Raffaels Karrierestrategien

Von der Provinz über Florenz nach Rom

Im Rahmen der Veranstaltung Raffael, 07.04.2022

© Wikimedia Commons, Public Domain

Die Oscar-Verleihungen in Hollywood sind – wie unter einem Vergrößerungsglas – Lehrstücke für gelingende und scheiternde Erfolgsstrategien und Selbstdarstellungen. Dieses Jahr, zur 94. Prämierung, wählte Eva von Bahr, die in der Kategorie Make-Up und Frisur für den Film Dune nominiert war, ein Outfit des Schwedischen Designers Stefan Wåhlberg: die Handtasche nach dem Kopf von Michelangelos David geformt, das Seidenkleid mit Raffaels Madonna im Grünen aus dem Kunsthistorischen Museum Wien in gleich sechsfacher Wiederholung bedruckt.

Deutlich wird hieran mehreres, das auch über 500 Jahre hinweg schon für Raffael mit zu bedenken ist: Auf dem roten Teppich – in einem Kontext höchster Konkurrenz – geht es um Aufmerksamkeit um jeden Preis, wobei die siegreiche Konstellation vorher nie wirklich vorherzusagen ist. Eva von Bahr hat den Oscar nicht bekommen – er ging an das wesentlich zurückhaltender gekleidete Team des Films The Eyes of Tammy Faye. Im Rückblick vergisst man freilich leicht, welch‘ unterschiedliche Optionen vor einer Entscheidung zur Wahl gestanden haben und welche Faktoren für den letztlichen Erfolg ­eine Rolle spielten.

Sieht man einmal von der Frage des Geschmacks ab, hat Eva von Bahr mit der Wahl ihres Kleides höchstes Anspruchsniveau zu signalisieren versucht. Es dürfte ihr darum gegangen sein, dass ihre Kunst der Nachahmung, Verschönerung und Fiktion in der Tradition Raffaels und Michelangelos steht, und zwar von beiden, denn Film-Make-Up ist eine Kunst des Plastischen und der Farbe. Ob Eva von Bahr die klassische Novelle zum Thema von Franco Sacchetti aus dem späten 14. Jahrhundert kannte, in der die Frauen von Florenz mit ihren Schminkkünste witzig als die besten Malerinnen geschildert werden, ist nicht bekannt.

Deutlich wird aber einmal mehr, dass allein die Werke von Raffael und Michelangelo über Jahrhunderte hinweg als Maßstab für vollendete Kunst funktionieren und bekannt geblieben sind – schon Leonardo da Vinci oder dann später Rubens und Rembrandt spielen in einer anderen Liga.

Genau darin besteht die wohl größte Herausforderung jeder Beschäftigung mit Raffael: Sein Tun und seine Werke erscheinen im Rückblick unweigerlich gefiltert durch 500 Jahre überwältigenden Ruhm. Dagegen versuche ich an vier Momenten im Leben Raffaels zu rekonstruieren, wie sich ihm selbst entscheidende Karriere-Herausforderungen darboten: Leben und Werk Raffaels erscheinen so nicht als gradlinige Karriere eines Genies, sondern als Hoffnungen, Unsicherheiten, Chancen und glückliche Entscheidungen. Deutlich wird allerdings auch, wie wenig wir gerade über diese Schlüsselmomente im Leben Raffaels wissen.

Florenz 1506

1502, mit 23 Jahren, war Raffael vermutlich nur halb zufrieden mit dem bislang Erreichten. Seit seinem ersten datierten Werk aus dem Jahr 1500 hatte er zwar sechs große Altartafeln gemalt und den Auftrag für eine siebte gerade unterschrieben. Seine Preisvorstellung für diese Werke hatte er verfünffachen können. Allerdings kamen die Aufträge aus Cittá di Castello und Perugia. In der Kunstmetropole Florenz dagegen hatte Raffael noch keinen großen Auftrag an Land ziehen können. Dies scheint ein entscheidender Grund, warum Raffael den Auftrag für ein weiteres Altarbild für eine Privatkapelle in Perugia annahm – gegenüber der Familien-Kapelle der Oddi, für die er schon zuvor eine Altartafel gemalt hatte: Denn der Auftrag der Atalante Baglione eröffnete die Chance für ein erzählendes Altarbild, keine Madonna mit Heiligen. Raffael erkannte, dass sich die Gelegenheit zu einem künstlerischen und kunsttheoretischen Demonstrationsstück bot, das weniger die Auftraggeberin als das Kunstpublikum in Florenz beeindrucken sollte.

Raffaels Auftrag scheint zunächst auf eine Beweinung Christi gelautet zu haben – da die Trauer der Gottesmutter eine Parallele zu Atalante eröffnete, die ihren Sohn in einer Familienfehde verloren hatte. Mehrere, teils weit ausgearbeitete Zeichnungen bezeugen Raffaels Überlegungen zu diesem Thema. Dann muss jedoch etwas Einschneidendes passiert sein: Raffael verwarf alles bisher Erarbeitete und wechselte zu einem anderen Sujet, einer Grabtragung Christi.

Eine so weitreichende thematische Änderung ließ sich nicht ohne Einwilligung der Auftraggeberin durchführen, dürfte aber kaum von Atalanta Baglioni ausgegangen sein, sondern von Raffael selbst. Denn nur so ließ sich das Gemälde besonders gut als Demonstrations- und Werbestück für den jungen Maler nutzen. Das ausgeführte Gemälde verbindet eine nur auf den ersten Blick friesartige Komposition mit zwei sich kreuzenden, teils auseinander, teils aufeinander zu strebenden Richtungsvektoren und Figurengruppen: Drei Männer heben unter großer Kraftanstrengung und begleitet von Johannes d. E. und Maria Magdalena den toten Christus über mehrere Felsstufen nach links hinten in die Grabeshöhle hinauf. Nach rechts sinkt Maria ohnmächtig in die Arme ihrer drei Begleiterinnen zurück, über ihnen ist Golgatha mit den drei Kreuzen zu sehen.

Für diese neue Bildidee hatte Raffael antike Sarkophagreliefs mit der Heimtragung des toten Meleager studiert – eine Szene, die bereits Leon Battista Alberti in seinem Malereitraktat von 1435/36 als exemplarisch empfohlen hatte, ganz abgesehen davon, dass Meleager in der spätmittelalterlichen Auslegungstradition als Sinnbild für Christus gedeutet wurde. Diese antike Referenz verband Raffael nun demonstrativ mit einigen wenigen anderen interpikturalen Bezügen.

Die zeitgenössischen Betrachter hätten sich zum einen an einen Kupferstich von Andrea Mantegna aus den 1470er Jahren erinnert gefühlt, bei dem die Felshöhle, die Trägerfigur links und die abgetrennte Gruppe der Marien rechts gut vergleichbar erscheinen. Mantegna war der berühmteste Künstler Italiens um 1500, diese Druckgraphik zu Beginn des 16. Jahrhunderts so geschätzt, dass sie um 1509 von Giovanni Antonio da Brescia seitenverkehrt nachgestochen wurde. Raffael hatte Mantegnas toten Christus mit seinen Trägern und den beiden klagenden Frauen zudem in sein (heute verlorenes, nur in Kopie erhaltenes) Skizzenbuch kopiert.

Mantegnas lockere Bilderzählung wurde von Raffael freilich nicht nur in ihrer dramatischen Interaktion verdichtet und räumlich in die Tiefe entfaltet. Raffaels Figuren rekurrieren zudem eindeutig auf Werke Michelangelos: Der tote Christus entspricht bis in die Kräuselung der Barthaare und Haltung der Finger an der herabhängenden Hand dem spektakulären Christus der Pietà-Gruppe, die Michelangelo in Rom für die Grabkapelle eines französischen Kardinals in S. Petronilla neben Alt-St. Peter um 1497/1500 geschaffen hatte.

Diese war dort – anders als heute in St. Peter – so tief aufgestellt gewesen, dass man von oben auf den schönen jugendlichen Christus-Körper herabblicken konnte. Die kniende Begleiterin Mariens, die von unten die Muttergottes stützt und dazu Oberkörper und Arme nach hinten dreht, scheint mit Michelangelos kompliziert bewegter Maria auf dem um 1504/06 entstandenen Tondo Doni wetteifern zu wollen. Die ungewöhnliche Idee schließlich, dass die Träger den toten Christus rückwärts über Steinstufen zum Grab hinaufheben, hatte Michelangelo in seiner unvollendeten Grabtragung von 1500/01 entwickelt. Allein die innig aufeinandergelegten Hände von Maria Magdalena und Christus scheinen ein Motiv aus Peruginos Florentiner Beweinung weiterzuentwickeln.

Bei diesen Bezügen geht es nun nicht darum, ‚Vorbilder‘ aufzeigen – das bräuchte Raffael nicht und könnte er auch viel besser verschleiern. Vielmehr wollte Raffael im Gegenteil ganz bewusst auf diese anderen Werke als Referenzgrößen verweisen. Er setzt sich in der Pala Baglioni demonstrativ mit der Antike, mit Mantegna, Michelangelo und Perugino auseinander, um seine Position in einer der wichtigsten kunsttheoretischen Debatte der Zeit über richtige Nachahmung zu verdeutlichen.

Raffael rekurriert nicht auf möglichst viele verschiedene schöne Vorbilder, sondern nur auf den oder die besten antiken und modernen Künstler. Raffaels annähernd quadratisches Altarbild erfüllte zudem – das wurde stets erkannt und betont – beispielhaft alle Anforderungen an ein Ereignisbild ([h]istoria), wie sie erstmals Leon Battista Alberti 1435/36 in seinem Traktat über die Malkunst entwickelt hatte.

Erst die These eines Demonstrationsstückes erlaubt auch, einen außergewöhnlichen Typ von Zeichnung zu verstehen, den Raffael zum ersten und offenbar einzigen Mal für den Entwurfsprozess der Pala Baglioni entwickelt zu haben scheint: Studierte er die Bildfiguren doch nicht nur bekleidet und als Akte – wobei er zu diesem Zeitpunkt noch mit zahlreichen zeichnerischen Schwächen bei den Anatomien zu kämpfen hatte. Raffael ging einen Schritt weiter. Zwei Blätter zeigen Figuren sogar auf der Ebene der Skelette.

Bemerkenswert sind diese von der Forschung stets als eigenhändig anerkannten Zeichnungen wegen ihres offensichtlichen Dilettantismus. Raffael hatte weder tiefere Kenntnisse des menschlichen Knochenbaus noch dürften ihm dieses Vorgehen wirklich geholfen haben, seine Bildfiguren zu verbessern. Es scheint, als hätten diese Zeichnungen vor allem dazu dienen sollen, einem kritischen Publikum, das etwa von Leonardos anatomischen Studien wusste, vorzuführen, dass auch Raffael die Anatomie auf einem vergleichbaren Niveau beherrschte.

Kein Zufall dürfte sein, dass ausgerechnet wieder Leon Battista Alberti ein Entwurfsverfahren beschreibt, das eben mit den Knochen beginnt: „Man stelle sich – sollen Lebewesen gemalt werden – zuerst die unter der Oberfläche liegenden Knochen vor und weise ihnen ihre Lage zu […]. In der Folge kommt es darauf an, dass die Nerven und Muskeln genau an den Orten sitzen, wo sie hingehören, und am Ende wird man dafür sorgen, dass die Knochen und Muskeln mit Fleisch und Haut umkleidet sind.“

Bei den beiden Skelett-Zeichnungen Raffaels handelt es sich jedenfalls nicht um wirklich notwendige, praktische Entwurfsstudien, sondern um eine neue, experimentelle Form von kunsttheoretischen Demonstrationsstücken in der Werkstatt, die eben vor allem im Diskussionskontext von Florenz, nicht Perugia, Sinn machten und die Raffael später sofort wieder aufgeben sollte.

Das Resultat der demonstrativen Anstrengung und des Ringens um Aufmerksamkeit, die Raffael mit der Pala Baglioni unternommen hatte, ließ nicht jedenfalls lange auf sich warten. 1507, wenn nicht noch im Laufe des Jahres 1506, erhielt er endlich einen Auftrag für ein Altarbild in Florenz. Dieses konnte er aber nicht fertigstellen, denn es eröffneten sich gleich neue Chancen in Rom.

Rom 1508/09

Raffael wechselt in der zweiten Hälfte des Jahres 1508 nach Rom. Angesichts der spektakulären und unglaublichen schnellen Folge an Fresken und Gemälden, die hier in den nächsten Jahren vor allem im Vatikanpalast entstehen, ist häufig die Rede davon, Papst Julius II. habe Raffael in seine Dienste gerufen. Angesichts der tatsächlichen Indizien und Quellen spricht aber eigentlich alles gegen diese Vorstellung. Raffael scheint vielmehr auf eigenes Risiko hin Florenz verlassen zu haben, um in Rom einen Fuß in die Tür der großen päpstlichen Aufträge zu bekommen.

Sicher ist, dass die Ausmalung der Stanzen zu diesem Zeitpunkt bereits an drei erfahrene, in Rom bewährte Maler-Teams vergeben war: an Perugino, Sodoma und Peruzzi. Das ist ein naheliegendes Verfahren, wenn man als Papst möglichst schnell neue Räume beziehen möchte. Alle Teams hatten bereits mit der Freskierung der Decken der drei Stanzen begonnen. Als Raffael eintrifft, heuert er offenbar als Mitarbeiter bei Sodoma an. Große Erfahrung in der Freskomalerei bringt er nicht mit. Aber Raffael hat bereits für Pinturicchios Ausmalung der Libreria Piccolomini am Sieneser Dom Entwurfszeichnungen gefertigt.

Möglicherweise ist es diese Kompetenz, die Raffael als Mitarbeiter für Sodoma interessant macht. Möglicherweise wird Raffael zudem von Bramante protegiert – denkbar wäre aber auch eine Empfehlung durch Michelangelo, der seit 1508 wenige hundert Meter weiter in der Sixtinischen Kapelle arbeitet und zu dem Raffael in Florenz in engerem Kontakt gestanden haben muss.

Wenn Raffael also nicht triumphal nach Rom berufen wurde, dann schaffte er es doch im Laufe eines knappen halben Jahres, durch seine Begabung als Entwerfer und Zeichner, aber wohl auch durch sein zuverlässiges Arbeitstempo zuerst Sodoma und alle anderen in den Stanzen Arbeitenden auszustechen und dann alle drei Räume der Reihe nach selbst auszuführen. Außerdem legen die Vorzeichnungen nahe, dass Raffael seine Ideen in engem Kontakt mit theologischen und humanistischen Beratern entwickelt haben muss. Anders wäre kaum zu verstehen, dass bei der sogenannten Disputà – der Versammlung der Theologen und sicher dem wichtigsten Fresko der Stanza della Segnatura – das heute so selbstverständlich erscheinende zentrale Element der Hostie als der Realpräsenz Christi auf Erden offenbar nicht von Anfang an geplant gewesen war.

Und noch ein Indiz gibt es, dass Raffael nach seiner Ankunft in Rom engen Kontakt mit den gelehrten Kreisen der Kurie suchte: Seine sechs überlieferten Gedichte sind allesamt auf Vorzeichnungen für die Stanza della Segnatura notiert. Nur zu Beginn seiner Arbeiten im Vatikanpalast empfindet Raffael die Notwendigkeit, durch Dichten seine Zugehörigkeit zu intellektuellen Kreisen zu demonstrieren. Zu den Anforderungen an die eigene Karriere zählte damals wie heute das richtige soziale Netzwerk. Der Dichter Raffael scheint eine weitere Reaktion auf eine solche Karriere-Herausforderung.

Rom 1514

Die vielleicht größte Herausforderung für ein Verständnis Raffaels stellt freilich nicht seine Tätigkeit als Maler, als Dichter, als Zeichner für Druckgraphiken oder als Erforscher der antiken Monumente Roms dar, sondern sein Beitrag als Architekt des neuen Roms. Das ist kein Nebenaspekt, wie es vielleicht heute scheinen könnte, wo Raffael vor allem als Maler bekannt ist. Ganz im Gegenteil wird Raffael nach seinem Tod 1520 in einer Reihe von Gedichten ausschließlich als Architekt oder aber als Architekt und Antiquar gerühmt. Zu diesem Zeitpunkt wurde die soziale Stellung eines rein geistig für den Entwurf zuständigen Architekten immer noch häufig höher eingeschätzt als die eines mit den Händen arbeitenden Malers.

Am 1. Juli 1514 berichtete Raffael jedenfalls selbst seinem Onkel in Urbino, dass er von nun an auch zuständig sei für den Neubau von St. Peter, nämlich als Nachfolger des am 11. oder 12. März verstorbenen Bramante. Am 1. August 1514 folgt das offizielle Ernennungs-Breve Leos X., das die Entscheidung damit begründet, dass noch Bramante selbst Raffael empfohlen und dieser zudem seine Eignung durch ein „Modell“ und eine Darlegung der anstehenden Bauaufgaben unter Beweis gestellt habe.

Es geht um die Leitung der größten Baustelle der Christenheit mit neuen Herausforderungen an allen Ecken und Enden. Nun wird für Raffael in keiner Quelle eine architektonische Ausbildung erwähnt. Seit 1511 ist er wohl dabei gewesen, eine Loggia am Tiber und den Marstall für die Villa des Bankiers Agostino Chigi zu erbauen. Seit 1512 errichtete er zudem die Grabkapelle Chigis an S. Maria del Popolo. Wie immer man diese Bauaufgaben einschätzt: Mit St. Peter hat das weder in Größe noch Anspruch etwas zu tun. Wie kann es sein, dass Raffael dieses Amt erhielt und was bedeutet das für unsere Vorstellung von seiner Rolle als Architekt?

Zunächst einmal sind unter den über 600 erhaltenen Zeichnungen Raffaels höchstens zehn, die zweifelsfrei mit Bauprojekten, nicht Bild-Architekturen oder Antiken-Aufnahmen, in Verbindung zu bringen sind. Das mag damit zusammenhängen, dass gerade bei architektonischen Entwürfen die präzise Ausarbeitung Mitarbeitern überlassen wurde. Verweisen lässt sich auch auf den Fall Bramantes, von dem die meisten Zeichnungen ebenfalls verloren sind.

Gleichwohl hätte die neue Präzision bei der Planung von Bauprojekten mit Beginn des 16. Jahrhunderts zu einer erhöhten Anzahl von Zeichnungen führen müssen und Raffaels Ruhm gerade als Architekt um die Zeit seines Todes doch eigentlich dazu, dass solche Zeichnungen besonders begehrt und geschätzt wurden? Auch die wenigen zeitgenössischen Quellen, die Raffaels Namen in Verbindung mit Bauprojekten nennen, bezeichnen ihn erstaunlicherweise nicht direkt als deren Architekten oder Entwerfer. Das Testament des Agostino Chigi besagt nur, dass Raffael und ein Goldschmied das Vorhaben der Grabkapelle Chigis „gut kennen“ würden. Und ein Gedicht von 1519 auf die im Bau befindliche Villa Madama des Papstes verweist zwar zweimal auf Raffael, allerdings als „neuen Apelles“, also in seiner Eigenschaft als Maler.

Zu denken gibt weiterhin, dass Leo X. neben Raffael, mit gleichem Gehalt und gleichen Befugnissen, auch noch den greisen, 80-jährigen Fra Giocondo als Leiter der Baustelle von St. Peter berief, dazu den erfahrenen, 70-jährigen Hofarchitekten der Medici, Giuliano da Sangallo, als „Administrator und Mithelfer des Werkes“ mit gleicher Bezahlung, außerdem Baldassare Peruzzi, allerdings mit wesentlich geringerem Lohn auf Monatsbasis. Dazu kam die Ernennung des römischen Bauunternehmers Giuliano Leni zum „kaufmännisch-verwalterischen Leiter“, ein Amt, das es so bislang nicht gegeben hatte – neben Raffael also vier weitere Leitungs-Personen. Diese Reformen der Bauhütte von St. Peter unter Leo X. zielten durch die Trennung von Entwurfs- und Verwaltungstätigkeiten auf eine Effizienzsteigerung, wie man sie auch bei anderen Großbaustellen der Zeit findet, etwa bei den Domen in Florenz und Mailand, nicht aber in diesem Umfang.

Auch wenn man Raffael zutraut, Ideen und Entwürfe zu Fassaden, Grundrissen und Ornamentik zu liefern, bleibt doch schwer vorstellbar, wie und wann er sich das unabdingbare Wissen in konstruktiv-technischer Hinsicht vor allem für Kuppel und gewölbtes Landhaus hätte aneignen sollen? Dass ihm diese neue Herausforderung offenbar nicht leichtfiel, könnte ein leider nur fragmentarisch lesbarer Bericht des Ferrareser Gesandten vom 17. September 1519 andeuten, mit dem dieser seinen Herrn, den Herzog Alfonso d’Este, wieder einmal vertrösten musste, da Raffael ein bestelltes Gemälde seit Jahren nicht ablieferte.

Die Begründung des Botschafters eröffnet, selbst wenn bis zu einem gewissen Grad aus Erklärungsnot heraus erfunden, einen erstaunlichen Einblick. Es heißt dort, die Ausführung verzögere sich, „weil so herausragende Menschen alle melancholisch sind. Und [Raffael] spürt dies umso mehr, da er mit dieser Architektur [offenbar St. Peter] beauftragt ist und den Bramante geben muss […].“

Dürfen wir das so verstehen, dass Raffael 1514 in ein Amt berufen wird, das ihn dann teils überfordert? Und dass den Beratern des Papstes von Anfang klar ist, dass Raffael zusätzliche architektonisch-technische Kompetenzen braucht? Dass Raffael möglicherweise nur für Entwürfe, aber vor allem wegen seiner Fähigkeit, eine große Werkstatt zu organisieren, eingestellt wird? Und dass hier Raffael nicht eine Stellung angestrebt hat, sondern sein Ruhm zu diesem Zeitpunkt dafür gesorgt hat, dass ihm eine weitere, ganz neue Aufgabe zufällt?

Rom 1520

Während der abschließenden Arbeiten an der Transfiguration erkrankte Raffael um den 28. März 1520 an einem Fieber. Noch vier Tage zuvor war er für den Kauf eines neuen Baugrundstücks bei einem Notar persönlich anwesend gewesen. Am 6. April kurz nach 22 Uhr – dem Karfreitag des Jahres 1520 und dem gleichen Tag (oder dem vorausgehenden Tag), an dem der Urbinate 37 Jahren zuvor, 1483, geboren worden war – stirbt Raffael in seinem Haus an der Piazza Scossacavalli beim Vatikan. Am nächsten Tag wird er im Pantheon bestattet. Eine ganze Reihe von Nachrichten und Gedichten auf seinen Tod rufen die Parallele zum Tod Christi am Karfreitag auf. Selbst ein einige Tage zuvor aufgetretener Riss in einer Wand des Vatikanischen Palastes wird im Nachhinein darauf gedeutet, dass sich bei Raffaels Sterben wie bei demjenigen Christi die „Steine/Erde aufgetan“ habe (Mt 27, 51).

An Explizitheit nicht zu überbieten ist die Wendung, mit Christus sei der „Gott der Natur“, mit Raffael der „Gott der Kunst“ gestorben. Auch einige Autoren, die das Alter des Urbinaten falsch mit 33 bzw. 34 Jahren angeben, hatten offenbar den angeblich in diesem Alter gekreuzigten Christus vor Augen. Wenn dann Vasari 1550 berichten wird, dass der Urbinate vor seinem letzten fast fertiggestellten Gemälde der Transfiguration aufgebahrt worden sei, dann verdichtet dies die Idee von Raffaels Christusangleichung in einem hochsymbolischen, einprägsamen Bild. Nicht erst das 19. Jahrhundert wird diese Szene in zahlreichen Gemälden festhalten. Als 1609 der „neue Raffael“, Annibale Carracci, mit 49 Jahren in Rom starb, sollte er ebenfalls im Pantheon bestattet und zuvor nun tatsächlich vor seinem letzten Werk, einer Verspottung Christi, aufgebahrt werden.

Allein für Raffael berichten die über 20 zeitnahen Quellen zu seinem Tod mit keinem Wort von einer solchen Inszenierung. Vor Vasaris Bericht 1550 sind auch keine anderen Künstler-Exequien bekannt, bei denen die Werke – oder gar das letzte Werk – präsentiert worden wären. Und eine solche programmatische Aufbahrung scheint angesichts der kurzen Zeit von im Prinzip nur einem halben Tag, bevor Raffael schließlich beerdigt wurde, auch wenig wahrscheinlich.

Über Vasaris erfundene Aufbahrungsgeschichte wurde erstaunlicherweise ein anderer, gut bezeugter und viel überraschenderer Umstand nicht weiter thematisiert: dass Raffael bereits am nächsten Tag im Pantheon seine letzte Ruhe fand. Für diese Kirche hatte er – so berichten die Quellen im Nachhinein, denn ein Testament ist nicht erhalten – ein erstaunlich hoch dotiertes Legat von 2100 Dukaten hinterlassen. Zum Vergleich: Für das Monument des 1523 verstorbenen Papstes Hadrian VI. wurden 1.000 Dukaten vorgesehen. Dieses Geld sollte dazu dienen, eine Kapelle architektonisch herzurichten und auszustatten, eine Madonnenstatue wohl nach Entwurf Raffaels auf dem Altar aufzustellen und ihn dort zu bestatten.

Raffael war als reicher Mann gestorben, nicht die umfangreichen Geldmittel stehen hier zur Diskussion. Wohl aber die Idee einer Kapelle im Pantheon, das vor ihm noch kein Künstler als letzten Ruheort gewählt hatte. Die wenigen früheren Grabmäler von Malern und Bildhauern in Rom, von Gentile da Fabriano, von Fra Angelico, Andrea Bregno oder den Brüdern Pollaiuolo waren im Anspruch nicht vergleichbar. Allein die Grabkapelle des 1506 verstorbenen Andrea Mantegna in Mantua lässt sich als ähnlich ambitioniertes Projekt anführen.

Dass Raffael das Pantheon, nicht unbedingt die populärste Marien-Kirche zu diesem Zeitpunkt, wählte, ist vor allem aus seiner Beschäftigung mit dem antiken Rom und dessen Bauten – darunter prominent das Pantheon – zu verstehen. Im Zentrum der antiken Stadt, im idealen Rundbau und zugleich in einer Kirche der von ihm verehrten Gottesmutter – und mit einer prominenten Lukas-Ikone – will er bestattet werden. Wann genau dann die neue Marmor-Rahmung der Ädikula, wann genau die Marmorstatue der Madonna mit Kind und die Grabinschrift für Raffael angebracht wurden, ist unbekannt – jedenfalls wurde 1523 das Monument schon besichtigt.

All dies zeigt, dass sich Raffael schon seit längerem – nicht erst wenige Tage vor seinem Tod – mit der Frage seiner Grabstätte beschäftigt haben muss. Idee und Arrangement sind zu außergewöhnlich und durchdacht für eine Fieber-Phantasie kurz vor dem Ableben. Mindestens dreierlei lässt sich aus diesen Überlegungen folgern: Für Raffael kam – erstens – sein Tod nicht ganz überraschend. Nach den Lebenszyklus-Vorstellungen der Zeit verstarb Raffael mit 37 Jahren nicht besonders jung. Der Höhe- und Wendepunkt im Leben eines Mannes galt mit 35 Jahren erreicht. Raffael als Karrierestratege hat sich schon vor April 1520 seit einiger Zeit Gedanken über seine Grablege gemacht.

Zweitens sind Ort und Form dieser Kapelle als doppelte Referenz an die Antike zu verstehen und zugleich schreibt sich Raffael selbstbewusst mit seinem Monument in die Ewigkeit Roms ein. Bei aller Verehrung der Maria und Sorge um das eigene Seelenheil reklamiert Raffaels Grabkapelle dabei eine ganz neue Größe und Aufmerksamkeit. Schließlich ziert – drittens – kein Gemälde des Malers selbst, sondern die antikische Madonnenstatue den Altar. Anders gesagt: Raffaels Maßstab war die antike Kunst, sein doppeltes Projekt galt der Rekonstruktion des antiken Roms und einer Anhebung der modernen Kunst auf das Niveau der Antike. Die Lektion, wie man sich dauerhaften Künstlerruhm sichert und welche Rolle ein solches Grabmonument dabei spielte, hatte Raffael zu dieser Zeit vollkommen gelernt.

Dass dann 1536 Baldassare Peruzzi, Perino del Vaga, Giovanni da Udine und weitere Künstler neben Raffael bestattet werden wollten, dass sich bei Raffaels Grab 1543 eine Bruderschaft der Virtuosi dell’arte konstituieren und seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Idee eines Pantheons berühmter Künstler und Geistesgrößen allgemein entwickeln sollten, war für Raffael selbstverständlich nicht vorherzusehen. Doch signalisiert auch dies, dass durch Raffael ein neues Bewusstsein dafür entstanden ist, wie man sich als berühmter Künstler verewigt.

Das Resultat reicht bis zum roten Teppich der Oscar-Verleihung in Hollywood. Raffaels Karriere – im Rückblick ein kometenhafter Ruhm zumindest bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts – lässt sich nicht als geradliniger Weg und immanente Entwicklung einer genialen Künstlerpersönlichkeit verstehen. Die interessante Leistung Raffaels liegt vielmehr auch darin, zu entscheidenden Momenten seines Lebens, als die Optionen offen und der weitere Fortgang unvorhersehbar war, mit aller Energie vorteilhafte Karriereentscheidungen getroffen, Aufmerksamkeit erzeugt und die richtigen sozialen Netzwerke bedient zu haben. Damit bereitet er wesentlich das moderne Kunstsystem vor.

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