Ökumenischer Erfolg und soziale Selbstverpflichtung

Zum historischen Profil der Fuggerei-Stiftung

Im Rahmen der Veranstaltung 1521 – Fuggerei – 2021, 24.06.2022

© Fugger-Stiftung

Die Fuggerei ist eine bemerkenswerte Stiftung. Im Jubiläumsjahr 2021 erweckt allein schon ihr 500jähriges Bestehen und ihr bis heute andauernder Betrieb Bewunderung. Manche glücklichen Zufälle haben dazu beigetragen, dass der Stiftungszweck auch noch nach einem halben Jahrtausend erfüllt werden kann; doch nicht zuletzt erwies sich die Konzeption der Anstaltsstiftung als zukunftsweisend und ermöglichte die Anpassung der Stiftungspraxis an die jeweiligen gesellschaftlichen Veränderungen. Warum das so ist, soll in diesem Beitrag unter anderem deutlich werden. Ein Vergleich mit der Augsburger Stiftungspraxis an der Wende zur Neuzeit hilft dabei, das Profil der Fuggerei-Stiftung klarer zu fassen. Deren Charakteristika lassen sich thesenhaft zusammenfassen:

Erstens ist die Fuggerei eine Stiftung, die ihren kommunalen Bezug in besonderer Weise reflektiert. Ihre Errichtung beruht auf einer öffentlich-privaten Rechtskonstruktion, einer, wenn man so will, öffentlich-privaten Partnerschaft. Zweitens wird, vom Stiftungszweck bis hinab ­
in die materielle Struktur der Siedlung, Fördern und Fordern konsequent miteinander verbunden und Hilfe als Befähigung zur Selbsthilfe verstanden. Mit kommunaler Verankerung und Arbeitsorientierung scheinen in der Fuggerei-Stiftung zwei Leittendenzen der Zeit auf, die – drittens – in einem doppelten Rückbezug auf das Gemeinwohl miteinander verknüpft sind. Denn die Destinatäre haben sich nicht anders als der Stifter am bonum commune auszurichten und der Allgemeinheit ‚Frucht zu bringen‘. So modern oder säkular solche Vorstellungen anmuten; sie dürfen nicht gegen die religiöse Begründung des Stiftungshandelns ausgespielt werden. Vielmehr entspringen sie im Kern religiösen Motiven ­
und Denkzusammenhängen.

Wohnstiftungen vor der Fuggerei – das Beispiel der Antonspfründe

Gerade die Originalität der Fuggerei-Stiftung und der von ihr repräsentierte Wandel in der Stiftungspraxis wird in besonderer Weise deutlich, vergleicht man sie mit einer etwa 100 Jahre zuvor, 1410, errichteten Stiftung des damals reichsten Augsburgers Lorenz Egen (um 1360/70–1418), die dessen Sohn Peter (um 1414–1452) in den 1440er Jahren erweiterte. Die soziale und gesellschaftliche Entwicklung der bürgerlichen Egen, die sich seit 1442 „von Argon“ nennen durften und im weiteren Augsburger Umland mit Schloss Baumgarten einen repräsentativen Landsitz erwarben, zeigt deutliche Parallelen zum Aufstieg der Fugger einige Jahrzehnte später. Das dem hl. Antonius Eremita geweihte Spital in der Nachbarschaft des Egen’schen Hauses bot zwölf alten, gebrechlichen und nicht mehr arbeitsfähigen Männern eine Vollversorgung, zuallererst mit Wohnraum in eigenen Zimmern, darüber hinaus aber auch mit Kleidung, gemeinsam einzunehmenden Mahlzeiten und ggf. Pflege, wofür sich eigens angestellte Knechte und Mägde zu kümmern hatten. „Zwölfbrüderhäuser“ heißen entsprechende Stiftungen ihrer „apostolischen“ Zwölfzahl wegen.

Neben den Voraussetzungen auf Seiten der Destinatäre sind vor allem deren 1445 detailliert beschriebene Aufgaben von Interesse: Die gleich Klosterbrüdern einheitlich in schwarzes Loden gekleideten Männer hatten wie jene einen von Gebet und Gottesdienst ausgefüllten Tageslauf, dessen Zentrum die von Lorenz Egen errichtete und mit einem eigenen Priester versehene Hauskapelle – zugleich konzipiert als Grablege der Stifterfamilie – bildete. Weitere regelmäßige Gottesdienste in der nebenan gelegenen Klosterkirche der Dominikaner kamen hinzu. Am Grab waren morgens nach dem Aufstehen 15 Paternoster und 15 Ave Maria zu sprechen, danach der Messe, erst in der Kapelle, dann bei den Dominikanern beizuwohnen, wo auch die abendliche Vesper und die Komplet stattfand. Vor den beiden ­Mahlzeiten sprachen die Männer jeweils drei Paternoster und Ave Maria. Auch vor dem Schlafengehen versammelten sie sich wieder am Grab zur Ableistung desselben Gebetspensums wie am Morgen. An den Jahrtagen der Stifter waren zusätzlich 50 Paternoster und ebenso viele Ave Maria verlangt. Mit seiner Fülle und präzisen Determination der liturgischen Verpflichtungen einerseits und der nicht minder detailliert festgehaltenen Versorgungsleistungen für die zwölf Männer andererseits ist das Egen’sche Zwölfbrüderhaus typisch für die mittelalterliche Form der Sozialstiftung.

Die Fuggerei-Stiftung

Jakob Fugger und seine 1506 und 1510 verstorbenen Brüder Georg und Ulrich müssen Stiftungskonzeption und -praxis der Antonspfründe, deren Betrieb noch bis in die 1540er Jahre hinein dem ursprünglichen Stiftungszweck folgte, aus eigener Anschauung gekannt haben. Keine 70 Jahre, nachdem Peter von Argon die Bestimmungen der väterlichen Stiftung niedergeschrieben hatte, verwirklichte Jakob Fugger selbst die Idee zu einer sozialen Stiftung. Einen ersten Gebäude- und Grundstückskauf auf dem späteren Fuggerei-Gelände am Kappenzipfel in der Jakober Vorstadt tätigte er bereits am 26. Februar 1514, siebeneinhalb Jahre vor der Abfassung des eigentlichen Stiftungsbriefes. Zwei Jahre später kamen weitere Erwerbungen hinzu. Darauf sowie auf weitere mögliche Zukäufe bezieht sich der am 6. Juni 1516 zwischen Stadt und Stifter geschlossene Vertrag, der vor allem als Quelle für die Festlegung der berühmten Mietobergrenze zitiert wird. Unter der Bedingung nämlich, dass die Bewohner nicht über ain guldin reinischer jerlichs haus zinß zu entrichten hätten, sollten die zu Wohnungsbau und -erhalt eingesetzten Mittel der Fugger stets von der Steuerpflicht ausgenommen sein. Noch heute beläuft sich die Jahreskaltmiete für eine Wohnung in der Fuggerei bekanntlich auf einen, nunmehr freilich zu 88 Cent umgerechneten Rheinischen Gulden.

Der Vertrag zwischen Reichsstadt und Stifter – eine Integrationsleistung

Weniger diese und weitere finanzielle Details sind jedoch der eigentliche Zweck des Vertrages – zu unerheblich erscheint die mit der Vereinbarung erzielte Minderung der Steuerlast; ohnehin bezahlten die Fugger wenig später, seit 1520, eine pauschal veranschlagte Reichensteuer. Im Kern ging es vielmehr darum, über die steuerlichen Festlegungen zugleich den rechtlichen Status des Stiftungsgeländes und seiner Bewohner klar zu definieren. Denn Jakob sagt vorab für sich und seine künftigen Erben zu, entsprechend der Höhe des kauffgellt[s] der erworbenen und noch zu erwerbenden Güter die dafür übliche Steuer on widerred zu zahlen. Es musste also jedes Jahr die festgesetzte Vermögenssteuer auf „liegend Gut“ entrichtet werden. Eine Steuerschuld wird sodann auch für alle weiteren mit dem Siedlungsausbau verbundenen Ausgaben grundsätzlich anerkannt, gerade indem von ihr unter bestimmten Bedingungen – eben der Mietobergrenze – befreit wird. Damit bestätigen der Stifter und seine Nachfolger die Zugehörigkeit der Fuggerei zum Rechtsbereich der Reichsstadt vorbehaltlos. Festgehalten wird im anschließenden Vertragspassus auch ausdrücklich, dass die Bewohner der Siedlung wie alle Augsburger Einwohner und Bürger der städtischen Obrigkeit unterstehen.

Mit dem Vertrag gelang es auf Dauer, künftig mögliche rechtliche Konflikte zwischen Stadt und Stifter erfolgreich zu vermeiden – anders als 1410 bei der eigenmächtigen Errichtung der Kaplanei St. Anton durch Lorenz Egen, die zum freilich kirchenrechtlich motivierten Konflikt mit der Mutterpfarrei St. Moritz führte. Zugleich aber leistete der Vertragsabschluss von 1516 noch mehr, indem er mit der Stiftung den Stiftern selbst als burger zue Augspurg ihren gesellschaftlichen Ort innerhalb des Gemeinwesens zuwies und ihre Unterordnung unter die städtische Rechtsordnung festhielt. Die Vereinbarung ist also Ausdruck eines beiderseitigen politisch-gesellschaftlichen Integrationswillens. Im Unterschied zur Antonspfründe, die eher der kirchlichen Sphäre zuzurechnen ist und baulich wie memorial dem Egen’schen Haus zugeordnet werden kann, wird die Fuggerei-Stiftung von Anfang an in den städtischen Rechtsbereich eingeschrieben und erscheint geradezu als privat-kommunales Kooperationsprojekt.

Fördern und Fordern – Strukturen zur Selbsthilfe

Unabhängig von ihren fiskalischen Aspekten stellt die Mietminderung ein entscheidendes Unterstützungsmoment der Fugger’schen Stiftungsidee dar. Jakob äußert 1516 die Absicht, für arme, bedürftige Bürger und Einwohner Augsburgs, die offenlich das almusen nit suechen, – beispielhaft werden Handwerker und Tagelöhner genannt – den haußzins zum thail übernehmen und für bequemere Behausungen sorgen zu wollen. Sie sollen auf dem Gelände Ir gemech vnnd behausung bequemlicher gehaben vnnd bewohnen. Für den umschriebenen Personenkreis – die sog. verschämten Armen – konnte ein deutlicher Mietnachlass tatsächlich eine entscheidende Hilfe sein. Wenn aber den Bewohnern der Häuser am Kappenzipfel überhaupt eine Zahlung abverlangt wurde, so sollte dies wohl nicht zuletzt ihnen selbst bewusst machen: Sie hatten sich nicht als passive Almosenempfänger zu betrachten, sondern waren prinzipiell zu Eigen- bzw. Gegenleistung verpflichtete Mieter. Im Unterschied zu den Zwölf Brüdern der Antonspfründe genossen sie, abgesehen vom Wohnraum, keine weitere Versorgung.

Vielmehr bestand die Unterstützung, die Jakob Fugger den Bewohnern seiner Siedlung anbot, über die Miethilfe hinaus in der Schaffung einer Struktur, die Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbsthilfe systematisch stärken sollte. Denn die architektonische Gesamtkonzeption der Fuggerei ist konsequent ausgerichtet auf disziplinierte Arbeit. Diese erscheint als Weg, dem sozialen Abstieg zu entrinnen. Dementsprechend laden in der Siedlung keine Plätze oder Vorgärten zu ‚müßigem‘ Verweilen ein und halten Tore und feste Schließzeiten vom insbesondere nächtlichen Herumstreifen in der Stadt ab. Anders gestaltet ist die Anlage der als Vorbilder diskutierten Wohnstiftungen etwa in Flandern oder Venedig: Hier sollten zentrale Plätze bewusst die Begegnung der Bewohner untereinander erleichtern, Kirchen oder Kapellen sollten sie zu Gebeten oder Gottesdiensten zusammenführen. Die Errichtung der Fuggereikapelle St. Markus dagegen wurde erst 1580 geplant. Der Historiker Benjamin Scheller kam deswegen zu dem Schluss, der Siedlungsarchitektur sei das Arbeitsethos förmlich eingeschrieben. Mit dieser Prioritätensetzung hätten sich ausgedehnte, gar gemeinschaftlich abzuleistende, also im Tagesablauf zu synchronisierende Gebetsverpflichtungen wie im Egen’schen Zwölfbrüderhaus nicht vertragen.

Wenn es nun aber, wie mit guten Gründen behauptet wird, richtig sein sollte, dass die Tendenz zur Quantifizierung der Frömmigkeit am Vorabend der Reformation ihren Höhepunkt erreicht hatte, so wirft die Konzeption der Fuggerei Fragen auf. Offensichtlich folgt die Stiftung keineswegs der Rationalität einer angeblich gerade dem kaufmännischen Denken so plausiblen Heilsmathematik, sondern setzt, um dieselbe Fürbitt- oder Interzessionsleistung der Begünstigten zu erzielen, unverhältnismäßig mehr Mittel ein, als etwa für Einrichtung und Betrieb der Egen’schen Antonspfründe erforderlich waren. Standen bei der Fuggerei-Stiftung möglicherweise andere Motive im Vordergrund oder handelt es sich gar um das frühe Beispiel einer im Grunde profanen Stiftung, religiös lediglich verbrämt durch ein Minimum an zeitüblicher Frömmigkeit?

Religiöser Grundcharakter und konfessionelle Praxis

Nein, Jakob Fugger lässt an einer religiösen Verankerung seiner Initiative keinen Zweifel. Im Vertrag von 1516 umschreibt er eingangs seine Motivation zur Stiftung mit den Worten, er handle Got dem allmechtigen zue Lob, seiner vnermaligten muetter, der junckfrawen Maria vnnd allem himlischen here zue andechtiger Erwerdigung sowie meiner Sele zue furderung Ewiger freude. Die zuletzt angeführte Überzeugung von der Heilswirksamkeit seines barmherzigen Werkes fehlt erstaunlicherweise in der Präambel des fünf Jahre später formulierten Stiftungsbriefes. Allerdings offenbart sich darin nicht etwa eine zwischenzeitliche Distanzierung des Stifters von der alten Kirche und ihrer Lehre: Auf deren Grundlage steht der Brief insgesamt wie auch einzelne Ausführungen ganz unzweideutig. Hinzugekommen ist stattdessen eine andere aufschlussreiche Formulierung: Als Intention für die in der Urkunde von 1521 behandelten Stiftungen – neben der Fuggerei sind dies die Kapelle bei St. Anna und die Prädikatur an St. Moritz – wird neben dem Lobe Gottes danckparkait für die guthait vnnd glücklichen zuestandt, so er vns bisher in vnserm handell mit zeytlichen guetern bewisen hatt, genannt. Der geschäftliche Erfolg wird also ausdrücklich betrachtet als Geschenk des Herrn, das zu einer ihm wohlgefälligen, hier karitativen Gegengabe herausfordere.

Diese gleichsam vertikale Dimension des Gabentausches erklärt letztlich auch die im Stiftungsbrief fixierte immaterielle Gegenleistung, die jedem Fuggereibewohner abverlangt wird: [A]in yeder mensch, Jung oder alt, so es vermag, hat täglich einmal das patter noster, aue maria und ein Glaubensbekenntnis zu sprechen, also – um es deutlich zu sagen – an Gott zu adressieren, damit die sellen des Stifters, seiner Eltern und Geschwister und die der Nachkommen – zu ergänzen wäre: wiederum durch Gottes Barmherzigkeit – hilff vnd trost erführen. Die nachdrücklichen Formulierungen des Stiftungsbriefes lassen, auch wenn es sich um ein nur sehr geringes Gebetspensum handelt, keinen Zweifel an der Verbindlichkeit der Forderung, zu deren Erfüllung sich ain Yedes hawsvolck auch in der Zukunft gnugsamlich verschreiben muss.

Der theologische Begründungszusammenhang für den hier greifbaren Gedanken der Interzession ist zweifellos vorreformatorisch, wird von allen Reformatoren abgelehnt, jedoch von der katholischen Kirche ausdrücklich beibehalten und sollte sich zu einem konfessionellen Proprium entwickeln. Insofern ist bei der Fuggerei nicht nur im allgemeinen Sinne von einer religiösen Grundierung der Stiftungsabsicht auszugehen, sondern von einer spezifischen, jedoch erst nachmals als typisch katholisch geltenden Zwecksetzung, die für die Begünstigten grundsätzliche Bedeutung besaß und besitzt, ohne freilich deren Zeit im Alltag nennenswert in Anspruch zu nehmen.

Es ist dieser Zusammenhang, der den Kreis der Destinatäre im weiteren Verlauf der Fuggerei-Geschichte und bis heute prinzipiell auf Katholiken beschränkt, während in den Urkunden selbst durchaus keine konfessionelle Differenzierung vorgenommen wird. Konnte diese 1516 schlicht noch nicht erfolgen, so fügt 1521 der Stiftungsbrief lediglich formelhaft die Selbstverständlichkeit hinzu, die Begünstigten sollten Frome[…] Arme[…] sein. Auch bei der Erneuerung der Stiftungsurkunde durch Anton Fugger am 31. Juli 1548 wurde das ‚richtige‘ Bekenntnis nicht ausdrücklich als Bedingung vorgegeben. Ohnehin war erst seit Sommer 1547 der katholische Kultus in der Stadt wieder möglich geworden. In der Praxis wird man deshalb auf jeden Fall bis in die Zeit der sich in Augsburg verfestigenden Bikonfessionalität, also bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts hinein, von einer pragmatischen Handhabung der Konfessionsfrage ausgehen müssen.

So viel jedenfalls steht demnach fest: In keinem Fall kann die Fuggerei als profane Stiftung interpretiert werden. Damit aber muss die Frage nach dem mit ihrer Stiftung verbundenen heilsökonomischen Konzept nochmals neu gestellt werden. Ist ihre Funktion nicht die einer ‚Gebetsmaschine‘, so muss von einem erweiterten Verständnis von Frömmigkeit ausgegangen werden. Offenkundig galt für Jakob Fugger nicht nur Beten als gottgefällige Handlung, auch ehrlicher Arbeit kam dieser Rang zu. Sein persönliches Selbstverständnis als Kaufmann und das seines Augsburger Umfeldes trafen sich hier mit dem Ethos der spätmittelalterlichen Mystik. Sie würdigte die Arbeit als eine Spielart des Gottesdienstes und bereitete damit auch deren später spezifisch reformatorische Wertschätzung theologisch vor. Die Konzeption der Fuggerei war systematisch auf rechte Arbeit als Ausdruck frommer Dankbarkeit gegen Gott und den Stifter ausgerichtet. Die geringe praktische Bedeutung des Gebetes im Alltag ihrer Bewohner erscheint also nur aus der Gegenwartsperspektive als säkularer Zug der Stiftung Jakobs. Dessen ungeachtet jedoch resultierte und resultiert daraus jene besondere Anpassungsfähigkeit der Stiftung an die Leittendenzen von Neuzeit und Moderne, an Säkularisierung und Individualisierung.

Doppelte Gemeinwohlorientierung

Neben ihrer religiösen Dignität besaß Arbeit eine eminent soziale Dimension, die insbesondere in den Reichsstädten des späten Mittelalters zum Tragen kam. Der sich in Armenordnungen wie jenen in Augsburg von 1459, 1491, 1522 und 1541 niederschlagende Diskurs um den der Unterstützung würdigen oder unwürdigen Armen ist Ausdruck dieses Zusammenhanges: Das Betteln eigentlich arbeitsfähiger Menschen galt immer mehr als inakzeptabel und geriet zunehmend – nicht erst, aber besonders mit der Reformation – unter Druck. 1541 wurde es in der Stadt generell untersagt. Kommunale Hilfe gewährte man fortan nur noch in Form von Naturalien nach einer Bedürftigkeitseinschätzung durch sog. Gassenhauptleute.

Auch die Eingrenzung der vom Stifter ins Auge gefassten Destinatäre auf jene Arme, bei denen die Hilfe am basten angelegt wäre, folgt solchen Vorstellungen und verrät darüber hinaus den Einfluss kaufmännischen Denkens. Die Formulierung erfährt in der Urkunde von 1521 keine weitere Erläuterung; ihr Sinn scheint den Zeitgenossen klar gewesen zu sein. Gemeint war damit wohl, dass sich die Unterstützung dann besonders gelohnt hatte, wenn der Begünstigte und seine Familie dadurch langfristig der sozial prekären Situation entkommen und zu seiner künftigen Absicherung Rücklagen oder Vermögen aufbauen konnte. Inwieweit dieser Zweck tatsächlich erreicht wurde, ist bislang erstaunlicherweise noch nicht hinreichend untersucht worden. Jedenfalls bedeutet die Maßgabe, dass objektive Voraussetzungen ebenso wie persönliche Eignung von Bewerbern in Augenschein zu nehmen waren. Bedürftigkeit und familiäre Lage, Alter, Gesundheit oder Beruf spielten bei der Bewertung eine wichtige, teils im Stiftungsbrief auch festgehaltene Rolle; aber auch an charakterliche Eigenschaften, nicht zuletzt an Arbeitseifer oder Fleiß, ist zu denken.

Bemerkenswert ist, dass die geforderte günstige Prognose der sozialen Entwicklungschancen mit der zur selben Zeit sich herausbildenden Praxis im Umgang mit Krankheiten korrespondiert. Auch die an der ‚Leitseuche‘ des 16. Jahrhunderts, den mit der Syphilis in Verbindung gebrachten sog. ‚Franzosen‘, Erkrankten wurden, wenn sie öffentliche Hilfe suchten, einer Begutachtung unterzogen. Nur bei günstiger Einschätzung des Heilerfolgs kamen sie im Blatterhaus unter, wo ihre Behandlung von der Stadt finanziert wurde. Es passt ins Bild, wenn das in der Fuggerei schon in deren ersten Jahren eingerichtete sog. ‚Holzhaus‘ für die Franzosenkur nach demselben Prinzip arbeitete. Grundsätzlich zielte auch der therapeutische Einsatz für die als heilbar erachteten Kranken mit der Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit auf die ökonomische Sanierung der betroffenen Familien, die der Allgemeinheit nicht auf Dauer zur Last fallen sollten.

Beide Aspekte – geeignete Disposition bzw. günstige Prognose und Übertragung des Krankheitsverständnisses – finden sich in verdichteter Form an den drei 1519 über den Eingängen zur Fuggerei angebrachten lateinischen Inschriftentafeln, deren Text nach einer Notiz von 1534 im Auftrag der Fugger in Rom entstand. Die Tafeln definieren zuletzt den Empfängerkreis knapp als frugi sed pauperie laborant[es]. Aufschlussreich ist dabei zum einen die Grundbedeutung von frugi, die für das klassische Latein mit ‚in seiner Art etwas taugend‘ wiedergegeben wird und bei der die Vorstellung des aktiv handelnden ‚Frucht Bringens‘ (frugifer von frux, „Frucht“) mitschwingt. Zum anderen bringt das klassische Latein laborare im Sinne von ‚unter etwas leiden‘ grundsätzlich mit Krankheiten in Verbindung; hier nun wird es auf die Armut (pauperies) bezogen, die so gleichsam erscheint als Gebrechen ökonomischer Art, unter dem gelitten wird oder – und das ist ja die ursprüngliche Bedeutung des Wortes laborare – gegen das man ‚sich anstrengt‘ und ‚an-arbeitet‘.

Es liegt nahe, dass Jakob Fugger über die sprachliche Gestaltung der Epitaphien eingehend nachdachte, ehe er einen offenkundig humanistisch gelehrten Experten zu Rate zog oder, etwa durch seinen Neffen Anton, konsultieren ließ, legt doch das auf Dauerhaftigkeit ausgerichtete Medium der Inschrift besondere Sorgfalt bei der Wortwahl nahe. Nimmt man ferner an, dass nicht erst ein fremder ‚Auftragstexter‘ im fernen Rom mit dem Entwurf befasst wurde, sondern die beabsichtigte Aussage des Textes zunächst in Augsburg selbst diskutiert wurde, so kommt ein mit den Fuggern in freundschaftlichem Verkehr stehender, mit der Konzeption ihrer Stiftung und der Situation vor Ort gleichermaßen vertrauter Augsburger Humanist und bekannter Inschriftensammler in den Blick: Eine Beteiligung des Augsburger Stadtschreibers Konrad Peutinger (1465–1547) am Entwurf der Inschrift erscheint aber nicht zuletzt aus inhaltlichen Gründen plausibel – wegen dessen Vertrautheit mit dem Gemeinwohl-Diskurs, den er in der zeitgenössischen Monopoldebatte um eine wirtschaftsethisch zukunftsweisende Perspektive bereicherte. Denn das Streben nach dem eigenen Vorteil (privata utilitas), der Eigennutz, hänge, so Peutinger in einem 1530 verfassten Gutachten, aufs engste mit dem Gemeinnutz (publica utilitas) zusammen. Letztlich werde, wenn es auf rechte Weise zugehe (saltem honeste), dieser durch jenen befördert. Auch wenn Peutingers Anteil an der Entstehung der Epitaphien letztlich Spekulation bleiben muss – die Formulierungen auf den Tafeln dürften jedenfalls das Ergebnis einer intensiven, womöglich im Austausch noch einmal geschärften Reflexion des Stifters sein und dessen Aussageabsichten authentisch wiedergeben.

Den gegen ihre Armut anarbeitenden Destinatären sind am Anfang der Inschrift die von Gott mit Reichtum beschenkten Stifter als Subjekt gegenübergestellt. Deren Motivation zur Stiftung wird sowohl religiös begründet (ob pietatem) als auch in zweifacher, auf Vergangenheit wie Zukunft bezogener Weise sozial-gesellschaftlich: weil die Brüder zum Wohle ihres Gemeinwesens geboren seien (qu[i]a bono reip[ublicae] se [esse] natos) und um ein Beispiel herausragender Freigebigkeit zu geben (ob […] eximiam in exemplum largitatem), also in der Absicht, zu Nachahmung anzuregen. Aus der Überzeugung, zum Nutzen der Heimatstadt auf der Welt zu sein, geht eine Verpflichtung hervor, die ausdrücklich und wie selbstverständlich anerkannt und angenommen wird. An der Gemeinwohlorientierung der Stiftermotivation besteht damit kein Zweifel, doch ist es die Mehrdimensionalität dieser Orientierung, durch die sich die Fuggerei-Stiftung auszeichnet. Denn wie die Stifter waren auch alle Bewohner der Siedlung dem gemeinen Nutzen verpflichtet, indem sie sich der ‚Anlage‘, des für sie unternommenen finanziellen Engagements, würdig erwiesen, frugi und laborantes, fruchtbringend und arbeitsam waren. Konzeption und Architektur der Siedlung halfen ihnen dabei. Und indem (auch) sie konsequent ihren privaten Vorteil suchten, mehrten (auch) sie den öffentlichen. Insofern stellt das Stifterhandeln ihnen selbst ein exemplum vor Augen.

Ausblick

In der Forschung heißt es, die Fugger hätten der privaten Armenfürsorge völlig neue Wege gewiesen. Ein Blick auf die zuvor gängigen Unterstützungsmodelle in der Stadt bestätigt diese Einschätzung. Aber gingen davon auch für die Zukunft Impulse aus? Wie entwickelte sich generell das Stiftungswesen in der Reichsstadt im weiteren Verlauf des
16. und 17. Jahrhunderts?

Möglicherweise angeregt von der Fuggerei-Stiftung bestimmte 1558 die Protestantin Susanne Neidhart († 1558) testamentarisch, ihre drei nebeneinanderliegenden Häuser – sie boten Raum für 13 Wohnungen – sollten Bedürftigen für „ziemliches Geld“ zur Verfügung stehen. Außerdem sind für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts zwei Mietstiftungen zu verzeichnen, wohl nicht von ungefähr getätigt von den beiden ebenso durch katholisches Bekenntnis wie Verschwägerung verbundenen Jakob Remboldt (1561) und Christoph Peutinger (1570). Dabei handelte es sich um die Einrichtung von Fonds, aus deren Erträgen Mietzuschüsse von jährlich jeweils 5 bzw. 4 fl. an sieben bzw. drei bedürftige Ehepaare sowie drei Witwen über 50 Jahre gewährt wurden. Die Initiativen nahmen bei der Vielzahl Augsburger Stiftungen der Zeit eine klar untergeordnete Bedeutung ein. Wichtiger dagegen wurden Stiftungen zu medizinischen sowie vor allem zu Bildungszwecken, bei denen sich der karitative Blick gerade auch auf bedürftige bzw. förderungswürdige arme Kranke und auf Schüler und Studenten richtete. Wie im Falle der Fuggerei waren solche Zuwendungen Investitionen in das bonum commune, ging es doch darum, dass Arbeitskraft wiederhergestellt und damit die eigenständige Versorgung von Familien gesichert wurde oder junge Männer nach einem Studium der Allgemeinheit von Nutzen waren.

Zugleich jedoch blieben ältere Stiftungspraktiken noch länger, und zwar deutlich über die reformatorische ‚Zäsur‘ hinaus gängig. Weiterhin bezweckten – katholische wie evangelische – Stiftungen eine punktuelle Unterstützung Armer durch Speisung oder Bekleidung, dies freilich angesichts einer zeitgleich sich weiter entwickelnden kommunalen Armenversorgung. In den meisten Fällen schlossen sich Wohltäter mit Zustiftungen an bestehende Stiftungen und Institutionen an, denn entscheidend für eigenständige Anstaltsstiftungen waren zweifellos die finanziellen Möglichkeiten, die nur wenigen zur Verfügung standen und die der Kreativität einer Stiftungsinitiative Grenzen setzten. In vielen Fällen, so vermutlich auch bei den Neidhart’schen Stiftungshäusern, scheint die bikonfessionelle Situation in Augsburg zu Konkurrenz herausgefordert und das Stiften belebt zu haben. Nur selten sind dagegen ausdrücklich Destinatäre beider Bekenntnisse vorgesehen.

Bedeutung und Prominenz der Fuggerei-Stiftung schließlich sollten nicht übersehen lassen: Auch im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts sind es erneut Fugger’sche Stiftungen, die hinsichtlich Umfang und Innovationsgehalt hervorstechen, so die Einrichtung des sog. ‚Schneidhauses‘ für chirurgische Eingriffe oder der entscheidend geförderte Aufbau eines Jesuitenkollegs als zentraler Baustein des erneuerten katholischen Bildungswesens in der Stadt und darüber hinaus. Augsburg blieb zentraler Bezugspunkt für die Stiftungsinitiativen der Fugger. Insofern waren es gerade auch die Generationen der Familie nach Jakob, die ihrerseits dessen Vermächtnis fortführten und die Aufforderung wörtlich nahmen, ob […] eximiam in exemplum largitatem zu handeln: dem „Vorbild hochherziger Freigebigkeit“ nachzueifern.

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