Biocomputing ist wie ein Gruß aus der Zukunft: eine Welt voller ungeahnter Möglichkeiten im Übergang von Science-Fiction zu technischer Realität. Computer, die nicht mehr auf der Basis von Silizium operieren, sondern auf der Basis menschlicher Gehirnzellen, stellen eine neue Generation der Verbindung von Biologie und Informationstechnologie dar. Diese sprengt gewohnte Grenzen zwischen Mensch und Technik. Man kann die Verknüpfung von Disziplinen wie Molekularbiologie, Organischer Chemie, Informationswissenschaften, Nanotechnologie und Medizin entweder als Biologisierung des Digitalen umschreiben, die Erfolgsgeheimnisse der Evolution für eine neue Qualität von Technik nutzt. Über die technischen Herausforderungen hinaus stellt sich dabei die Frage, ob angesichts dieser Synthese bisherige Annahmen über die Differenz zwischen dem menschlichen Denken und der digitalen Informationsverarbeitung neu reflektiert werden müssen. Insofern stellen die Biocomputer nicht nur einen Quantensprung in der Forschung, sondern auch eine philosophische Herausforderung hinsichtlich des Verstehens und Modellierens unterschiedlicher Formen von Intelligenz dar.
Aus wissenschaftspolitischer, gesellschaftlicher und theologisch-ethischer Perspektive ist Biocomputing zunächst als hoffungsvolles Feld innovativer Forschung zu würdigen. Der Nutzen ist offensichtlich und vielfältig:
- Exponentielle Steigerung der Leistungsfähigkeit von Computern, hinsichtlich der Speicherung von Daten und einiger komplexer logischer Operationen
- Langlebigkeit durch Ablösung der Silizium-Chips durch Organoide als Medium der Datenspeicherung: Da Silizium-Chips in der Regel schon nach 10 oder 20 Jahren erhebliche Störungen aufweisen und Organoide mindestens 50 Jahre und bei entsprechender Kühlung sogar eine Millionen Jahre und mehr erhalten bleiben, ist das ein erheblicher Gewinn.
- Verringerung des Energiebedarfs: Supercomputer verschlingen mehr als 500.000 Mal so viel Energie wie ein menschliches Gehirn, das in einigen Aspekten dennoch leitungsfähiger ist. Da die herkömmlichen Silicium-Computer vor allem durch die komplexen Algorithmen für ChatGPT und ähnliche neuere Leistungsprofile einen rapide wachsenden Energiebedarf haben und bereits Mitte des Jahrhunderts 20 % des deutschen Energiebedarfs oder mehr beanspruchen könnten, besteht hier dringender Handlungsbedarf, den Energiebedarf der Computer zu reduzieren.
- Entwicklung und Tests von Medikamenten (etwa gegen neurodegenerative Erkrankungen wie Demenz; so Thoms Hartung von der John Hopkins Universität): In der Forschung sind große Hoffnungen mit Hirnorganoiden verbunden, da man an richtigen Gehirnen aus ethischen Gründen nur beschränkt forschen kann. Insgesamt könnten Organoide zu einem verbesserten Verständnis von Krankheiten, zur Entwicklung personalisierter Therapien sowie zu einer Reduktion von Tierversuchen beitragen. Auch die regenerative Medizin ist ein potenzielles Feld, in dem Organoide Bedeutung erlangen könnten.
- Besseres Verständnis der Funktionsweise des menschlichen Gehirns: Smarte Biochips mit ihrer organoiden Intelligenz können uns über die möglichen praktischen Zwecke hinaus neue Einsichten vermitteln, wie Lernen und Informationsverarbeitung geschieht. Besonders faszinierend ist die Übersetzung der zweiwertigen Logik von elektrischer Speicherung und Verarbeitung von Information in die vierwertige Logik des Genoms mit seinen Basen Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin.
Praktisch relevant ist für die nähere Zukunft vor allem die Datenspeicherung, die ganz unmittelbar für Langlebigkeit und sehr geringen Energieverbrauch greifbare Vorteile mit sich bringt. Hinsichtlich der Datenverarbeitung stellt sich die philosophische Frage, ob man das, was Hirnorganoiden können, schon „denken“ nennen kann und ob sich daraus die Fähigkeit zu synthetisch hergestelltem Bewusstsein entwickeln könnte. Auch in Bezug auf unser eigenes Denken und Fühlen ist es keineswegs immer leicht, zu bestimmen, wo genau der Unterschied zwischen „echten“ und simulierten Emotionen oder Denkvorgängen liegt. Könnte in Zukunft eine Art menschliches „Mini-Gehirn“, das mit den gegenwärtigen Möglichkeiten maximal die Größe einer Erbse erreicht, gezüchtet werden? Lassen sich diese technisch in eine Cloud zu einer Art Superintelligenz verknüpfen? Es könnte laut Hartung zwar noch Jahrzehnte dauern, bis die organoide Intelligenz ein System antreiben kann, das so intelligent ist wie eine Maus. Doch schon jetzt stehen komplexe ethische Fragen im Raum. Könnten Hirnorganoide etwa Leid fühlen oder gar ein Selbstbewusstsein entwickeln? Und welche Rechte hätten die Spender der Zellen, aus denen sie gefertigt werden?
Im Jahr 2022 publizierte die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina eine Stellungnahme zu Hirnorganoiden. Die Leopoldina-Autoren stellten fest: „Die Herstellung und Beforschung dieser neuartigen Entitäten kann leicht Unbehagen und Sorge vor der Überschreitung ethisch formulierter Handlungsgrenzen wachrufen, geht es doch um solche Zellverbände, die das biologische Substrat des menschlichen Geistes bilden und auf höchst künstliche Weise instrumentalisiert werden.“ Auf absehbare Zeit sei jedoch nicht zu erwarten, dass diese Schmerzempfinden oder andere, auch nur rudimentäre Bewusstseinszustände entwickeln könnten. „Zugleich ist die Hirnorganoidforschung aber ein Forschungsfeld mit einer hohen Dynamik, in dem in den vergangenen Jahren substanzielle Fortschritte gelungen und weitere für die Zukunft zu erwarten sind“, heißt es weiter. Dann könnten möglicherweise Regulierungen durch eine spezielle Ethikkommission nötig werden. Die Akademie schlägt vor, schon im Vorfeld den Forschungsprozess kontinuierlich von einem Team aus Ethiker:innen, Forscher:innen und Repräsentant:innen der Öffentlichkeit begleiten zu lassen, das gemeinsam entsprechende Fragen identifiziert, diskutiert und beantwortet.
Die philosophische, theologisch-anthropologische und ethische Debatte ist bereits voll in Gang. Hinsichtlich der Frage, ob komplexere Hirnorganoide perspektivisch irgendeine Form von Bewusstsein oder zumindest Empfindungsfähigkeit entwickeln könnten, besteht zunächst das Problem, diese Eigenschaften zu definieren, zu quantifizieren und nachzuweisen. Unklar ist sodann, welche Folgen ihr Auftreten hätte, insbesondere, ob und wann Hirnorganoiden ein moralischer oder rechtlicher Status sowie eine Schutzbedürftigkeit zugestanden werden müsste. Rechtlich sind sie bislang (wie andere Biomaterialien auch) Sachen, also bloße Objekte. Hätten sie nachweislich eine Form von Empfindungsfähigkeit, ist allerdings fraglich, ob diese Einordnung noch sachgerecht wäre und wie sie sonst zu klassifizieren wären. Sind sie dann vielleicht weder Mensch noch Tier noch Sache, sondern als „Novel Beings“, also eine völlig neue Form von Entitäten zu qualifizieren? Über die Schutzwürdigkeit hinaus stellt sich die Frage, ob die künstliche Intelligenz der Biocomputer, wenn diese in großem Maßstab technisch vernetzt werden, zu der menschlichen Intelligenz weit überlegenen und nur noch begrenzt kontrollierbaren Akteuren werden könnten, die ihre eigenen Zwecke verfolgen und den Menschen dominieren.
Eine andere, praktisch relevante, aber ungeklärte Frage ist, welche Anforderungen an die Ausgangszellen zu stellen sind, aus denen Hirnorganoide erzeugt werden. Dürfen dafür einfach gespendete Biomaterialien genutzt werden? Angesichts der Diskussionen und Fragen bezüglich der potenziellen Eigenschaften und Fähigkeiten von Hirnorganoiden erscheint die Nutzung von Zellen, die in Verbindung mit einer allgemeinen, unspezifischen Einwilligung für Forschungszwecke zur Verfügung gestellt wurden, nicht ausreichend. In welchem Ausmaß in den Organoiden der KI noch Identitätsmerkmale der Zellspender vorhanden sind, ist strittig. Zur Vorsicht sollten die Personen, deren Zellen als Basis für Hirnorganoide dienen, im Vorfeld der Nutzung Informationen über das geplante Vorhaben erhalten, insbesondere auch dann, wenn die Absicht besteht, die erzeugten Strukturen in Tiere einzubringen.
Aus ethischer Sicht ist es ratsam, die verschiedenen Szenarien zu diskutieren, bevor sie eingetreten sind. Wichtiger als normative Regularien scheint mir aber die philosophische Frage, was die Biocomputer für unser Verständnis und die Entwicklung einer neuen Generation von sogenannter künstlicher Intelligenz bedeuten. Wenn die Grenzen zwischen der „natürlichen“ und der „künstlichen“ Intelligenz fließend werden, ergeben sich daraus grundlegende, auch theologisch und anthropologisch relevante Rückfragen an das menschliche Selbstverständnis. Hat die klassische theologische Anthropologie die Würde, Freiheit und Einmaligkeit des Menschen zu sehr mit einem Konzept von Rationalität verknüpft, das sich nun als Zwischenprodukt in der biotechnisch fortschreitenden Evolution herausstellt? Muss das spezifisch Menschliche stärker mit Eigenschaften jenseits dessen, was Computer (bald) besser leiten können, gesucht werden? Da auch emotionale und soziale Intelligenz zunehmend erfolgreich simuliert werden kann, wäre dies vielleicht mit einer Aufwertung praktischer und sozialer Fähigkeiten verbunden.
Bei alledem scheint es mir aus theologisch-ethischer Sicht wichtig, die Beunruhigung durch solche Fragen nicht angstvoll mit einer Technik-Abwehr zu beantworten, sondern neugierig zu sein hinsichtlich der faszinierenden Möglichkeiten und Fragen. Die praktischen Potenziale, beispielsweise für erheblich weniger Energieverbrauch, sind ein starkes Argument, die Forschung entschlossen voranzutreiben.