Rassismus in klassischen Werken der philosophischen Tradition

Am Beispiel der Schriften von Immanuel Kant

Im Rahmen der Veranstaltung Philosophische Tage 2022, 24.11.2022

© mheim3011, canva

In vielen klassischen Texten der philosophischen Tradition treffen wir auf Passagen, die mindestens nach heutigen Maßgaben als rassistisch gelten. Schon seit ein paar Jahren wird über dieses Thema sowohl in der Öffentlichkeit als auch innerhalb des akademischen Diskurses diskutiert. Einige Sendungen, Artikelserien und Diskussionsreihen eröffnen die Diskussion mit einer Fragestellung nach dem folgenden Schema: „War – zum Beispiel: Kant, Fichte oder Hegel, aber auch: Hannah Arendt oder Max Weber ein Rassist / eine Rassistin?“. Man könnte daraus den Auftrag entnehmen, die Klassiker nun der Reihe nach durchzugehen, sie auf rassistische Gehalte und Ideologien hin zu untersuchen, um dann ein Urteil über sie zu fällen. Ich halte diese Vorgehensweise für wenig zielführend, weil bereits die Fragestellung das Untersuchungsfeld auf problematische Weise verengt und – wie ich im Folgenden andeuten möchte – dadurch wichtige, weitere Aspekte und Dimensionen des Themas nicht mehr in den Blick kommen.

Dies möchte ich aber nicht im Allgemeinen behaupten, sondern auf der Grundlage einiger ausgewählter Stellen, und zwar exemplarisch an Stellen aus der Philosophie Kants, auch demonstrieren. Ich möchte damit eine Vorstellung davon vermitteln, wie komplex die Auseinandersetzung mit solchen Stellen sein sollte, wenn wir aus dieser Auseinandersetzung nicht nur Einsichten über die philosophische Tradition, sondern auch über unsere heutige philosophische Praxis gewinnen wollen.

Diese Fragestellung eröffnet die Gelegenheit, nicht einfach nur die Klassiker durchzugehen und aus einer vorgeblich moralisch überlegenen Position distanzierter Richter:innen über sie zu urteilen, sondern auch uns selbst, unsere Rezeptionshaltungen und -erwartungen kritisch zu reflektieren. Über die „großen Individuen“ zu richten, ist schon deshalb nicht sonderlich produktiv, weil diese Verfahrensweise das Problem des Rassismus individualisiert und historisiert (also: es als ein Problem bloß von Individuen der Vergangenheit, von Kant, Fichte, Max Weber, Hannah Arendt und anderen erscheinen lässt und es dadurch als ein Problem bloß der historischen Vergangenheit von uns distanziert). Entsprechend würden dann zum Beispiel unsere offensichtlich ja nicht unproblematischen, bisherigen Weisen, die Klassiker zu lesen und sie zu diskutieren, gar nicht als Gegenstand der Untersuchung auftauchen. Ich denke daher, wir müssen sozusagen „mit ins Boot“ – und zwar nicht als Richter:innen über die Klassiker, sondern als diejenigen, die durch und im Arbeiten mit den klassischen Werken Kants, Hegels, Fichtes … wesentlich daran teilhaben, wie die Rezeption künftig fortgesetzt wird und ob sich dabei im Umgang mit der rassistischen Tradition ein angemessenes Problembewusstsein entwickeln wird.

Wir könnten die kritische Auseinandersetzung mit den Rezeptionshaltungen, die wir gegenüber den klassischen Werken einnehmen, für die Frage nutzen, welche Formen der Rezeption wir unhinterfragt als selbstverständlich ausgebildet haben, wie wir unsere (Philosophie-)Geschichte schreiben, welche Philosophien wir darin aufgenommen haben (und welche nicht) und in welcher Weise wir Philosophen und Philosophinnen der Tradition (aber vielleicht sogar unserer Gegenwart) zum Beispiel zu „großen Denker:innen“, von denen wir auch moralische Perfektion erwarten, stilisieren. Ich formuliere hier also die Hoffnung, dass die kritische Auseinandersetzung mit der langen rassistischen Tradition des eigenen Faches auch Wirkung zur kritischen Transformation fest etablierter, unhinterfragter Begriffe und Methoden „der“ – insbesondere: europäischen oder westlichen – Philosophie entfalten könnte.

Wenn es nur so einfach wäre … Berücksichtigung historischer Konstellationen

Die kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Klassikern geht nicht darin ­auf, schematisch die betreffenden Stellen zu identifizieren und sie als Fälle von Rassismus auszuzeichnen. Schon dies ist in vielen Fällen nicht so einfach. Aber wenn man in der Auseinandersetzung auch noch etwas über die Wirkungsweisen rassistischer Äußerungen und über die mannigfaltigen Formen, in denen Rassismen unter Umständen bis heute ihre Wirkungen entfalten, in Erfahrung bringen möchte, muss man meines Erachtens etwas tiefer einsteigen. Tiefer einsteigen bedeutet in diesem Zusammenhang: auch etwas über den Status, die Stellung und die Tragweite, die diese Stellen in den jeweiligen Theorien und innerhalb der zeitgenössischen Diskussion haben, in Erfahrung zu bringen – ohne die Befunde unter einer bereits im Vorhinein gefassten apologetischen oder verurteilenden Intention zu gewichten. Dazu scheint es mir unerlässlich,

a. die jeweiligen Passagen im jeweiligen historischen Diskurs zu kontextualisieren. Es nicht zu tun, wäre deshalb problematisch, weil erst in der konkreten Situierung beurteilt werden kann, ob der mitunter zur Legitimation herangezogene jeweilige Zeitgeist tatsächlich so homogen war, wie das mitunter ­
propagiert wird.

b. herauszuarbeiten, auf welche konkreten Fragen der zeitgenössischen Diskussion die jeweiligen Autorinnen und Autoren mit ihren, teils auch hochproblematischen Konzeptionen antworten. Dies einzubeziehen, ist auch unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten wichtig und eröffnet uns möglicherweise Einsichten, die wir prospektiv zur Kritik unseres Forschens benötigen könnten.

c. und nicht zuletzt bedarf es, schon um der historischen und philosophischen Redlichkeit willen, der Klarlegung, um welche Textsorten es sich im jeweiligen Fall handelt und welche Validität der entsprechenden Quelle zukommt.

Historischer Kontext und Homogenität des Zeitgeistes …

Ich möchte mit einer Passage aus Kants Beobachtungen über das Schöne und Erhabene beginnen, um die Komplexität, von der ich eingangs gesprochen habe, zu demonstrieren:

„Die … haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege. Herr Hume fordert jedermann auf, ein einziges Beispiel anzuführen, da ein … Talente gewiesen habe, und behauptet: daß unter den hunderttausenden von …, die aus ihren Ländern anderwärts verführt werden, obgleich deren sehr viele auch in Freiheit gesetzt werden, dennoch nicht ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder Wissenschaft, oder irgend einer andern rühmlichen Eigenschaft etwas Großes vorgestellt habe, obgleich unter den Weißen sich beständig welche aus dem niedrigsten Pöbel empor schwingen und durch vorzügliche Gaben in der Welt ein Ansehen erwerben. So wesentlich ist der Unterschied zwischen diesen zwei Menschengeschlechtern, und er scheint eben so groß in Ansehung der Gemüthsfähigkeiten, als der Farbe nach zu sein“.
(Immanuel Kant, Beobachtungen über das Schöne und Erhabene [1764], AA 2: 253)

Ich habe hier die Ausdrücke wie das N. Wort und überhaupt die Anzeige auf bestimmte Menschengruppen herausgenommen – aus dem Grunde, weil es in der Beschäftigung mit dieser Stelle nicht wichtig ist, welche „Anderen“ nun unter Bezug auf negative, vorgeblich natürliche Eigenschaften herabgesetzt werden.

Da die Frage der Darstellung aber wichtig ist, will ich kurz eine Überlegung dazu äußern. Ich bin generell der Ansicht, dass man in wissenschaftlichen Kontexten die Quellen unbearbeitet vorlegen und über sie, so wie sie als Quellen verfasst sind, diskutieren muss – schon deshalb, damit wir uns keine Illusionen über unsere Tradition machen; aber das wiederholte laute Vorlesen und die Wiederholung von rassistischen Bezeichnungen oder Verbindungen führt unwillkürlich zur „Normalisierung“ der Aussprechbarkeit und verkennt freilich das Problem, auf das Judith Butler und eine ganze Reihe von Sprachphilosoph:innen hinweisen: dass jede Zitation den Ausdruck in der Sprache oder besser: in unserem Sprechen hält und dass mit jeder Zitation auch wieder alle Klischees und verletzenden Assoziationen aufgerufen und die so bezeichneten Personen ein weiteres Mal herabgewürdigt werden.

Was die betreffende Stelle angeht, so spricht der Autor Kant hier nur in Teilen selbst. Er referiert vielmehr David Hume, und der ist es, der in einer Schrift über die Nationalcharaktere (ein Thema, das viele Autoren dieser Zeit beschäftigt hat) diese Gedanken äußert.

Bei der Schrift von Hume handelt sich um eine Anmerkung und es ist durchaus interessant und der Untersuchung wert, was Kant aus dieser Stelle macht. Er zitiert nicht wörtlich (was er in der Regel nie macht), sondern offensichtlich aus dem Gedächtnis und fügt auch seine eigenen Überlegungen und Schwerpunkte in das Hume-Referat ein. Auch wenn sich ohne Frage zu dieser Transformation der Hume-Stelle noch viel sagen ließe, werde ich mich auf einen Aspekt beschränken.

Hume verlangt nach einem Beispiel zur Widerlegung seiner Hypothese, dass es einen natürlichen und damit die jeweilige Entwicklungsfähigkeit festschreibenden Unterschied zwischen den Nationen gebe. Dieses Gegenbeispiel hat ihm seiner Ansicht nach noch niemand liefern können, daher, meint er, kann er an seiner Hypothese von der Unterlegenheit bestimmter Nationen festhalten. Er führt Jamaika an, als ein Beispiel, das seine Hypothese widerlegen könnte, denn dort soll es einen Gelehrten geben. Aber, so mutmaßt Hume, dieser Gelehrte wird sicher nicht den europäischen Standards des Gelehrtentums standhalten können, sondern wird vermutlich nur nach jamaikanischen Maßstäben als gelehrt bewundert.

Kant unterschlägt in seinem Hume-Referat sogar diesen einen Fall. Und er hätte sogar selbst mit Anton Wilhelm Amo (verm. 1703–1759) von einem weiteren Fall wissen können, der Humes Hypothese von der natürlichen Unterlegenheit erschüttert hätte.

Amo wurde aus Westafrika verschleppt, er bildete sich aus, studierte in Halle, promovierte dort, lehrte und forschte in Halle und in Jena und wurde – auch nach den damaligen europäischen Maßstäben – als Gelehrter anerkannt. Blumenbach, dessen Theorie der Epigenesis Kant rezipierte, hat Amo und seine wissenschaftliche Arbeit gegen zeitgenössische rassistische Diskriminierungen verteidigt und soll ihn sehr geschätzt haben (siehe dazu Bärbel Völkel, Kants »stinkende ›N‹« und Anton Wilhelm Amo, Privatdozent für Philosophie in Halle. Kritische Blicke auf den Rassismus der deutschen Aufklärung, in: Stefan Knauß, Louis Wolfradt, Tim Hofmann, Jens Eberhard (Hrsg.): Auf den Spuren von Anton Wilhelm Amo: Philosophie und der Ruf nach … Transkript Verlag 2021; ferner: Brentjes, Burchard. 1976. Anton Wilhelm Amo. Der schwarze Philosoph in Halle. Leipzig: Köhler & Amelang. Brentjes 1976, 72).

Über Anton Wilhelm Amo wurde viel berichtet und Kant hatte – sei es über die zeitgenössischen Magazine sei es durch die lebhafte Gesprächskultur, die ihm die Hafenstadt Königsberg ermöglichte – von ihm wissen oder sich weiter über ihn informieren können.

Kant schreibt im Unterschied zu Hume den freigelassenen Sklaven zwar grundsätzlich eine gewisse Freiheitsfähigkeit zu, aber er betont, dass die freigelassenen Sklaven ihre Freiheit offensichtlich nicht dazu genutzt haben, um sich zu kultivieren. Das wirkt in Anbetracht der vorangehenden Unfreiheiten, des erlittenen Unrechts und der alle Freiheit in ihrer Entwicklung verhindernden Grausamkeiten der Sklaverei ausgesprochen zynisch; und Kant schließt dann auch mit einer deutlich rassistischen Analogie, wenn er schreibt: „So wesentlich ist der Unterschied zwischen diesen zwei Menschengeschlechtern, und er scheint eben so groß in Ansehung der Gemüthsfähigkeiten, als der Farbe nach zu sein.“

Kant bezog sich, wie diese Kontextualisierung zeigt, auf Autoritäten des zeitgenössischen Diskurses und schöpft aus ihm vorliegenden Quellen; die zeitgenössischen Verhältnisse aber waren, wie schon allein die Existenz und die Diskussion um Anton Wilhelm Amo dokumentieren, keineswegs so homogen, als dass sie nicht auch für Irritationen (und Widerlegun-
gen aufgestellter Hypothesen) bereits angenommener Vorurteile hätten sorgen können.

Fragen des Diskurses – Demonstration an Kants Race-Begriff

Wenn man sich etwa mit dem „Race-Begriff“ bei Kant beschäftigt, dann ist es wichtig zu wissen, dass Kant für die Entwicklung eines Rassebegriffs durchaus auch ein sachliches Motiv hatte. In der Kontroverse, etwa mit dem zeitgenössischen Naturforscher und weit gereisten Georg Forster zeigt sich: Es ging Kant darum, die Einheit der Menschen als Gattung nachzuweisen und entsprechend: eine wissenschaftliche Erklärung für die Genese beobachtbarer Unterschiede zu geben. Diese Dimension seiner Rassetheorie nicht zu rezipieren, verstellt uns wichtige Einsichten in die problematischen Übergänge zwischen wissenschaftlichen Anliegen und ihrer weiteren ideologischen Verstrickung, denen auch wir in unseren Forschungen erliegen könnten.

Wenn man etwa die folgende Stelle liest, mutet die Verwendung des „Race-Begriffs“ erst einmal nicht „rassistisch“ an. „Der Begriff einer Race enthält erstlich den Begriff eines gemeinschaftlichen Stammes, zweitens notwendig erbliche Charaktere des klassischen [gemeint ist die Klasse im Unterschied zur Gattung – Erg. der Verf.in] Unterschiedes der Abkömmlinge desselben von einander. (…)
Die Klasse der Weißen ist nicht als besondere Art in der Menschengattung von der der Schwarzen unterschieden; und es gibt gar keine verschiedene Arten von Menschen.“ (Immanuel Kant, Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse [1785], AA 8: 99–100)

Der Race-Begriff hat in diesem Zusammenhang die Funktion zu zeigen, dass sich bestimmte körperliche Eigenschaften auch bei dauerhaftem Wechsel in eine andere Klimazone über Generationen weitervererben. Damit verbunden ist vor allem der Versuch, die engen Grenzen des Race-Begriffs aufzuzeigen, ihn überhaupt einmal zu definieren und ihn von seiner irrationalen Ausweitung (zum Beispiel bis zur Gattung) zu bewahren. Kant geht es darum, trotz unterschiedlicher Phänotypen (Rassen) die Menschen auf einen Urstamm zurückzuführen und damit Einheit in ein empirisch beobachtbares Mannigfaltiges zu bringen. Das theoretische Interesse an einer Einheit ist darauf gerichtet, die empirische Mannigfaltigkeit einer organischen Gattung nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu erklären – und dies ist nach Kant keine Aufgabe, die die Naturbeschreibung leisten kann, sondern eine der Naturgeschichte. Erklärungen für eine Einheit haben entsprechend auch einen besonderen epistemischen Status, d. h. sie gründen auf historischen Begriffen und nicht auf Begriffen der empirischen, beschreibenden Naturforschung. Heute würden wir sagen: Solche Erklärungen haben nicht den Status von biologischen Erklärungen und die darin verwendeten Begriffe sind keine naturwissenschaftlichen.

Nun könnte man meinen, der Kantische Race-Begriff transportiere daher auch keine rassistischen Vorstellungen, denn Unterschiede werden gerade als Unterschiede einer Einheit, einer Gattung formuliert. Dass es so einfach nicht ist, kann einem klar werden, wenn man etwa folgende Stelle aus der sogenannten Physischen Geographie zur Kenntnis nimmt. „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen.“ (Immanuel Kant, Physische Geographie [Vorlesungsnachschriften zwischen 1756 und 1796], AA 9: 316)

Wenn man diese Stelle liest, wird man sich fragen, welche Rolle darin noch die Einheit der Gattung spielt bzw. ob und wie die hier vorgenommene Hierarchisierung der Rassen mit der anderwärts geforderten Einheit der Gattung kompatibel ist.

Zu berücksichtigen ist, dass es sich bei der Physischen Geographie um eine andere Schrift handelt, und dass diese auch einen anderen Status hat als die vorher zitierte sogenannte Rasseschrift. Bei der Physischen Geographie handelt es sich um Vorlesungen, die Kant über Jahrzehnte gehalten hat und dies bereits von Beginn seiner Privatdozentur (1755) bis zum Ende seiner Vorlesungstätigkeit im Sommer 1796. Kant war während dieser Zeit, wie Werner Stark nachgewiesen hat, ein wacher Beobachter der naturforschenden Publikationen seiner Zeit und hat versucht, seine Zuhörer mit diesen Entwicklungen vertraut zu machen. Entsprechend erschließen sich die Inhalte der Physischen Geographie auch erst über den Bezug auf einschlägige Reiseberichte, auf Schriften von Naturforschern, auf Lexika der Mineralogie etc., die Kant exzerpiert und seinen Vorlesungen zu Grunde gelegt hat. Werner Stark hat die Vorlesungen zur Physischen Geographie im Rahmen der Akademie-Ausgabe herausgegeben und ihre Quellen zu entschlüsseln versucht.

Die hier zitierte Stelle ist zum Beispiel ein fast ein wörtliches Zitat aus Buffons Allgemeiner Historie der Natur:
„Die Natur hat in ihrer größten Vollkommenheit weiße Menschen gebildet, und die auf das höchste veränderte Natur bildet sie gleichfalls weiß.“ aus: Georges-Louis Leclerc de Buffon: „Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besondern Theilen abgehandelt; nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königs von Frankreich. Zweyter Teil. Übersetzung und Vorrede: Albrecht von Haller, bey Georg Christian Grund und Adam Heinrich Holle, Hamburg und Leipzig: 1752, S. 300

Daran kann man erkennen, wie etabliert bestimmte Sichtweisen in der damaligen Diskussion waren: Buffon war ein einschlägiger Autor und eine Autorität. Diese Kenntnis dient nicht der Entlastung, denn Kant hätte Buffon ja auch nicht zitieren müssen, und er hätte diese Form der schlichten Teleologie sogar mit den Mitteln seiner eigenen Theorie einer Kritik unterziehen können.

Um der Gerechtigkeit willen muss man noch betonen: Die Texte zur Physischen Geographie sind auch nur Nachschriften – nicht einmal Mitschriften. Michael Wolff, seinerseits angesehener Kantforscher, hat daher gemeint, dass Kant in seinen Vorlesungen sicherlich die herabwürdigenden Passagen von Buffon oder anderen kritisch kommentiert habe. Das mag so gewesen sein, aber davon haben wir bislang keine Zeugnisse, auch nicht in den durchaus verschiedenen Nachschriften.

Der Sache nach ist die Auseinandersetzung mit solchen Stellen dennoch wichtig, weil sie uns die Übergänge zeigen kann, die von einem sachlichen Anliegen zu einer ideologischen Position führen: Die Naturgeschichte, die Kant hier betreibt, hat das sachliche, das wissenschaftliche Ziel, die Varietäten der Menschen, die sichtbaren Unterschiede als Unterschiede einer Einheit, einer Menschengattung zu integrieren. Dahinter steht auch ein bestimmtes emanzipatorisches Anliegen: Was nämlich den Rassebegriff für Kant, für Blumenbach und übrigens auch für Voltaire interessant machte, war das Versprechen, dadurch eine natürliche, das heißt von der Theologie unabhängige Ordnung der Welt und der in ihr lebenden Menschen zu erschließen.

Problematisch ist dagegen die spezifische Art und Weise, wie diese Integrationsleistung von vielen Aufklärern vollzogen wird: im Rahmen einer Naturgeschichte. Kant will sie von der Naturbeschreibung unterschieden wissen, denn die Naturgeschichte reflektiert die Ergebnisse der Naturforschung „teleologisch“, nämlich im Hinblick auf ein ideales „Ziel“ hin und das wiederum liegt in der allmählichen Vervollkommnung der Menschheit. Um es kurz zu machen: Die außereuropäischen Ethnien (wie auch Angehörige niederer Klassen oder des sogenannten „schönen Geschlechts“ europäischer Länder) werden in diese teleologische Naturgeschichte als Vorstufen der vorgeblich in Europa (bzw. der europäischen Elite) bereits erreichten „Vollkommenheit“ integriert. Auf diese Weise wird der zunächst im Allgemeinen etablierte Universalismus der Gattung in concreto – angetrieben von einem überhöhten Selbstverständnis und Machtinteressen einer bestimmten Gemeinschaft – wieder unterlaufen. Dies ist eine Struktur, die ich hier an Kant exemplifiziere, die aber als Struktur und als problematische Denkfigur keineswegs nur auf Kant zutrifft. Auch heute können wir auf ein solches teleologisches und an der Fortschrittsgeschichte bestimmter Gemeinschaften orientiertes Geschichtsbild in vielen Zusammenhängen treffen.

Die Verhältnisse in Bezug auf die Rechte der Frauen bzw. des weiblichen Hauspersonals in Katar werden in unserem öffentlichen Diskurs etwa mit dem (europäischen) Mittelalter verglichen, – also einer Phase der europäischen Geschichte über die „wir“, die Europäer, scheinbar schon lange hinaus sind. Mit diesem Hinweis möchte ich nicht das Unrecht relativieren, das Frauen und dem weiblichen Hauspersonal ihn Katar geschieht, sondern die problematische Denkfigur der Überlegenheit, die sich in dieser Einordnung anderer Gesellschaften in Frühphasen „unserer“ Geschichte zeigt, demonstrieren.

Was aber geht es uns an? Tradierung rassistischer Gedanken und Vorstellungen in Klassischen Texten

Nun habe ich versucht, Sie ein wenig mit den Erscheinungsformen des Rassismus und auch mit der Weise der Streuung und Tradierung (von Hume über Buffon zu Kant und anderen) bekannt zu machen, auf die wir in den Klassischen Werken treffen. Ich habe aber auch gemeint, dass wir uns nicht in der Rolle von Richtern über in diesem Fall Kant, Hume, Buffon einrichten sollten, weil

  • diese Verfahrensweise das Problem des Rassismus individualisiert und historisiert
  • und wir „mit ins Boot“ müssten, und zwar nicht als Richterinnen über die Klassiker, sondern als diejenigen, die durch und im Arbeiten mit den Klassischen Werken Kants, Hegels, Fichtes wesentlich daran teilhaben, wie sie rezipiert werden, ob sich ein angemessenes Problembewusstsein entwickelt, und wie es künftig weitergeht.

Nun, uns geht es heute schon deshalb etwas an, weil wir uns fragen müssen, wie wir die Geschichte des Fachs künftig schreiben sollen. Sollen
wir weiterhin, statt an konkreten ­Diskussionskonstellationen an der problematischen Konzentration auf sogenannte große Individuen festhalten? Verweigern wir nicht dadurch, dass wir uns nun deren Rassismus zuwenden, den Opfern der Verdrängung, den aus der Philosophiegeschichtsschreibung ausgeschlossenen Philosophinnen und Philosophen, ein weiteres Mal eine angemessene Rezeption? Vielleicht sollten wir gerade dieses, mit der Klassikerproduktion verbundene Bild des Genies, das alles aus sich selbst schöpft, korrigieren, auch, weil es keine aufschließenden Einsichten in die tatsächliche Entwicklung philosophischer Theoriebildung – und auch nicht in deren Irrtümer vermittelt.

Außerdem stilisiert die Philosophiegeschichtsschreibung der großen Individuen die Autorinnen und Autoren darüber hinaus zu – in ihrem Denken durchweg kohärente, konsistente, sich selbst durchsichtige – Personen, die wir dann auch unter derart idealisierten Maßgaben be- oder verurteilen, statt mit den Ambivalenzen in den Werken und in den Personen – nun – eben kritisch umzugehen.

Für die Überlegung, dass wir „mit im Boot sitzen“ – und zwar nicht als Richter, sondern als Teil dieser rassistischen Tradition, von der viele von uns möglicherweise mehr und tiefer geprägt sind, als sie das in idealisierten Selbstbeschreibungen wahrhaben wollen, ist eine weitere Kant-Stelle ganz aufschlussreich.

Sie stammt aus einer soliden Quelle, aus einer „kritischen“ Schrift“, aus der GMS. „Da sieht man nun, daß zwar eine Natur nach einem solchen allgemeinen Gesetze immer noch bestehen könne, obgleich der Mensch (so wie die Südsee-Einwohner) sein Talent rosten ließe und sein Leben bloß auf Müßiggang, Ergötzlichkeit, Fortpflanzung, mit einem Wort auf Genuß zu verwenden bedacht wäre; allein er kann doch unmöglich wollen, daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde, oder als ein solches in uns durch Naturinstinkt gelegt sei. Denn als ein vernünftiges Wesen will er notwendig, daß alle Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und gegeben sind “. (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785], AA 4: 423)

Kontext: AA 4: 421 (Hervorh. durch die Verf.in):

„Nun wollen wir einige Pflichten herzählen, nach der gewöhnlichen Einteilung derselben … 1

1 Man muss hier wohl merken, daß ich die Einteilung der Pflichten für eine künftige Metaphysik der Sitten mir gänzlich vorbehalte, diese hier also nur als beliebig (um meine Beispiele zu ordnen) dastehe.

Mit dieser Stelle lässt sich meines Erachtens. zeigen, dass uns der Rassismus, der sich in Kants Texten befindet, gar nicht so fremd ist, wie wir uns das vielleicht wünschen. Wenn ich in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ von den „Südsee-Einwohnern“ lese, die er beispielhaft nennt für das Laster die Talente „rosten“ zu lassen und das Leben auf Müßiggang, Ergötzlichkeit, Fortpflanzung, mit einem Wort auf Genuß zu verwenden“, dann produziert meine „Einbildungskraft“ im Nu bereitwillig die ganzen Klischees, mit denen ich groß geworden bin (von Pippi Langstrumpfs Vater auf Taka Tuka, Robinson Crusoe), aber auf die man auch heute noch in angepriesenen Urlaubsidyllen, in der Bacardi-Werbung und anderen vorgeblichen Paradiesen, wie sie in zahllosen Filmen vermittelt werden, treffen kann. Die Subtilität liegt in dieser Stelle aber darin, dass die Leserin der GMS nicht, wie bei den Rasseschriften oder der Physischen Geographie schon ahnt, dass sie hier mit den Vorläufern unserer rassistischen Tradition zu tun haben wird, sondern annimmt, dass sie sich mit einer systematischen Schrift und deren systematischen Argumentationen auseinandersetzt, – also auch in einer entsprechenden Rezeptionshaltung ist, in der das Beispiel in der Klammer nebenbei serviert wird – und in gewisser Weise „out of focus“ dann doch seine Wirkung entfalten kann. Die Stelle zeigt, welches „rassistische Gift“ wir gleichsam unbemerkt und nebenbei „mitschlucken“, wenn wir die wichtigen, kritischen Einsichten Kants rezipieren.

Die (selbst-)kritische Auseinandersetzung nicht nur mit Stellen dieser Art, sondern auch mit unserer eigenen Rezeptionshaltung wäre gerade wichtig, um mögliche Blockaden der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen rassistischen Tradition heraustreten zu lassen, die aus dem grundsätzlichen Selbstverständnis des Fachs und den damit verbundenen, sogenannten „Fachmythen“ (Karl-Siegbert Rehberg) erwachsen. Einen solchen Fachmythos bildet in der Philosophie die feste Überzeugung, dass jederzeit alles der Kritik unterzogen werde: Meinungen, Theorien, auch die Bestimmungen sogenannter Grundbegriffe und damit verbundene Universalisierungsansprüche. Dieses Ideal kann zu dem Irrtum verleiten, man habe es schon realisiert, man habe die angenommenen Überzeugungen gewissenhaft geprüft und sei bereits vorurteilsfrei, obgleich man nur die normalisierten Rassismen nicht bemerkt. Sie können dann innerhalb der Philosophie bis heute ihre Wirkung entfalten; nicht selten wird ihre Kritik vom Selbstverständnis des Faches behindert. 

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