Passionsspiele

Ein vormodernes Massenmedium in Spätmittelalter und früher Neuzeit

Im Rahmen der Veranstaltung Passionsspiele in Bayern, 01.07.2022

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Passionsspiele kennen wir heute vor allem aus Orten in der Alpenregion. Neben den Passionsspielen im Tiroler Ort Erl sind vor allem die Oberammergauer Passionsspiele geradezu weltberühmt. Bei der Premiere des Oberammergauer Passionsspiels 2022 wurden nicht nur deutsche Textbücher, sondern auch englische angeboten, so dass Zuschauerinnen und Zuschauer aus den USA das Geschehen nachverfolgen können. Der Publikumsstrom aus Übersee hatte freilich schon im 19. Jahrhundert eingesetzt. Dabei spielten konfessionelle Grenzen kaum eine Rolle. Auch evangelische und evangelikale Christen schätzten und schätzen das Oberammergauer Passionsspiel. Denn dieses folgt mit seinem bibelnahen Text durchaus einem sola scriptura-Prinzip.

Auch die alttestamentlichen Präfigurationen, die in Oberammergau als stumme Bilder in eindrucksvoller Farbsymbolik inszeniert werden, sind bestens in der Bibel grundgelegt. Dabei sollen Begebenheiten des Alten Bundes gemäß traditioneller christlicher Exegese auf neutestamentliche Personen und Taten verweisen. Dieser Rückgriff auf das Alte Testament gründet ebenso auf mittelalterlichen Traditionen wie der ursprüngliche Text des ältesten Oberammergauer Passionsspiels, der mitten im Dreißigjährigen Krieg aus dem Augsburger Passionsspiel aus dem Benediktinerkloster Sankt Ulrich und Afra und einem weiteren Augsburger Passionsspiel der Meistersinger kompiliert und neu dramatisiert wurde.

I.

Zu den beiden schwäbischen Quellentexten des altbayerischen Oberammergauer Passionsspiels komme ich später im Detail. Für uns ist hier zunächst wichtig, dass der Spieltext für das Dorf Oberammergau aus einer Großstadt kam. Denn die Reichsstadt Augsburg gehörte im späten Mittelalter und zur Zeit der Fugger mit rund 30.000 Einwohnern zu den Großstädten im Heiligen Römischen Reich. Zum Vergleich: Frankfurt am Main hatte zur selben Zeit nur 10.000 Einwohner. Und im Mittelalter waren es die großen Reichs- und Residenzstädte, welche Passionsspiele auf die Bühne brachten. Dies hatte mit finanzieller und personeller Ausstattung zu tun. Denn Musiker, Schauspieler und Bühnentechnik sowie Sicherheitsmaßnahmen kosteten eine Menge Geld. Dementsprechend warnt der Frankfurter Stadtrat im Jahr 1492 die Veranstalter des Frankfurter Passionsspiels: Aber daz sie sich nit verkostigen, warnen. Das heißt: Die Veranstalter werden vor übermäßigen Ausgaben gewarnt.

Die Mahnung des Frankfurter Stadtrats bezog sich auf die Passionsspielaufführung von 1492. Auch 1498 und 1506 spielte man die Passion auf dem Römerberg vor dem Rathaus. Die Bühne aus Holz integrierte auch den Brunnen, den man für die Taufe Jesu und als Teich für ein Wunder Jesu benötigte. Ansonsten waren die Bühnenaufbauten denkbar einfach. Für die Bergpredigt stieg Jesus etwa auf ein hölzernes Fass. Die Frankfurter Ratsprotokolle verzeichnen auch genau, wo die Logenplätze für das Publikum waren.

Die Stadträte und Bürgermeister wohnten nämlich dem Spektakel von den Fenstern des Römers, also des Frankfurter Rathauses, aus bei. Oben von den Zinnen der Nikolaikapelle durften die vornehmen Patrizier zuschauen. Das einfache Volk umstand die hölzerne Bühne auf dem Römerberg beziehungsweise Samstagsberg genannten Stadtplatz. Der Ort sieht heute fast genauso aus. Interessant ist noch ein Detail zum Catering: Die Stadträte verspeisten während der Vorstellung Kirschen und tranken Rotwein auf Kosten der Stadtkasse. Kirschen gab es deswegen, weil das Passionsspiel im späten Frühjahr an Pfingsten aufgeführt wurde.

In Frankfurt fürchtete man nämlich das schlechte Wetter an Ostern. Noch wichtiger dürfte allerdings die zeitliche Konkurrenz mit der Frankfurter Frühjahrsmesse gewesen sein. Wie heute lebte die Stadt vom Messegeschäft. Und die Kasse musste eben stimmen, bevor man in der Zeit zwischen Frühjahrsmesse und Herbstmesse als Bürgerschaft unter sich war und die Passion für die Frankfurter Bürger inszenierte. Dass es um eine stadtbürgerliche Liturgie von Frankfurtern für Frankfurter ging, zeigt auch die Tatsache, dass man die drei Holzkreuze des Passionsspiels nach den Aufführungen in einer feierlichen Prozession auf die öffentliche Hinrichtungsstätte Frankfurts im Westen vor der Stadt brachte und aufstellte. Dort blieben die Passionsspielkreuze als Denkmal stehen. Die Hinrichtungsstätte Frankfurts hieß damals Galgenfeld. Damit handelte es sich also um Golgatha auf dem Galgenfeld.

Die Forschung weiß recht genau, wie die Stadt und ihr unmittelbar angrenzendes Umland um 1500 aussahen. Denn dass die heutigen topographischen Verhältnisse der Stadt um den Römer herum vom mittelalterlichen Befund nicht weit entfernt sind, zeigt als vormoderne Quelle der Faberplan von 1552. Dieser Vogelschauplan des Conrad Faber von Kreuznach gibt nämlich das Erscheinungsbild der Stadt zur Zeit der Passionsspielaufführungen von 1492, 1498 und 1506 wieder und zeigt ebenso das Galgenfeld mit der Hinrichtungsstätte, auf welcher die hölzernen Kreuze des Passionsspiels installiert wurden.

Dies illustriert, wie Passionsspiele Bestandteil einer in die Landschaft eingeschriebenen Inszenierung von Gemeinschaft wurden. Der Spieltext selbst konstruiert dabei eine Exklusivität, indem gegen Juden gehetzt und über das Landvolk gespottet wurde. Die Publikumsgemeinde wurde durch ein Wir-Gefühl der christlichen Frankfurter zusammengeschweißt. Die jüdische Gemeinde in der Judengasse und die vermeintlich dummen Bauern vom Lande blieben in der Logik dieses Spiels von der städtischen Gemeinschaft ausgeschlossen.

II.

Aber Frankfurt am Main war nicht die einzige Reichsstadt, in der Passionsspiele inszeniert wurden. Denn 2010 konnte ich nachweisen, dass das nach seinem heutigen Aufbewahrungsort benannte Sankt Galler Passionsspiel in Wirklichkeit das Wormser Passionsspiel ist. Seit 2013 heißt es auch offiziell Wormser Passionsspiel. In einer zentralen Passage geht es darin um eine Blindenheilung Jesu aus dem Johannesevangelium (Kapitel 9). Dort ist auch von Juden die Rede, die Jesu Wunder kommentieren. Die anonymen Juden aus dem Evangelium werden im Wormser Passionsspiel zur Sprechrolle des Salman Phariseus. Hinter dem Pharisäer Salman verbirgt sich der Wormser Gegenbischof Salman. Damit aber haben wir die Ebene der Reichspolitik und der Kirchenpolitik Kaiser Ludwigs des Bayern erreicht.

Die bewegte Zeit dieses wittelsbachischen Kaisers schildert etwa Umberto Eco in seinem Roman Der Name der Rose. Im 14. Jahrhundert standen sich Kaiser Ludwig der Bayer und der Papst in Avignon feindlich gegenüber. Man überzog sich gegenseitig mit Sanktionen und Schmähschriften. Der Papst verhängte das Interdikt über das Reich und ernannte Gegenbischöfe, um die vom Kaiser eingesetzten Bischöfe unmöglich zu machen und zu diskreditieren. In Worms konnte aber der Gegenbischof Salman beim kaisertreuen Stadtrat niemals Fuß fassen. Das Wormser Passionsspiel machte sich dementsprechend über den „Pharisäer“ Salman lustig. Dieses Verfahren mit der politischen Aktualisierung kennt auch die zeitgleiche Frankfurter Dirigierrolle (ein Passionsspielrotulus), welche einen „Juden Liebermann“ auftreten lässt.

Tatsächlich ist dieser Jude Liebermann im 14. Jahrhundert archivalisch nachweisbar. Die Botschaft der Frankfurter Dirigierrolle ist klar: Es sind die zeitgenössischen, spätmittelalterlichen Juden, die Jesus kreuzigen. Die Passionsspiele waren generell antisemitisch beziehungsweise antijudaistisch. Als realweltliche Konsequenz beschließt dementsprechend 1498 der Frankfurter Stadtrat vor der Passionsspielaufführung Folgendes: „Item die Juden dis spil in iren husen lazen vnd ine einen gunnen, der sie beslieze.“ Das heißt übersetzt: „Die Juden sollen während der Passionsspielaufführung in ihren Häusern bleiben, und man soll eine Stadtwache abstellen, die sie einschließt und bewacht.“ Dies war leicht möglich, denn in Frankfurt gab es die berühmte Judengasse, die noch Goethe in Dichtung und Wahrheit als Ghetto beschreibt. Das massive Holztor der Judengasse konnte fest verschlossen werden und die Juden waren damit vor einem Pogrom sicher – und zugleich von der Teilhabe am städtischen Großevent ausgeschlossen.

III.

Für ein derartiges Großevent bedurfte es entsprechend großer öffentlicher Räume. Dies trifft auch auf das Wormser Passionsspiel zu. Es wurde vor dem Nordportal des Doms aufgeführt, wo sogar das königliche oder kaiserliche Blutgericht tagte. Insofern hatte der kaiserliche Prokurator Pontius Pilatus eben dort seinen Bühnenort, um Jesus zum Tode zu verurteilen. Durch dieses königliche Portal zog im Mittel­alter traditionell der deutsche Kaiser in den Wormser Dom ein.

An eben dieser Stelle kam es auch zum berühmten Streit der Königinnen im Nibelungenlied. Kriemhild und Brünhild streiten sich darüber, wer als erste den Wormser Dom betreten dürfe. Dieser bühnenreife Streit wurde aber in den letzten Jahren inspiriert vom genius loci eben dort im Rahmen der Nibelungenfestspiele inszeniert. Zwar werden Passionsspiele heute vor dem Wormser Dom nicht mehr aufgeführt, der historische Bühnenstandort wird jedoch weiterhin als solcher genutzt. Denn dort finden heute jeden Sommer die Nibelungenfestspiele statt. Und bereits in der ersten Aventiure des Nibelungenlieds heißt es: „ze Wormez bi dem Rîne / si wonten mit ir kraft, // in dienten von ir landen / vil starkiu ritterschaft“ („Kriemhild und ihre Brüder lebten in der Stadt Worms am Rhein und verfügten über zahlreiche wehrhafte Ritter als Vasallen“).

Die Wormser Nibelungenfestspiele bringen mitunter berühmte Schauspielerpersönlichkeiten auf die Bühne. Die Aufführungen des Jahres 2019 zeigten in der Rolle des grimmigen Hagen keinen geringeren als den großen Burgschauspieler Klaus Maria Brandauer. Diese spektakuläre Festspieltradition hat – ohne, dass dies den Erfindern der modernen Nibelungenfestspiele bewusst war – vom Bühnenort und vom Phänomen des Massenspektakels her ihren Ursprung im Mittelalter, genauer im berühmten Wormser Passionsspiel.

Während Worms und Frankfurt am Main alte urbane Zentren des Heiligen Römischen Reichs, genauer mächtige Reichsstädte darstellten, gab es Passionsspiele auch in mittelalterlichen Residenzstädten. Die habsburgische Residenz Wien wurde Schauplatz einer Passionsspielaufführung, welche im Verbund von Wiener Universität und dem Hof des Erzherzogs inszeniert wurde. Dies belegt ein Auszug der Fakultätsakten.

Im Einzelnen geht es um einen Beschluss der Wiener Artistenfakultät, welche traditionell die meisten Professoren und Studenten hatte: „1432, 4 aprilis, congregatio facultatis artium ad audiendum relacionem decani, quomodo quidam magister scilicet Johannes Celler de Augusta in die cene domini, parasceves et pasce habuisset publice ludos de cena, passione et resurreccione domini in castro ducis, non obstante exhortacione decani contraria. Super quo conclusit facultas, quod de cetero nullus magistrorum facultatis ludos tales facere publice presumat sine expressa licencia facultatis; quod si quis contrarium fecerit, excludatur a facultate.“

Das heißt, dass am 4. April 1432 der Fakultätsrat zusammentrat um über den Fall des Magisters Johannes Zeller aus Augsburg zu beraten. Dieser hatte zur Osterzeit öffentliche Passionsspiele aufgeführt, über das letzte Abendmahl, die Passion und die Auferstehung. Aufführungsort war die Wiener Hofburg. Darüber beschloss die Fakultät, dass niemand künftig solche Aufführungen ohne ausdrückliche Genehmigung der Fakultät veranstalten dürfe. Im Falle der Zuwiderhandlung drohte Ausschluss aus der Fakultät.

Offenbar waren Teile der Fakultätskollegen eifersüchtig wegen der großen Ehre, in der Wiener Hofburg vor dem Herrscher so ein Passionsspiel aufzuführen. Der Magister, das entspricht dem heutigen Rang eines Professors, hatte mit seinen Studenten ein höfisches geistliches Drama inszeniert. Damit konnte man sich bei Hofe profilieren und ebenso sicher den Neid der Kollegenschaft erzeugen. Jedenfalls erfahren wir hier, dass Studenten Theater spielten. Auch dies war im Mittelalter nicht ungewöhnlich, denn der berühmte Pariser Theologieprofessor Jean Charlier Gerson spielte am Collège de Navarre mit seinen Studenten ebenfalls Theater. Während dies in Paris sehr gut ankam, war in Wien zumindest die Fakultät not amused.

Die Quelle aus den Fakultätsakten nennt den Ort der Aufführung sehr präzise: in castro ducis, also wörtlich „in der Burg des Herzogs oder Erzherzogs“. Die Anfänge der Wiener Hofburg sind archäologisch gut erforscht und erinnern ein wenig an den Tower of London: ein quadratischer Grundriss mit vier Ecktürmen. Die Darstellung auf dem Wiener Stadtplan von 1421/22 zeigt eine vergleichbare Architektur. Dort wird der Komplex ganz schlicht bezeichnet: das ist dy purck. Diese hatte einen großen Innenhof. Dort im Innenhof muss man sich die wohl hölzerne Bühne vorstellen. Von Türmen und zinnenbewehrten Mauern aus konnte man das Geschehen bequem verfolgen. Dieses Wiener Passionsspiel des Augsburger Magisters Johannes Zeller ist im Augsburger Passionsspiel des Benediktinerklosters Sankt Ulrich und Afra bis heute erhalten.

IV.

Wir wissen archivalisch, dass die Augsburger Familie Zeller in Zeche und Bruderschaft des Klosters Sankt Ulrich und Afra über mehrere Generationen hinweg engagiert war. Die Augsburger Benediktiner pflegten einen intensiven seelsorgerischen Austausch mit der Bürgerschaft der Reichsstadt Augsburg. Dazu gehörten auch Passionsspiele, für die es im Bereich des Klosters einen großen Platz gab. Wer sich in Augsburg auskennt: an der entsprechenden Stelle steht heute das Haus Sankt Ulrich, von der Maximilianstraße aus gesehen hinter dem Kirchenkomplex.

Augsburger Lokalkolorit zeigt besonders ein Ausschnitt des Passionsspiels: „Yetzvnd fliehend die iunger all von ihesu / dann petrus beleibt nachuolgend der schar. So ergreift Iud Lemlin Iohannem bey dem mantel vnd iohannes entrint im vnd laßt den mantel hinder im. Iud Lemlin spricht […]“

Die Szene beschreibt in der Regieanweisung die Flucht der Apostel weg von der Gefangennahme Jesu, wobei Petrus zunächst bei seinem Herrn bleibt. Dann ergreift ein Jude Lemlin den Apostel Johannes am Mantel. Johannes lässt den Mantel fallen und kann entkommen. Daraufhin hebt der Jude Lemlin zu einer Rede an. Lemlin ist dabei eine alemannische Form zum heutigen „Lämmlein“. Diese Verkleinerungsform gehört zum Familiennamen Lamm. Diese jüdische Familie lässt sich im 14. und 15. Jahrhundert für Augsburg archivalisch nachweisen. Ein gleichnamiger Gemeindevorsteher regelte ab 1438 juristisch den Abzug der Juden nach ihrer Ausweisung durch die Stadtregierung. In der Logik des Augsburger Passionsspiels ist also der spätmittelalterliche und zeitgenössische identisch mit dem biblischen Juden bei der Gefangennahme. Es sind daher die zeitgenössischen Juden, welche den Erlöser Jesus gefangen nehmen. Von da ist es nicht mehr weit zur antisemitischen Propaganda von den Juden als Gottesmörder.

Interessant ist auch der Schluss des Augsburger Passionsspiels, wo die Publikumsgemeinde zum gemeinsamen Singen des Liedes „Christ ist erstanden“ aufgerufen wird. Dieses bekannte und wohl älteste deutsche Osterlied machte durch den Gemeindegesang die Passionsspielaufführung zu einer Art von Gottesdienst, dessen Popularität nicht zuletzt durch den ostschwäbischen Dialekt des Stückes erhöht wird. Petrus schwätzt Schwäbisch, so könnte man die sprachliche Stoßrichtung des Augsburger Passionsspiels auf den Punkt bringen. Das biblische Geschehen um Kreuzigung und Auferstehung Jesu ist damit auch sprachlich nahe am spätmittelalterlichen Bürger. Und diese Nähe ist umso eindrücklicher, weil die gottesdienstliche Sprache ansonsten ja Latein war. Passionsspiele in der Volkssprache waren somit allgemeinverständlich und konnten im Spätmittelalter die städtischen Massen anziehen.

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