucht, verbraucht Überzeugungen, sie unterwirft sich ihnen nicht, — sie weiss sich souverain. — Umgekehrt: das Bedürfniss nach Glauben, nach irgend etwas Unbedingtem von Ja und Nein, […], ist ein Bedürfniss der Schwäche.“
Nun, eine höchst überraschende Wendung in diesem Text, der ja zunächst so überzeugungsfest daherkam, der so tat, als habe dieses Ich, das hier im Fortissimo spricht, selber ganz viele Überzeugungen, nämlich antichristliche Überzeugungen. Jetzt sehen wir, dass diese Überzeugungen nicht Selbstzweck sind oder gar das, was Herr Nietzsche wirklich glaubt, sondern sie sind vielmehr ein Mittel dazu, die Überzeugungen der anderen zu torpedieren und zu problematisieren. Diese antichristlichen Überzeugungen werden verbraucht im Neutralisierungsgefecht gegen das Christentum. Wenn also Nietzsche so tut, als wäre er überzeugt davon, dass dieser Jesus ein „décadent“ gewesen ist, dann können wir gar nicht sicher sein, ob das auch wirklich seine persönliche Überzeugung war. Aber Jesus so zu profilieren, wie das in unserem ersten Fragekomplex in den Raum geführt worden ist, führt dazu, dass wir etwa das kirchliche Jesusbild nun mit einem neuen Blick, durch eine neue Brille sehen und zu problematisieren in der Lage sind. Es ist also eine skeptische Strategie der Verunsicherung und Neutralisierung am Werk. Nietzsche entwirft unentwegt Überzeugungen, die er gegen andere, gegen tatsächliche Überzeugungen ins Feld führt. Er ist sozusagen eine Überzeugungsproduktionsmaschine, aber die Überzeugungen sind eben nur Mittel und kein Selbstzweck.
Was also folgt daraus für die Frage, wie heute noch Christentum zu treiben ist? Es folgt daraus eine grundsätzliche Infragestellung des eigenen Selbstverständnisses. Schließlich geht es für christlich Überzeugte wesentlich auch darum, anderen Menschen Überzeugungen, ‚Glaubenswahrheiten‘ näher zu bringen. Aber hindere ich den Anderen nicht daran, seine eigene Welt zu zimmern, sein eigenes Ich zu modellieren, indem ich ihm Überzeugungen gewissermaßen aufnötige oder unterjubele, indem ich ihn zu glauben zwinge? Müsste man nicht als ein Mensch, der meint, das Christentum sei etwas, das eine lohnens- und nachahmenswerte Lebenspraktik sei, einzig durch das Beispiel wirken? Eben so wie dieser Jesus von Nazareth, nämlich nicht katechisieren, sondern handeln und im Handeln andere Menschen dazu zu bringen, diesem Beispiel zu folgen?
Der Wert von Überzeugungen wird bei Nietzsche also grundsätzlich zur Disposition gestellt, und wir tun gut daran, diese skeptische Anfrage als siebte Frage in unserem Selbstbefragungsgeschäft nicht an die allerletzte Stelle zu rücken, obwohl es in der Chronologie der sieben Punkte an die allerletzte Stelle gerückt ist.
Nun, Nietzsche ist ganz offensichtlich ein Autor, der als Irritationsphilosoph nach wie vor im Stande ist, unsere Grundfesten zu erschüttern. Er pflegt ein listiges, ein listenreiches Schreiben, das sich nicht auf Schlagworte reduzieren lässt, sondern als Denkexperimentieren zu verstehen ist – ein Denkexperimentieren, die Geläufigkeiten und geläufigen Weltbilder in Frage zu stellen.
Von daher gilt: Eine ideologische Vereinnahmung Nietzsches ist eigentlich ein Selbstwiderspruch. Wenn Sie sich dann seine Vereinnahmung etwa durch den Nationalsozialismus anschauen, werden Sie feststellen, dass er als Philosoph eigentlich überhaupt nicht passend zu machen ist. Entsprechend musste man ihn auf ein paar wenige Schlagworte reduzieren. Und genau das ist das Problem bei Nietzsche: dass er so wunderbar schreibt, dass Sie immer irgendwo etwas herauspicken können, das sich als Schlagwort oder Kalenderblatt vorzüglich eignet. In jedem Falle aber ist Nietzsche, wenn man ihn genau und ausdauernd liest, ein Autor, dessen Provokationspotential nicht versiegt.

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