Es war eine glückliche Fügung, durch die ich im Sommer 2017 Johanna Rahner persönlich kennenlernte.
I.
Wir schrieben das Jubiläumsjahr von Martin Luthers 95 Thesen, landläufig auch mit der Kurzformel „Reformationsjubiläum“ versehen. Der evangelische Kirchentag sollte in Berlin stattfinden; der Abschlussgottesdienst war in Wittenberg geplant. Wie es in Kirchentagen und Katholikentagen schon seit langem fester Brauch ist, wollten die Veranstalter deutliche ökumenische Akzente setzen. Zu ihnen gehörte eine Dialogveranstaltung zur ökumenischen Lage, die eine katholische Sprecherin und einen evangelischen Sprecher zusammenführte. Johanna Rahner und ich wurden darum gebeten, diese Aufgabe zu übernehmen. Mit dem Telefongespräch, das wir daraufhin führten, wollten wir uns nicht begnügen. Wir verabredeten uns in Stuttgart, trafen uns zu einem lukullischen Frühstück, entdeckten erste Überschneidungsbereiche in unserer Vorstellung von Ökumene, fragten uns, wie konfessionelle Unterschiede darin ihren Ort fänden, und trennten uns in der Vorfreude auf das Wiedersehen in Berlin.
Bei der Veranstaltung selbst hatte Johanna Rahner ein päpstliches Wort parat, um die Christinnen und Christen aller Konfessionen zu deutlichen ökumenischen Schritten zu ermutigen. Sie zitierte Papst Franziskus: „Wir Kirchen sind berufen, Gewissen zu bilden, nicht aber Gewissen zu ersetzen.“ Und sie verdeutlichte, was für sie das wichtigste Zeichen für ökumenische Gewissensbildung war: In der eucharistischen Gemeinschaft sah sie ein Beispiel für die Freiheit des Gewissens; die konfessionsverbindenden Ehen und Familien sah sie als Vorreiterinnen einer solchen gewissensbestimmten Ökumene an. „Wir Katholiken“, so rief sie in den Saal der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin, „sollten die Protestanten endlich zum Abendmahl einladen.“ Das herzliche Willkommen, das sie aussprach, sollte nach meinem Verständnis freilich auch in der anderen Richtung gelten. Zur Freiheit des Gewissens, so denke ich nach wie vor, gehört es ebenso, dass Katholikinnen und Katholiken beim evangelischen Abendmahl willkommen sind und von dieser Einladung in Freiheit Gebrauch machen können.
Selbstverständlich wurde Johanna Rahner bei dieser Veranstaltung – wie bei vielen Anlässen davor und danach – auf die Frage nach der Zulassung von Frauen zum geistlichen Amt angesprochen. Mutmaßlich war nicht allen Fragestellerinnen bewusst, dass diese Zulassung im evangelischen Bereich nicht viel mehr als ein halbes Jahrhundert alt ist. Manche Teilnehmerinnen und Teilnehmer mögen eher gedacht haben, in der evangelischen Kirche habe es schon immer Pfarrerinnen und Pfarrer gegeben. Johanna Rahner war natürlich bewusst, dass die Frauenordination in der evangelischen Kirche eine relativ kurze Geschichte hat. Sie ließ keinen Zweifel daran, wie dringlich sie auf eine vergleichbare Veränderung in der katholischen Kirche hofft und drängt. Doch machte sie ausdrücklich auf den großen Schritt aufmerksam, zu dem katholische Amtsträger angesichts der langen Verwurzelung des männlichen Priestertums in der kirchlichen Tradition bereit sein müssen. Dass mit diesem Hinweis keine Gleichgültigkeit gegenüber der anstehenden Aufgabe gemeint sein kann, ist in den Debatten und Kontroversen seitdem nicht nur kirchenintern, sondern in aller Öffentlichkeit deutlich geworden. Mit Johanna Rahners mutiger Präsenz kann man bei derartigen Debatten stets rechnen. Gewissensfreiheit und Mut prägen ihre ökumenische Haltung.
Johanna Rahner, so zeigt das Beispiel unserer ersten persönlichen Begegnungen, ist eine Theologin, die ihre großen theologischen Qualitäten praktisch zur Geltung bringt. Die Liste ihrer ökumenisch relevanten Mitgliedschaften ist bemerkenswert. Ich persönlich war ganz besonders dankbar dafür, dass sie bereit war, sich von der Evangelischen Kirche in Deutschland als katholische Theologin in den Wissenschaftlichen Beirat zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017 berufen zu lassen. Die ökumenische Zusammensetzung dieses Gremiums war in sich selbst ein wichtiges Signal. Daneben gehört zu ihren ökumenischen Verpflichtungen die auf langfristige Mitarbeit angelegte Zugehörigkeit zum Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologinnen und Theologen. Der Herausgeberkreis der Ökumenischen Rundschau, der wissenschaftliche Beirat der Europäischen Melanchthon-Akademie und die Societas Oecumenica sind weitere Beispiele für ein intensives ökumenisches Engagement. Darüber hinaus will ich ganz besonders ihre Mitgliedschaft im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken erwähnen, das, wie wir alle wissen, für die Präsenz christlichen Engagements in unserer Gesellschaft von besonderer Bedeutung ist. Über solche Gremienarbeit hinaus zeigt sich ihre ökumenische Leidenschaft in der Bereitschaft, fragende Christinnen und Christen in ihrem Wunsch nach ökumenischer Gemeinschaft zu unterstützen, sie dafür mit guten theologischen Argumenten auszustatten und auf ihrem Weg zu ermutigen.
II.
Mit Absicht habe ich das große praktische Engagement von Johanna Rahner an den Beginn meiner Laudatio gestellt. Doch ihr vielfältiger ökumenischer Einsatz ist auf beeindruckende Weise wissenschaftlich untermauert. Johanna Rahner gehört zu den akademischen Theologinnen und Theologen, die den Schwerpunkt ihrer wissenschaftlichen Arbeit zunächst nicht in die systematischen Disziplinen der Theologie legen, sondern ihre theologische Arbeit zunächst auf einem Fundament exegetischer oder historischer Art aufbauen. Am Beginn von Johanna Rahners wissenschaftlichen Arbeiten steht eine Dissertation, die einem Schlüsselthema der neutestamentlichen Theologie gewidmet ist, nämlich der Offenbarung Gottes in Jesus von Nazareth. Sie untersucht diese Frage nicht, wie es häufiger geschieht, an den sogenannten synoptischen Evangelien Matthäus, Markus und Lukas, sondern am Evangelium des Johannes, das im Vergleich zu den sogenannten synoptischen Evangelien einen sehr eigenständigen Weg zur Veranschaulichung der Heilsbedeutung Jesu Christi wählt, wie jede Leserin und jeder Leser von den ersten Worten, dem Prolog dieses Evangeliums an spürt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“
Dem zentralen biblischen Thema ihrer Dissertation tritt eine historische und systematische Arbeit von ähnlich elementarer Bedeutung zur Seite, mit der Johanna Rahner für die systematische und zugleich ökumenische Ausrichtung ihres Denkens und Lehrens eine beeindruckende Grundlage schuf. Diese wurde als Habilitationsvorhaben von Jürgen Werbick in Münster begleitet. Das Thema könnte kaum zentraler sein: eine rechtfertigungstheologische Überprüfung des katholischen Kirchenverständnisses. In dieser Aufgabenstellung steckt ein ökumenischer Impuls, der das Herz des evangelischen Theologen höherschlagen lässt. Dokumente aus dem theologischen Dialog zwischen der römisch- katholischen Kirche und den lutherischen Kirchen werden zum Ausgangspunkt dafür genommen, das Verhältnis zwischen der Rechtfertigung allein aus Gnade und dem theologischen Verständnis der Kirche vor Augen zu stellen: Creatura Evangelii – Geschöpf des Evangeliums, heißt der Titel dieser grundlegenden Monographie. Ekklesiologische Impulse der Reformation werden mit einer Spurensuche in der römisch-katholischen Tradition konfrontiert. Martin Luther, Philipp Melanchthon und Johannes Calvin repräsentieren in diesem Buch das reformatorische Kirchenverständnis, die Spurensuche in der Römisch-Katholischen Tradition reicht von der Gegenreformation über Bellarmin und Johann Adam Möhler bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil.
In der Beschäftigung mit dem Kirchenverständnis des Zweiten Vaticanums gewinnt die Frage entscheidende Bedeutung, wie sich das Bekenntnis zur Heiligkeit der Kirche dazu verhält, dass die Kirche nicht nur eine Kirche der Sünder, sondern zugleich auch selbst eine sündige Kirche ist. Die bahnbrechenden Überlegungen, die Karl Rahner – mit dem Johanna Rahner weitläufig, also über sieben Ecken verwandt ist – zu diesem Thema in der Zeit des Zweiten Vaticanums angestellt hat, sind in diesem Buch sehr präsent. Bis in die Fußnoten hinein vergegenwärtigt Johanna Rahner die grundlegende Einsicht Karl Rahners und weist zugleich auf die „innere Nähe zu einer reformatorischen, dem Rechtfertigungsglauben entspringenden Sicht der Kirche“ hin. Zusammenfassend verdeutlicht sie das in einer Fußnote mit folgenden Worten: „Diese Kirche, die Heilige und Sünderin zugleich ist, ist die konkrete Kirche, an deren Mündigkeit man sich reiben kann, sie beklagen, an ihr leiden kann. In ihr (so wird Karl Rahner zitiert) ‚bleibend reinlich scheiden zu wollen zwischen dem Göttlichen und dem Menschlich-allzumenschlichen‘ ist ‚Wahn und Schwärmerei‘“ (Johanna Rahner, Creatura Evangelii, 327, Anm. 270).
In meinen Augen sind diese Überlegungen von Karl wie von Johanna Rahner für das Selbstverständnis jeder Kirche, aber ebenso auch für das ökumenische Miteinander der Kirchen von herausragender Bedeutung. Die Rahnersche These von der konkreten Kirche, die Heilige und Sünderin zugleich ist, trifft sich in überraschender Dichte mit der theologischen Haltung, die in einem 1940 von Dietrich Bonhoeffer formulierten Schuldbekenntnis der Kirche ihren Niederschlag gefunden hat. Aber nicht nur deshalb erscheint mir die selbstkritische Einsicht in den Doppelcharakter der Kirche als Heilige und Sünderin zugleich heute von zentraler ökumenischer Bedeutung zu sein. Nur auf dem Weg der Selbstkritik und der Umkehr können unsere Kirchen den Weg aus der Kirchendämmerung herausfinden, von der sie gerade in unserem Land – bei allen Unterschieden im einzelnen – gemeinsam betroffen sind.
III.
Für einen solchen Weg der Selbstkritik und der Umkehr ist der Beitrag guter Theologie unentbehrlich. So sehr dieser auf ausgewiesene akademische Leistungen angewiesen ist, so sehr muss er darüber hinausweisen. In einer Zeit, in der die öffentliche Resonanz der Kirchen fragil geworden ist, wird es umso wichtiger, dass gute Theologie resonanzfähig wird und die Öffentlichkeit erreicht. Johanna Rahner bezieht in ihre Forschungsschwerpunkte ganz bewusst Themen ein, die auf solche öffentlichen Dialoge angelegt sind. Das Verhältnis von Religion, Kultur und Bildungsprozessen, aber auch ihr Verhältnis zu Politik und Gesellschaft gehört ebenso dazu, wie die theoretische Grundlegung und praktische Bedeutung des Dialogs der Weltreligionen im Horizont einer globalisierten Welt. Patchwork-Religiosität und subjektiver Glaubenspluralismus treten genauso in den Blick wie die Religiosität von Kindern und Jugendlichen unter besonderer Berücksichtigung der Jugend- und Kultliteratur sowie der Popmusik. Diese kühne Erschließung neuer Fragestellungen für die Theologie verbindet sich mit Publikationen zu klassischen Grundfragen der Theologie, die für Studierende zugänglich sind und deren theologische Kenntnisse wie ihre eigenständige Urteilsfähigkeit zu fördern vermögen. Johanna Rahner eignet ein unverkennbarer pädagogischer Impetus.
Als sie sich zum Studium der Theologie entschloss, verband sie das mit dem Studium der Biologie. Die Absicht, sich mit dieser Doppelqualifikation auf das Lehramt vorzubereiten, war augenfällig. Ihre theologische Kompetenz führte dazu, dass sie von Anfang an als Dozentin der Theologie tätig wurde, im Jahr 1990 in der Freiburger Fachakademie für Pastoral- und Religionspädagogik beginnend, woran sich schon bald universitäre Aufgaben in Köln, Freiburg, Münster, Karlsruhe, Bamberg und Kassel anschlossen. Im Jahr 2013 wurde sie auf den Lehrstuhl für Dogmatik, Dogmengeschichte und Ökumenische Theologie an der Universität Tübingen berufen. Die intensive akademische Lehrtätigkeit fand in ihren Publikationen darin einen besonderen Niederschlag, dass sie eine Reihe von theologischen Lehrbüchern veröffentlichte, die sich von anderen Beispielen dieses Genres dadurch unterscheiden, dass sie methodisch wirklich auf den Prozess des Lehrens und Lernens ausgerichtet sind. Das unterscheidet diese Arbeiten angenehm von Lehrbüchern, die stärker an den Lesegewohnheiten der Autoren als der Rezipienten orientiert sind. Die Einführung in die katholische Dogmatik sowie die Einführung in die christliche Eschatologie sowie ein Buch über die Sakramentenlehre sind dafür von exemplarischer Bedeutung. Die ökumenische Absicht dieser Arbeit an den Grundfragen der Dogmatik hat Johanna Rahner in einem Interview mit Evelyn Finger für die ZEIT lapidar erklärt: „Ich möchte die klassische Dogmatik nach außen hin öffnen; interkonfessionell und interreligiös, aber auch im Angesicht von Nicht-Glaubenden und Zweiflern.“
Diese Intention spiegelt sich in einer Vielzahl von Aufsätzen und Buchbeiträgen. Welche Bedeutung ihr in diesem Feld zuerkannt wird, zeigt sich ganz besonders darin, dass sie seit 2019 gemeinsam mit Thomas Söding die Buchreihe Quaestiones disputatae – „diskussionswürdige Fragen“ herausgibt – eine einzigartige Buchreihe für alle Gebiete der Theologie, die es seit ihrer Begründung im Jahr 1958 auf die stattliche Zahl von 332 Bänden gebracht hat. Auch in diesem Zusammenhang ist Johanna Rahner übrigens über sieben Ecken mit Karl Rahner „verwandt“. Er war mit Heinrich Schlier zusammen der erste Herausgeber, Johanna Rahner ist neben Thomas Söding – sie werden es schon ahnen – die siebte Herausgeberpersönlichkeit dieses grandiosen theologischen Experimentierfelds. Markant sind die Themen, mit denen sie sich als Herausgeberin sogleich zu erkennen gegeben hat: die Synodalität in der katholischen Kirche und die aktuelle Debatte um die Zulassung von Frauen zum priesterlichen Amt, das letztere unter dem bemerkenswerten Titel: Christusrepräsentanz.
IV.
Johanna Rahners wichtigste institutionelle Verantwortung für die Zukunft der Ökumene habe ich für den Schluss aufbewahrt. Seit dem Sommersemester 2014 ist sie in der Nachfolge von Bernd Jochen Hilberath Professorin für Dogmatik, Dogmengeschichte und ökumenische Theologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und leitet das von Hans Küng gegründete Institut für Ökumenische und Interreligiöse Forschung. Es charakterisiert seine Aufgabe unter den vier Leitbegriffen: Beobachten – Bedenken – Beraten – Bewegen.
Am 11. Juli 2014, also noch in dem Semester, in dem sie ihre Tübinger Professur angetreten hatte, hielt Johanna Rahner ihre Antrittsvorlesung. Sie konnte auf diese Weise ihren Neubeginn in eine Ringvorlesung einfügen, die den Titel trug: Damit sie alle eins seien. Programmatik und Zukunft der Ökumene und von den drei bisherigen Direktoren des Tübinger Instituts Hans Küng, Bernd Jochen Hilberath sowie Johanna Rahner selbst herausgegeben wurde. Ihrem eigenen Beitrag gab sie den Titel Zum Fortgang der Ökumene. Ein besonderes Aufheben machte sie um diese Überschrift nicht. Dabei stammte sie, wie sie im Fortgang ihrer Vorlesung erwähnte, vom damaligen Kardinal Joseph Ratzinger, der einen Brief an den Moderator eines Hefts der Tübinger Theologischen Quartalsschrift, den Fundamentaltheologen Max Seckler, mit dieser Überschrift versehen hatte. Ratzinger sah die aktivistischen Formen zeitgenössischer Ökumene vor der Gefahr, die Verbindung zu dem ihnen selbst Unverfügbaren zu verlieren. Demgegenüber beharrte er darauf, dass die „Einheit selbst“ nicht durch eine „Verhandlungsökumene“ herbeigeführt werden könne. Denn „auch wenn Spaltungen zuallererst menschliches Werk und menschliche Schuld sind, so gibt es in ihnen doch auch eine Dimension, die einem göttlichen Verfügen entspricht.“ Und er fügte hinzu: „Wann es aber so weit ist, dass wir dieses Spalts nicht mehr bedürfen und dass das ‚Muss‘ wegfällt, das entscheidet der richtende und vergebende Gott ganz allein.“ Das aber bedeutet, wie Ratzinger selber einräumt, „durch Verschiedenheit Einheit zu finden“, sodass am Ende die Spaltung nur noch „Polarität“ ohne Widerspruch ist. Allerdings reicht es nicht anzunehmen, dass Spaltung dann erträglich ist, wenn ihr „das Gift der Feindseligkeit“ entzogen ist. Vielmehr kann man über die Pluralität zwischen den Konfessionen nicht reden, ohne die Pluralität in den verschiedenen Kirchen selbst wahrzunehmen. Mit Nachdruck vertritt Johanna Rahner die Pluralität im Eigenen als eine der Stärken des Katholizismus.
Diese Pluralität tritt umso deutlicher ins Licht, wenn man Katholizität nicht nur vom Lehramt oder von der priesterlichen Verantwortung her versteht, sondern den eigenverantwortlichen Glaubenssinn aller Christen in den Blick nimmt, also das, was die reformatorische Tradition auf den Begriff des Priestertums aller Getauften gebracht hat. Nach meinem Verständnis müsste es auf einem solchen Weg möglich sein, über den Stillstand in der wechselseitigen Anerkennung der Ämter – und damit auch in der wechselseitigen Anerkennung des Kircheseins der ökumenischen Partner – hinauszukommen. Das sind Themen, die vergleichbar dringlich sind, wie der von Johanna Rahner so nachdrücklich geforderte Zugang von Frauen zum priesterlichen Amt.
Auf dem Weg dahin ist es erforderlich, in bestehenden Unterschieden nicht einfach unüberwindliche Gegensätze zu sehen, sondern sie als komplementär zu begreifen. In diesem Sinn schlägt Johanna Rahner im Anschluss an Wolfgang Klausnitzer eine komplementäre ökumenische Methodologie vor. Freilich muss man dafür den Begriff der Komplementarität in einem weiteren Sinn verstehen, als dies vor bald einhundert Jahren von dem Physiker Niels Bohr vorgeschlagen wurde. Bei ihm bezeichnete Komplementarität unterschiedliche Möglichkeiten, dasselbe Objekt als verschiedenes zu erfahren und zu beschreiben. Weiter reicht eine Charakterisierung, die Klaus-Michael Meyer-Abich folgendermaßen formuliert hat: „Komplementäre Erkenntnisse gehören zusammen, insofern sie Erkenntnis desselben Objekts sind; sie schließen einander jedoch insofern aus, als sie nicht zugleich und für denselben Zeitpunkt erfolgen können.“ Liebe und Gerechtigkeit, die Begriffsbildungen für eine als leblos gedachte Natur und die Gesetzmäßigkeiten des Lebens; die neurologische Überwachung von Gehirnvorgängen und das Bewusstsein des freien Willens sind Beispiele für solche Komplementaritäten.
Es scheint mir kein Zweifel daran zu bestehen, dass die Theologie es schon immer und auf intensive Weise mit solchen Komplementaritäten zu tun hat. Zu ihnen gehören beispielsweise die Offenbarung und Verborgenheit Gottes oder die Heiligkeit und Sündhaftigkeit der Kirche, aber auch die Einheit der Kirche in der Pluralität der Kirchen sind für unseren Zusammenhang ausdrücklich zu nennen. Ich sehe im Nachdenken über theologische Komplementaritäten einen verheißungsvollen Ansatz für eine ökumenische Theologie, die Pluralität in erster Linie nicht als Bedrohung, sondern als Einladung dazu sieht, die Einheit des christlichen Glaubens in der Vielfalt seiner Erscheinungsformen zu erkennen. Johanna Rahner hat zu einer komplementären Form ökumenischer Theologie und Praxis Wichtiges beigetragen. Und sie wird, so hoffen gewiss mit mir viele, dies auch weiterhin tun. Sie ist eine unerschrockene Stimme für ein zeitgemäßes Christentum. Dafür ist der Ökumenische Preis der Katholischen Akademie in Bayern Dank und Ansporn zugleich.