Putin, der Krieg und die Kirchen

Zur religiösen Dimension des Angriffs auf die Ukraine

Im Rahmen der Veranstaltung Neue Weltordnung?, 12.09.2022

© NurPhoto / IMAGO

Lassen Sie mich den Vortrag mit einem Zitat aus einer Rede Präsident Putins beginnen: „Ich betone nochmals: Die Ukraine ist für uns nicht einfach ein Nachbarland. Sie ist integraler Bestandteil unserer eigenen Geschichte, unserer Kultur, unseres geistigen Raums. Es geht um unsere Leute, um Menschen, die uns nahestehen, unter ihnen sind nicht nur Kollegen, Freunde, Menschen, mit denen wir gemeinsam gedient haben, sondern auch Verwandte, wir sind mit Ihnen über Bluts- und Familienbande verwoben. Seit jeher nannten sich die Bewohner der südöstlichen, historischen altrussischen Lande Russen und Orthodoxe. So war es vor dem 17. Jahrhundert, als sich ein Teil dieser Gebiete wieder mit dem Russländischen Staat vereinte, und so blieb es danach. […] Auch die Abrechnung mit der ukrainisch-orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats geht weiter. Das ist keine emotionale Bewertung, davon zeugen konkrete Beschlüsse und Dokumente. Die ukrainischen Machthaber haben die Tragödie der Kirchenspaltung in zynischer Weise zu einem Instrument staatlicher Politik gemacht. Die Bitten von Bürgern der Ukraine, die Gesetze zurückzunehmen, welche die Rechte der Gläubigen verletzen, werden von der Führung des Landes ignoriert. Mehr noch, in der Verchovna Rada (dem ukrainischen Parlament) liegen bereits neue Gesetzesvorhaben, die sich gegen den Klerus und die Millionen von Gläubigen der Ukrainischen Orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchat richten.“ (https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/putin-rede-21.2.2022).

In den letzten Jahren haben sich der russische Präsident sowie etliche Vertreter seiner Regierung mehrmals sowohl über die vermeintliche Einheit der russischen Welt, als auch über die angebliche Diskriminierung der mit dem Moskauer Patriarchat damals noch klar verbundenen Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) geäußert. Die Rede Wladimir Putins an die Nation, die ich am Anfang zitiert habe, gehörte allerdings nicht zu den üblichen Ansprachen. Der mächtige Mann im Kreml wollte diesmal die Gründe zusammenfassen, die seiner Ansicht nach eine militärische Intervention in der Ukraine rechtfertigen.

In seiner langen Rede entwarf er sogar einen kulturgeschichtlichen Rahmen, um seinen Krieg theoretisch zu untermauern. Dürfen aber ein durchaus fragwürdiges Narrativ von der Einheit zwischen Russen und Ukrainern sowie die vermeintliche Sorge um Religionsfreiheit als Rechtfertigung einer mörderischen Aggression dienen? Inwieweit erkennt man in den Worten Putins Ansichten und Sorgen der russischen Orthodoxie? Inwieweit wird diese Kirche von einem Diktator instrumentalisiert oder vielmehr, inwieweit lässt sie sich selber vom Kreml instrumentalisieren?

Sowohl die oben zitierte Rede Putins als auch spätere Entwicklungen machen deutlich, dass man die Religion im Allgemeinen und die orthodoxe Kirche im Besonderen im Gesamtkontext des Krieges nicht übersehen darf. Ostkirchliche Narrativen und Spannungen stellen zwar keinesfalls den einzigen Schlüssel zum Verständnis des Konflikts dar; sie tragen allerdings zur differenzierten Wahrnehmung des ukrainisches Kriegsdramas und seiner Hintergründe bei.

Die religiöse Landschaft der Ukraine

Um die 70 Prozent der Ukrainer gehören dem orthodoxen Christentum an, das grundsätzlich in zwei Kirchen gelebt wird. Es gibt die unabhängige, in der Sprache der Orthodoxie autokephale, Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU). Ihr Oberhaupt ist Metropolit Epiphanij Dumenko. Diese Kirche steht Russland und der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) äußerst kritisch gegenüber und betont die Eigenständigkeit der ukrainischen Nation. Sie entstand in ihrer heutigen Struktur erst 2018, nachdem der Ökumenische Patriarch Bartholomaios I. von Konstantinopel, das Ehrenoberhaupt der Orthodoxie, ein Konzil in Kyiv zur Heilung des langjährigen Schismas in der ukrainischen Orthodoxie und zur Entstehung einer selbstständigen, alle Orthodoxen in der Ukraine vereinenden Kirche einberufen hatte.

Die große Mehrheit der Bischöfe und Mitglieder der OKU stammt aus kirchlichen Strukturen, die bis zum genannten Zeitpunkt als schismatisch galten. Die Anerkennung der OKU als legitimes, gleichberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft der orthodoxen Kirchen erweist sich als schwierig. Inzwischen besteht jedoch volle Gemeinschaft mit den Kirchen von Konstantinopel, Alexandrien, Zypern und Griechenland. Andere orthodoxe Kirchen verhalten sich zurückhaltend; etliche lehnen jeden Kontakt ab.

Zum anderen gibt es die ebenfalls stark vertretene Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) mit Metropolit Onufrij Beresowskyj als Oberhaupt. Von dieser Kirche sprach Putin in seiner oben zitierten Rede. Die UOK galt lange als autonome Kirche des Moskauer Patriarchats; bis Mai 2022 war ihr Oberhaupt Mitglied der Synode der ROK. Auch wenn die UOK das Ausmaß ihrer Abhängigkeit von der ROK relativierte, war ihr enges Verhältnis evident. Bis zum Beginn des Krieges hob UOK die geistige Einheit zwischen Russen und Ukrainern stark hervor. Sie steht dem Westen und der Ökumene immer noch kritisch gegenüber und versteht sich als die einzige legitime Ausdrucksform der Orthodoxie in der Ukraine. Sie betrachtet die OKU als schismatisch. Die OKU scheint deutlich größer, was die Anzahl der Gläubigen betrifft. Die UOK hingegen verfügt über mehr Bischöfe und Gemeinden.

Das Verhältnis zwischen OKU und UOK gilt weiterhin als spannungsreich. Bis Kriegsbeginn gab es kontroverse Diskussionen um das Dilemma: Kirchliche Unabhängigkeit oder doch eine gewisse Verbindung zur ROK? Die Argumente für die eine oder die andere Option spiegeln mehr oder weniger die vorherrschenden unterschiedlichen ideologischen Richtungen im Land wider: Eigenständig-national und vielleicht pro-westlich oder doch Teil der „russischen Welt“? Freilich konnte die Diskussion schon damals sehr emotional und kontraproduktiv werden. Stehen auf der einen Seite „hemmungslose Schismatiker“, während auf der anderen Seite „Agenten Russlands“ die religiöse Landschaft der Ukraine bestimmen wollten? Nicht selten wurde so argumentiert.

Ukrainischen Bestrebungen nach einer unabhängigen, d. h. autokephalen Kirche sind jedenfalls nichts Neues. Diese sind immer wieder auf Widerstand der ROK gestoßen, die die Einheit von Russen, Weißrussen und Ukrainern auf Basis eines postulierten gemeinsamen Ursprungs proklamiert, die auf die „Taufe der Kiewer Rus“ zurückzuführen sei. Die neue autokephale Kirche, die OKU, hat ihren Unabhängigkeitsstatus vom Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel erhalten. Die ROK stellt jedoch die Konstantinopler Befugnisse in der Ukraine (und darüber hinaus) in Frage, nimmt die Ukraine immer noch als eigenes Jurisdiktionsgebiet wahr und befürchtet, dass eine selbstständige Kirche zu einer Infragestellung der bereits erwähnten Einheit der „Brüdervölker“ führen könnte.

Rund sechs Prozent der ukrainischen Bevölkerung gehört der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche (UGKK) an, die zwar dem byzantinischen Ritus folgt, aber in Einheit mit der Römisch-Katholischen Kirche steht. Diese wird stärker in der Westukraine vertreten. Ihr Oberhaupt ist der Großerzbischof Swiatoslaw Schewtschuk. Ihre Entstehungsgeschichte muss man ebenfalls in den Gesamtkontext der Fragen nach der ukrainischen Identität und dem Verhältnis zu Russland einordnen.

OKU, UOK und UGKK führen ihre Entstehungsgeschichte zwar alle auf die „Taufe der Kiewer Rus“ im zehnten Jahrhundert zurück, verwenden jedoch unterschiedliche Hermeneutiken zur Deutung der Geschichte. Auch wenn das Trennende nicht unterschätzt werden darf, haben diese drei Kirchen sowohl in ihrer Theologie als auch in ihrer liturgischen Praxis viel Gemeinsames. Gerade vor diesem Hintergrund sind die Spaltungen besonders bedauerlich.

In der Ukraine sind darüber hinaus die Römisch-Katholische, die Evangelisch-Lutherische und die Armenisch-Apostolische Kirche sowie mehrere freikirchliche und weitere Religionsgemeinschaften vertreten, zahlenmäßig sind sie jedoch klein. Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der Allukrainische Rat der Kirchen und der Religionsgemeinschaften, eine Plattform, die die konfessionelle und religiöse Vielfalt der Ukraine repräsentiert und die dem Austausch der verschiedenen religiösen Traditionen des Landes dient.

Die Kirchen in der Ukraine und der Krieg

Als der Krieg begann, verurteilte Metropolit Epiphanij, Oberhaupt der OKU, erwartungsgemäß den Krieg aufs Schärfste. Er sprach vom „zynischen Angriff“ Russlands, forderte Sanktionen gegen den Aggressor und gab dem Moskauer Patriarchen als ideologische Stütze Putins eine Mitverantwortung. Er ließ keinen Zweifel an der vollen Unterstützung der OKU für die ukrainische Armee, die das Vaterland verteidigt. Mehrfach besuchte Metropolit Epiphanij bombardierte Städte und Orte wie Butscha, an denen Kriegsverbrechen verübt wurden. Gleichzeitig lud er regelmäßig Bischöfe, Priester und Gläubige der UOK zum Kirchenwechsel in die OKU ein. „Unsere Türen sind offen“, sagte er. Die Synode der OKU verabschiedete Sonderregeln, die diesen Wechsel kirchenrechtlich erleichtern.

Die UOK hingegen hat vor dem Krieg gewisse Aspekte des Narrativs von Wladimir Putin vertreten. Viele ihrer Repräsentanten und Mitglieder betonten die Einheit zwischen Ukrainern und Russen, prangerten den Westen an, klagten über die vermeintlich vielen Neonazis im Land und sprachen von großen Diskriminierungen ihrer Gläubigen. Gegenüber den russischen Aggressionen der letzten Jahre verhielt sich die UOK lange zurückhaltend; man denke nur an ihre Haltung zur Annexion der Krim. Auch in den letzten Wochen vor Beginn des Ukrainekrieges hielt sich die Leitung insgesamt zurück ­beziehungsweise zog es vor, sich auf allgemeine Gebete für den Frieden zu beschränken.

Metropolit Onufrij, Primas der UOK, hat erst deutliche Worte gefunden, nachdem russische Panzer auf ukrainischem Boden einrollten. Auch wenn seine Stellungnahme spät kam, ist sie dennoch als mutig einzustufen. Putins Instrumentalisierung der UOK zur Rechtfertigung des Krieges wollte er dann doch nicht zulassen. „Der Krieg zwischen diesen Völkern ist eine Wiederholung der Sünde Kains, der seinen eigenen Bruder aus Eifersucht tötete“, schrieb er am 24. Februar 2022. Einige Tage später stärkte die Synode der UOK die Aussagen ihres Primas, indem sie ihre Unterstützung zum Erhalt der staatlichen Souveränität und territorialer Integrität der Ukraine bekundete.

Viele Kleriker der UOK haben den Eindruck, dass ihre Kirche von Moskau nicht nur im Stich gelassen, sondern wirklich verraten wurde. Einige Bischöfe haben relativ früh aufgehört, Patriarch Kyrill in der Liturgie zu kommemorieren. Einzelpersonen, ganze Gemeinden, sogar Klöster wechselten zur OKU. Im April 2022 haben fast vierhundert ukrainische Kleriker der UOK in einer Erklärung bekundet, dass es ihnen unmöglich sei, in kanonischer Gemeinschaft mit dem Patriarchen Kyrill von Moskau zu stehen. Sie forderten sogar eine Verurteilung Kyrills wegen Häresie.

Mitten im Krieg ist es schwierig, die wahre Dynamik solcher Entwicklungen einzuschätzen. Zentrifugale Kräfte erleben immer auch Widerstand und Drohungen. Nur eines ist sicher: Die russischen Bomben treffen auch Gotteshäuser der UOK. Auch Kleriker dieser Kirche haben bei den Angriffen ihr Leben verloren.

Die UOK stand und steht weiterhin wegen ihrer Verbindung zu Moskau unter massivem Druck; sie befindet sich daher auf der Suche nach einem neuen, in der angegriffenen Ukraine vertretbaren Narrativ. Am 27. Mai 2022 beschloss ein im Eilverfahren einberufenes Landeskonzil der UOK Änderungen im Statut, die ihre Unabhängigkeit von Moskau deutlich machen sollte. Und schon seit dem 29. Mai agiert Metropolit Onufrij auf liturgischer Ebene wie ein Oberhaupt einer autokephalen Kirche. Die UOK hat zwar in ihren Beschlüssen den Begriff „Autokephalie“ durchgehend vermieden, de facto handelt es sich aber um eine selbsterklärte Autokephalie, die daher die UOK in eine kirchenrechtliche Grauzone bringt.

Das Oberhaupt der UGKK, Großerzbischof Swiatoslaw Schewtschuk, verurteilte von Anfang an den Krieg in aller Deutlichkeit. Als er bei einer Videokonferenz nicht lange nach Kriegsbeginn die Lage beschrieb, konnte er seine Tränen nicht zurückhalten: „Ich habe gelesen, dass einige Leute gesagt haben, ich hätte mich in einem Bunker versteckt. Das bringt mich zum Lachen, denn wir haben keinen Bunker“, sagte der Erzbischof und fügte hinzu, dass vielleicht einige Politiker einen Bunker haben. „Ich habe nur meine Kathedrale mit einer Krypta.“ Am Tag der Invasion haben der Erzbischof und seine Priester nach Wegen gesucht wie sie konkret helfen können. Einige Brücken der Stadt waren geschlossen und viele Menschen, die versuchten, die Stadt zu verlassen, saßen fest. Sie fanden Schutz in seiner Kathedrale. „Wir haben fast 500 Menschen mit nichts in den Händen empfangen“, sagte er.

Orthodoxe und ökumenische Stimmen zum Krieg

Wie haben die orthodoxen Kirchen in der ganzen Welt auf den Krieg reagiert? Alle sind sich darüber einig, dass ein Krieg kein akzeptables Mittel zur Konfliktlösung sein kann. Alle betonen die Notwendigkeit des Gebets gerade in diesen finsteren Zeiten. Mehrere haben finanzielle oder materielle Unterstützung für die Ukrainer zugesagt. Die verschiedenen orthodoxen Kirchen unterscheiden sich allerdings in ihrer Bereitschaft, Russland klar als Aggressor zu benennen. Das Ökumenische Patriarchat, die Kirchen von Alexandrien, Zypern und Griechenland, auch Rumänien, bzw. ihre Oberhäupter, haben dies getan.

Die Kirchen, die Russland näherstehen, wie Antiochien und Serbien, waren diesbezüglich zurückhaltender und blieben bei abstrakten Bekundungen. Oberhäupter bestimmter Russland-naher Kirchen äußerten zwar generelle Kritik am Krieg, ließen aber keine Gelegenheit aus, Patriarch Kyrill von Moskau zu diversen Anlässen zu gratulieren und dadurch eine gewisse Nähe zu ihm zu demonstrieren.

Ein starkes Zeichen lieferte der Ökumenische Patriarch. Er besuchte auf Einladung des polnischen Präsidenten, Andrzej Duda, und des Oberhaupts der Orthodoxen Kirche von Polen, Metropolit Sawa von Warschau, unmittelbar nach Kriegsbeginn ukrainische Flüchtlinge in Polen. Ihm war es wichtig, die Solidarität der Orthodoxen Kirche mit den Vertriebenen und Flüchtlingen zu zeigen. Seitdem hat Bartholomaios I. mehrmals ukrainische Delegationen empfangen, den Krieg verurteilt und die Haltung der Leitung der ROK heftig kritisiert.

In Großteilen der übrigen christlichen Welt war eine scharfe namentliche Verurteilung Russlands als Aggressors die Regel. Papst Franziskus vermied zwar aus diplomatischen Gründen eine konkrete Namensnennung, hat aber seine Sorge um und seine Unterstützung für die Ukraine deutlich signalisiert.

Fassungslosigkeit und Empörung über die Haltung des russischen Patriarchen bestimmen die Reaktionen in der Ökumene. Mehrere bedeutende Einzelpersonen und Gremien haben an Patriarch Kyrill appelliert, seinen Einfluss auf Putin geltend zu machen, um den Krieg schnellst möglich zu beenden. Einer der ersten war der Münchner Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, ebenso wie der bis Ende 2022 geschäftsführende Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), Ioan Sauca, übrigens ein rumänisch-orthodoxer Priester, der Anfang März 2022 Kyrill aufforderte: „Erheben Sie Ihre Stimme, damit der Krieg beendet werden kann“.

Die Haltung des russischen Patriarchen

Das anfängliche Schweigen und die abstrakten Friedensgebete zu Kriegsbeginn ließen hoffen, dass sich der russische Patriarch Kyrill von Putin distanziert. Leider war das nicht der Fall. Bereits in den ersten Kriegsmonaten rechtfertigte Patriarch Kyrill in seinen Sonntagspredigten das Handeln Putins. Am 27. Februar 2022 bezeichnete er die Gegner Russlands als „Kräfte des Bösen“. Eine Woche später sprach er von einem „metaphysischen“ Kampf, attackierte den Westen und dessen Werte und machte von unmissverständlich homophoben Parolen Gebrauch.

Am 13. März überreichte der Patriarch demonstrativ einem der obersten Generäle der russischen Armee eine Ikone der Muttergottes. Seine Solidarisierung mit den russischen Streitkräften brachte er auch am 27. März zum Ausdruck als er die Liturgie in der neu erbauten Hauptkathedrale der Streitkräfte Russlands zelebrierte. Diese Kathedrale, nicht mal drei Jahre alt, bringt visuell die verklärende Ideologisierung der russischen Geschichte und die Kampfnarrative Putins zum Ausdruck.

Kyrill würdigte die russischen Soldaten, „die ihr Leben der Verteidigung des Vaterlandes widmen“. Der Patriarch betonte: „Wir sind ein friedliebendes Land und ein sehr friedliebendes, leidgeprüftes Volk. Wir haben kein Verlangen nach Krieg, aber wir sind durch unsere gesamte Geschichte so erzogen worden, dass wir unser Vaterland lieben und bereit sind, es so zu verteidigen, wie nur Russen ihr Land verteidigen können.“ Im April 2022 rief er zur Unterstützung des russischen Staates auf und ergänzte: Dies trage zur „wahren Solidarität“ und zur Abwehr von „inneren und äußeren Feinden“ bei. Daraus werde „so viel Gutes, so viel Wahrheit und so viel Liebe wie möglich“ entstehen.

Für Patriarch Kyrill geht es um einen Kulturkampf, der auf bösen Absichten des Westens basiert. Seiner Auffassung nach ist die Intervention russischer Kräfte berechtigt, weil sie die Einheit von Russen und Ukrainern verteidigt, die durch Kräfte des „dekadenten“ Westens gefährdet ist. Er räumt zwar ein, dass auch die Ukrainer zu seinem Kirchenvolk zählen, aber sein Gebet und sein Lob gelten nur den russischen Soldaten. Der Patriarch denkt paternalistisch und manichäisch.

Im Oktober 2022 erklärte Kyrill, dass russischen Soldaten, die in der Ukraine ihr Leben ließen, alle Sünden vergeben sind. Das Sterben „bei der Erfüllung militärischer Pflichten“ verglich er damit, dass Gott seinen Sohn Jesus geopfert hat. Laut Patriarch Kyrill vertritt die russisch-orthodoxe Kirche die generelle Ansicht, dass Menschen, die bei der Erfüllung militärischer Pflichten sterben, ein Opfer für andere bringen. „Und deshalb glauben wir, dass dieses Opfer alle Sünden abwäscht, die ein Mensch begangen hat“.

Anlässlich des 70. Geburtstags von Wladimir Putin gratulierte der russische Patriarch mit den Worten: „Durch jahrelange unermüdliche Arbeit in Schlüsselpositionen des Staates haben Sie sich den Ruf eines nationalen Führers erworben, der dem Vaterland selbstlos ergeben ist, es aufrichtig liebt und ihm seine ganze Kraft, seine Fähigkeiten und sein Talent zur Verfügung stellt.“ Gott habe Putin mit Machtbefugnissen ausgestattet, damit er einen Dienst von besonderer Tragweite für das Schicksal des Landes und des Volkes leisten könne.

Der Unmut in der christlichen Welt über diese Haltung ist deutlich. Prominente Stimmen wie die des früheren Erzbischofs von Canterbury, Rowan Williams, ein Kenner der russischen Theologie, gingen soweit, die Frage nach einem Ausschluss der ROK aus dem ÖRK zu stellen. Hier sei angemerkt, dass Patriarch Kyrill nicht mit der Russischen Orthodoxie gleich zusetzen ist. Auch innerhalb der UOK gibt es Stimmen, die sich deutlich gegen die Invasion Russlands positionierten und anschließend die Konsequenzen zu spüren bekamen.

Ergänzend sei noch angemerkt, dass es in der russisch-orthodoxen Kirche aber kaum Möglichkeiten zur freien Meinungsäußerung gibt. Dies zeigt das Beispiel Weißrusslands: Nach den
manipulierten Wahlen von August 2020, die Diktator Lukaschenko vermeintlich gewonnen hat, folgten Massenkundgebungen im ganzen Land, die brutal niedergeschlagen wurden. Metropolit Pawel, Oberhaupt der belarussisch-­orthodoxen Kirche, der dieses Vorgehen anprangerte, wurde abberufen, nach Russland strafversetzt und durch einen linientreuen Nachfolger ersetzt.

Die Erklärung zur Lehre von der Russischen Welt, der Ruskij Mir

Und wie reagiert die Welt der orthodoxen Theologen auf Kyrill und den Krieg in der Ukraine? Am 13. März 2022, Sonntag der Orthodoxie, wurde eine „Erklärung zur Lehre von der Russischen Welt (Ruskij Mir)“ gemeinsam vom Orthodox Christian Studies Center der Universität Fordham (USA) und der Volos Akademie für Theologische Studien (Griechenland) veröffentlicht. In einem Begleitschreiben fassen die Koordinatoren der Initiative, Dr. Brandon Gallaher und Dr. Pantelis Kalaitzidis, das theologische Anliegen dieser Erklärung zusammen: Die Russische Welt sei eine Ideologie, die zur theologischen Untermauerung eines Verbrechens instrumentalisiert werde; leider bilde sie keine Ausnahme in der Geschichte orthodoxer ethnophyletischer Ideologien.

Wörtlich heißt es in dem Text: „Die Unterstützung des Krieges von Präsident Wladimir Putin gegen die Ukraine durch viele Mitglieder der Hierarchie des Moskauer Patriarchats hat ihre Wurzeln in einer Form von orthodoxem ethnophyletischem religiösem Fundamentalismus mit totalitärem Charakter, genannt Russkii Mir oder „die Russische Welt“, eine falsche Lehre, die viele in der orthodoxen Kirche anzieht […].

In den Reden von Präsident Wladimir Putin und Patriarch Kyrill (Gundiaev) von Moskau (Moskauer Patriarchat) wurde die „Russische-Welt“-Ideologie in den letzten 20 Jahren wiederholt beschworen und weiterentwickelt. Im Jahr 2014, als Russland die Krim annektierte und einen Stellvertreterkrieg im ukrainischen Donbas begann, bis hin zum Beginn des ausgewachsenen Krieges gegen die Ukraine und danach, haben Putin und Patriarch Kyrill die „Russische-Welt“-Ideologie als Hauptbegründung für die Invasion verwendet.

Diese Lehre besagt, dass es eine transnationale russische Sphäre oder Zivilisation gibt, die Heiliges Russland oder Heilige Rus‘ genannt wird. Sie umfasst vom Anspruch her Russland, die Ukraine und Weißrussland (und manchmal Moldawien und Kasachstan) sowie ethnische Russen und russischsprachige Menschen in der ganzen Welt. Sie geht davon aus, dass diese „russische Welt“ ein gemeinsames politisches Zentrum (Moskau), ein gemeinsames geistiges Zentrum (Kiew als „Mutter aller Rus‘“), eine gemeinsame Sprache (Russisch), eine gemeinsame Kirche (die russisch-orthodoxe Kirche, das Moskauer Patriarchat) und einen gemeinsamen Patriarchen (den Patriarchen von Moskau) hat, der – dem Konzept der „symphonia“ entsprechend – mit einem gemeinsamen Präsidenten/Nationalen Führer (Putin) zusammenarbeitet, um diese russische Welt zu regieren und eine gemeinsame, unverwechselbare Spiritualität, Moral und Kultur aufrecht zu erhalten.

Gegen diese „Russische Welt“ (so die Lehre) steht der korrupte Westen, angeführt von den Vereinigten Staaten und den westeuropäischen Nationen, der vor dem „Liberalismus“, der „Globalisierung“, der „Christenfeindlichkeit“, den in Schwulenparaden propagierten „Rechten von Homosexuellen“ und dem „militanten Säkularismus“ kapituliert hat.“
(https://publicorthodoxy.org/wp-content/uploads/2022/03/2022.03.22-Declaration-German.pdf)

Die orthodoxen Theologen u. a. proklamierten: „Wir verurteilen daher jede Lehre und lehnen sie als unorthodox ab, die zu Spaltung, Misstrauen, Hass und Gewalt zwischen Völkern, Religionen, Konfessionen, Nationen oder Staaten ermutigt. Wir verurteilen ferner jede Lehre als nicht-orthodox und lehnen sie ab, die diejenigen dämonisiert oder zur Dämonisierung ermutigt, die der Staat oder die Gesellschaft als „anders“ betrachtet, einschließlich Ausländern, politisch und religiös Andersdenkenden und anderen stigmatisierten sozialen Minderheiten. Wir lehnen jede manichäische und gnostische Spaltung ab, die eine heilige orthodoxe östliche Kultur und ihre orthodoxen Völker über einen entwürdigten und unmoralischen „Westen“ erheben würde. Es ist besonders verwerflich, andere Nationen durch besondere liturgische Bitten der Kirche zu verurteilen, indem man die Mitglieder der orthodoxen Kirche und ihre Kulturen als geistlich in besonderer Weise geheiligt gegenüber den fleischlichen, weltlichen „Heterodoxen“ erhebt.“ (ibid.)

Die Erklärung ist inzwischen in mehr als 19 Sprachen übersetzt und von mehr als 1.500 namhaften Theologinnen und Theologen unterzeichnet worden. Die Mehrheit davon sind orthodox, aber auch wichtige Stimmen aus der weiteren Ökumene tragen das Dokument solidarisch mit, daher gilt diese von Orthodoxen initiierte Erklärung auch als Dokument von multilateral-ökumenischer Bedeutung, das bereits eine außergewöhnlich große Beachtung in den internationalen kirchlichen und profanen Medien gefunden hat.

Wie kann Versöhnung in der Ukraine stattfinden?

Die ukrainischen Kirchen bewegen sich in einem Minenfeld. Es ist schwer, die kirchlichen Entwicklungen vorherzusagen. Die Kirchenübertritte von der UOK in die OKU sind beachtlich, vor allem wenn man das äußerst angespannte Verhältnis zwischen den zwei Kirchen berücksichtigt. Es gibt Versuche bestimmter politischer Kreise, die ein allgemeines Verbot der UOK veranlassen wollen. Die ukrainische Regierung verheimlicht ihr Misstrauen der UOK gegenüber nicht mehr. Die Vorstellung, dass eine ziemlich große Kirche, wie die UOK, von dem einen Tag auf den anderen verschwinden wird, Kraft eines Gesetzes oder welcher auch immer geschichtlicher Automatismen, ist allerdings nicht plausibel. Großzügigkeit, Öffnung und Flexibilität bei gegenseitigem Respekt können zur Versöhnung beitragen. Gleichzeitig ist es klar, dass die UOK, die bis Mai 2022 dem Moskauer Patriarchat verbunden war, vor großen Herausforderungen steht. Ihre russenfreundliche Haltung vor dem Krieg bzw. das Verhalten von Einzelpersonen, die ihr angehör(t)en, wird immer deutlicher hinterfragt. Für viele steht sie immer noch unter Verdacht und befindet sich in Erklärungsnot.

Zweifelsohne haben mit ihrer Haltung das Moskauer Patriarchat und Russland die Herzen der ukrainischen Orthodoxen verloren. Die UOK ist aktuell auf der Suche nach einem neuen Narrativ; ihr Verhältnis zur Russischen Kirche bedarf einer Neuordnung. Vieles hängt von der Entwicklung des Krieges und der kirchenrechtlichen Klärung des Status der UOK ab. Pragmatismus sowie der Geist der orthodoxen Oikonomia könnten jedenfalls den Kirchen in der Ukraine helfen, einen Weg zur Überwindung des Konflikts zu finden. Auch wenn langfristig die Vereinheitlichung von kirchlichen Strukturen wünschenswert ist, könnte mittelfristig eine Ko-Existenz paralleler Strukturen akzeptabel sein, die aber in eucharistischer Gemeinschaft sind. Die toxische Situation von zwei weiterhin angefeindeten orthodoxen Kirchen innerhalb der versöhnungsbedürftigen ukrainischen Gesellschaft wird nach dem Krieg schwer erträglich sein.

Ich habe die leise Hoffnung, dass dieser Krieg alle Kirchen der Ukraine, nicht nur die Orthodoxen, einander näherbringt. Verbindend sei hier nicht etwa der Widerstand gegen einen gemeinsamen Feind, sondern die Einheit im Glauben an Jesus als den Ohnmächtigen, der am Kreuz stirbt, aufersteht, Wunden heilt und zur Überwindung trennender Unterschiede aufruft. Das unsägliche Massaker darf nicht zur Bildung neuer Gräben führen, sondern zur Etablierung wirkungsvoller und wachsamer Strukturen des Dialogs. Die Ökumene als eine Wegbereiterin der Versöhnung brauchen wir heute mehr denn je, auch in der Ukraine.

Ausblick für die Panorthodoxie und die Ökumene

Ebenfalls schwer vorauszusagen sind die Auswirkungen, die der Krieg in der Ukraine auf die Einheit der Orthodoxie haben wird. Sicherlich ist dieser ein großer Schlag für die russische Kirche. Einige der Kirchen, die ihr lange nah standen, werden sicherlich ihre Haltung neubestimmen müssen. Der Krieg hat das Vorhandensein von sehr fragwürdigen Abhängigkeitsnetzwerken in der Orthodoxie deutlicher gemacht. Sowohl Angst, als auch die Versuchung des Geldes, spielen eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der innerorthodoxen Beziehungen: Keine Kirche möchte, dass in ihrem Territorium eine parallele russische Jurisdiktion entsteht, die ihr viele Gläubige abwerben würde, wie es gerade in Afrika der Fall ist. Die afrikanische Orthodoxie (Patriarchat von Alexandrien) hat den Preis für ihre Unterstützung der Autokephalie der Ukraine bezahlt. Für mehrere Kirchen ist der russische Pilgertourismus eine wichtige Einkommensquelle.

Dennoch haben die orthodoxen Kirchen ihr eigenes Tempo und ihre eigene Weise, mit der Geschichte und ihren Herausforderungen umzugehen. Ihre größte Versuchung bleibt der Nationalismus verbunden mit imperialen Phantasien. Die orthodoxen Kirchen bezahlen den Preis dieser Ideologisierung ihres Glaubens. Das Fatale ist dabei, dass die Kirchen selbst ihre Instrumentalisierung durch die Politik zulassen. Das Problem sehen wir gerade im Fall Russlands stark; es ist aber kein ausschließlich russisches Problem, es ist ein Problem für mehrere orthodoxe Kirchen, auch für die ukrainische.

Was bedeutet das für die ökumenischen Bestrebungen? Wir brauchen den Dialog; wir brauchen Gesprächsbereitschaft; wir müssen Brücken bauen und an einer Versöhnung arbeiten. Wir sagen Ja zum Dialog, aber zum Dialog mit wem und unter welchen Bedingungen? In einigen Gremien der Ökumene hat man lange vieles erduldet, in Kauf genommen und Unliebsames unter den Teppich gekehrt. Man hat die Russische Kirche in gewisser Weise entschuldigt, sie für einen Sonderfall gehalten, was der russischen Orthodoxie langfristig gesehen nicht guttat.

Differenzierung ist nötig: Russen und die russische Orthodoxie sind grundsätzlich nicht Feinde der übrigen Christen. Die Haltung des diktatorischen Regimes ist allerdings gefährlich und die Reaktionen des russischen Patriarchen theologisch und pastoral nicht haltbar. Die Tatsache, dass die Dinge lange Zeit nicht beim Namen genannt wurden, markiert ein ökumenisches und ostkirchenkundliches Versagen. Warum wurden die Ukrainer dermaßen ignoriert, dass im Jahre 2022 keine einzige Kirche aus der Ukraine Mitglied des ÖRK ist?

Warum wurden so oft die ukrainischen Autokephalie-Bestrebungen und das entsprechende Handeln des Ökumenischen Patriarchats, gerade in Deutschland, äußerst einseitig kritisiert? Wie viele Kirchenoberhäupter aus der westlichen Welt haben in den letzten Jahren Kontakt mit Metropolit Epiphanij gehabt? Warum haben immer zur Beurteilung des Verhaltens der OKU Kriterien geherrscht, die zur Bewertung der Haltung anderer orthodoxer Kirchen nicht verwendet wurden, so die Thematik des Nationalismus? Viele in der Ökumene wollten lange nicht sehen und nicht hören, um die Beziehungen mit dem „Sonderfall“ nicht zu gefährden.

„Wenn das Salz seinen Geschmack verliert“. Ein persönliches Statement zur 11. ÖRK-Vollversammlung

Der Umgang mit dem Krieg in der Ukraine und der Haltung der Russischen Orthodoxen Kirche dazu stellte für die 11. ÖRK-Vollversammlung (Karlsruhe, 31.8.–8.9.2022) eine der größten Herausforderungen dar. Wie sollte das wichtigste Gremium der multilateralen Ökumene weltweit auf einen Krieg reagieren, in den zwei Länder mit überwiegend christlicher Bevölkerung involviert sind? Wie geht man mit den Aussagen der Leitung der Russischen Orthodoxie um, die diesen Krieg theologisch untermauert und ihn mit schockierend homophoben Parolen als metaphysischen Kampf gegen den dekadenten Westen erklärt?

Letztendlich ging es um die Spannung zwischen prophetischer und diplomatischer Ökumene. Soll man die ganze Wahrheit sagen – um den Preis des Austrittes der Delegation einer Kirche, die sich beleidigt fühlt? Oder wäre es besser, die Einheit zu bewahren – um den Preis einer verwässerten Botschaft? In Karlsruhe, wo ich als Delegierter des Ökumenischen Patriarchats an der ÖRK-Vollversammlung teilgenommen habe, habe ich ein deutliches Übergewicht der Diplomatie festgestellt.

Alles hätte freilich sehr schlimm sein können; am Ende aber verabschiedete die Vollversammlung ein Statement, das viele wichtige und mutige Thesen beinhaltet. Und trotzdem habe ich Karlsruhe mit einem komischen Gefühl verlassen.

In seiner Rede hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier eine ökumenische Herausforderung zusammengefasst, die in der Vollversammlung kaum besprochen wurde: Wie kann die Leitung einer ÖRK-Mitgliedskirche einen Krieg nicht einfach stillschweigend in Kauf nehmen, sondern mit angeblich aus der Botschaft des Evangeliums entnommenen Argumenten rechtfertigen? Die grundsätzliche Frage ist nicht, ob der ÖRK auf der Seite Russlands oder der Ukraine steht, sondern wie dieses Gremium mit Kirchen umgeht, deren Leitung christliche Grundprinzipien verletzt.

Heute war die theologische Rechtfertigung des Ukraine-Krieges. Welche rote Linie wird morgen überschritten? Und von welcher Kirche? Übrigens: Wie der Vertreter der OKU Roman Sigov im Plenum gesagt hat, durfte ein Bischof an der Vollversammlung als Mitglied der russisch-orthodoxen Delegation teilnehmen und stimmen, der einige Wochen davor ein Video mit ukrainischen Geiseln gepostet hat. In seinem Post hatte der Metropolit sich über die Geiseln sogar lustig gemacht.

Ich habe nicht für den Ausschluss der Russischen Orthodoxen Kirche aus dem ÖRK plädiert; ich habe mir aber eine stärkere prophetische Botschaft an die Adresse ihrer Leitung gewünscht. Die kritischen Aussagen der Rede des Bundespräsidenten wurden in den entsprechenden Pressemitteilungen vom ÖRK und EKD verschwiegen. Dort war lediglich die Rede davon, dass Bundespräsident Steinmeier die ökumenischen Gäste willkommen geheißen hat. Im Plenum für die Ukraine, im orthodoxen konfessionellen Treffen, im Europa-Plenum, in den Businessplenaries wurde kaum über die Haltung von Patriarch Kyrill gesprochen. Dessen Kirche hat zu wenig Gegenwind gespürt und sogar etliche ihr gegenüber freundlichen Stimmen entdeckt bzw. wahrgenommen.

Kritik seitens der Ukrainer war zu erwarten, aber wo war die übrige ökumenische Gemeinschaft? Eine öffentliche Kritik wäre für die ROK hilfreich. Vom Statement zur Ukraine, dass im Konsensverfahren verabschiedet werden musste, hatte ich nicht viel erwartet; und die Rede darin von einer Ablehnung des Missbrauchs religiöser Sprache und Autorität nicht das Problem in seiner Ganzheit umfasst. Aber in den Plenumssitzungen habe ich die Kritik vermisst. Und: Die Vollversammlung sollte hören, dass das Statement den Wert von Aussagen von McDonalds und Starbucks hat, so ein Vertreter der ROK im Plenum.

Ich bin jedenfalls der Meinung, dass selbstbewusste christliche Worte, mit prophetischer Stärke und in der Intensität der Ehrlichkeit hilfreicher sind als langweilig abstrakt formulierte Texte, die kurzfristig alle glücklich und am Ende alle unglücklich machen oder, vielleicht noch schlimmer, zur Gleichgültigkeit und zum Zynismus führen und das friedensstiftende Potenzial der Ökumene schwächen. „Wenn das Salz seinen Geschmack verliert, womit kann man es wieder salzig machen?“ (Matth. 5:13) Die Vollversammlung gab mir und gibt uns Anlass genug, über diesen Vers zu reflektieren.

Auf Griechisch bedeutet Ökumene die bewohnte, und daher bewohnbare Erde. Bomben, Kriege machen die Erde nicht bewohnbar. Der Dialog, die Arbeit an Strukturen der Versöhnung, des genauen Zuhörens, der ehrlichen, fairen Auseinandersetzung, der Inklusion: all das brauchen wir mehr denn je, um unsere Welt bewohnbarer und ökumenischer zu machen. Ich hoffe, dass uns die Erfahrung dieses unsäglichen Kriegs helfen wird, einiges in der Zukunft besser zu machen.

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