Das Thema ist ein sehr aktuelles, allerdings auch sehr komplexes. Ich gebe daher gleich zu Beginn zu bedenken, dass es mir nicht möglich sein wird, alle Aspekte auch nur anzusprechen und aufzuzeigen.
Weiterhin haben Sie einen Juristen eingeladen, der daher auch in erster Linie mit einem juristischen Blick auf die Fragen und Themen schauen wird. Das Thema kann auch aus gesellschaftspolitischen, soziologischen, religionswissenschaftlichen oder historischen Blickwinkeln beleuchtet werden. Ich würde mich freuen, wenn wir diese dann in der anschließenden Diskussion einbringen können.
Zu den folgenden Zahlen: Die Zahlen zu den christlichen Kirchen und der jüdischen Bevölkerung sind relativ genau und statistisch gut erfasst, durch die Körperschaften selbst aber auch durch staatliche Stellen. Die weiteren Zahlen sind im Wesentlichen Berechnungen und Schätzungen aufgrund von Befragungen und wissenschaftlichen Studien. Für die Beleuchtung der Fragen kommt es allerdings auch nicht auf die Stellen hinter dem Komma an. Vielmehr sind Tendenzen, Entwicklungen und Größenordnungen die ausreichende Grundlage für die Betrachtungen und Diskussionen.
Damit zu meinem eigentlichen Vortrag: Ich werde zuerst einige Zahlen zu den Entwicklungen der Religionszugehörigkeiten seit 1990, dann die verfassungsrechtlichen Grundlagen, Art. 4 GG und Art. 140 GG darstellen und im Anschluss aus meiner Sicht aktuelle und interessante Einzelfragen beleuchten.
Religionszugehörigkeit in Deutschland
1990 waren rund 35,4 % (ca. 28 Mio.) der Bürgerinnen und Bürger römisch-katholisch und 36,9 % (ca. 29 Mio.) evangelisch, 3,7 % Muslime und 22,4 % konfessionsfrei. Ein kurzer Rückblick und Vergleich mit den Zahlen aus dem Jahr 1987 für die alte Bundesrepublik machen die Veränderungen durch die Wiedervereinigung sehr deutlich: 1987 waren ca. 42,9 % römisch-katholisch und 41,6 % evangelisch, 2,7 % Muslime und 11,7 % konfessionsfrei.
In der DRR waren nur knapp 40 % der Menschen Mitglied einer christlichen Kirche, diese überwiegend evangelisch. Die Mehrheit und das war auch Ziel der Staatspartei SED war konfessionslos.
Im Vereinigungsprozess hätte man einen anderen Eindruck haben können, als wäre die DRR ein Staat der Pfarrer und Rechtsanwälte, die dann auch noch für die Kirche gearbeitet hatten.
Die Kirchen in der DDR hatten den Oppositionellen Freiräume gegeben, und so gerade in den ersten Monaten der friedlichen Revolution auch den strukturellen Rahmen geboten. Allerdings hatten die Kirchen nicht unbedingt immer religiöse Bindungen aufgebaut. Dies zeigt sich auch in den Folgejahren mit vielen Kirchenaustritten. Aber unabhängig von diesen „DDR-Besonderheiten“ hatten beide christlichen Kirchen in den folgenden 30 Jahren erhebliche Mitgliederverluste hinzunehmen.
Im Jahre 2021 stellten sich die Zahlen wie folgt dar: römisch-katholisch 26 % und evangelisch 24 % der Bevölkerung, Muslime 4 % und konfessionsfrei 42 %. Dieser Trend hat sich 2022 weiter fortgesetzt! Die Christen sind mittlerweile in der Minderheit, unter 50 % der Bürgerinnen und Bürger.
Der aktuelle Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung beschreibt für Deutschland einen eklatanten Bedeutungsverlust der Kirchen. Danach ist es eigentlich keine Abwendung von der Religion, sondern von den Kirchen. Ca. 5.000 Menschen wurden in Deutschland befragt und fast 90 % der Kirchenmitglieder stimmten der Aussage zu, man könne auch ohne Kirche Christ sein. Sehr viele Kirchenmitglieder erwägen danach auch einen Kirchenaustritt: 66 % der Katholiken und 33 % der Protestanten. Diese Krise der Institution Kirche wird auch deutlich an der Zahl derjenigen, die das Vertrauen in religiöse Institutionen verloren haben: ca. 62 %!
Erklärungsversuche für die Entwicklung: In der Religionssoziologie werden im Wesentlichen 3 Theorien über den Wandel der Rolle der Kirchen und Religionsgemeinschaften diskutiert: 1) die Säkularisierungstheorie: Prozesse der Modernisierung einer Gesellschaft gehen mit einer Marginalisierung der Religion einher. 2) das Ökonomische Marktmodel: Das Angebot der großen Kirchen ist nicht ausreichend und auf die Bedürfnisse der Zielgruppen zugeschnitten. 3) die Individualisierungstheorie: Weder Bedeutungsverlust oder -zuwachs, sondern Begriff und Praxis von Religiosität sind in einem starken Wandlungsprozess.
Ich bitte um Verständnis, wenn ich hierzu keine abschließende Stellung beziehe, welche Theorie den besseren Erklärungsansatz bietet. Natürlich spielen auch innerkirchliche Entwicklungen bzw. Erkenntnisse über Verfehlungen eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Ein Punkt kommt mir allerdings bei allen Ansätzen etwas zu kurz: der demografische Wandel. Die älter und kleiner werdende Gesellschaft ist besonderen Herausforderungen ausgesetzt, die auch nicht spurlos an den Kirchen und Religionsgemeinschaften vorbeigeht. Zwar sind wir im Augenblick wieder insgesamt eine wachsende Gesellschaft, dies allerdings ausschließlich aufgrund von Zuwanderung. In der autochthonen Gesellschaft ist die Entwicklung noch nicht gebrochen. Das hat zur Folge: kleiner werdende Kirchengemeinden, Zusammenlegung von Gemeinden, damit Verlust von Identität in der Gemeinde und erheblich mehr Sterbefälle in den Kirchen als Taufen.
Entwicklung des Judentums
Im Jahre 2021 haben wir in Deutschland ein besonderes Jubiläum feiern können: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Ein Edikt des Kaisers Konstantin vom 11. Dezember 321 an die jüdische Gemeinde in Köln ist der erste urkundliche Beleg für Juden in seinem Herrschaftsbereich und damit auch in dem Gebiet, das heute zu Deutschland gehört.
Wir wissen alle, dass die dann folgende Geschichte sehr, sehr wechselvoll in den Jahrhunderten war. Erst 1871 erfolgte im Deutschen Reich die formale rechtliche Gleichstellung, dies führte jedoch noch nicht zur umfassenden gesellschaftlichen Gleichstellung. Das Leben war aber bis 1933 zumindest rechtlich gesichert. 1933 begannen die Rechtlosstellung und die Vertreibung, zuerst aus dem öffentlichen Leben, dann aus Deutschland und mündete in der Vernichtung, dem Holocaust. Unmittelbar nach der Kapitulation im Jahre 1945 wurden wieder erste jüdische Gemeinden gegründet. Der Zentralrat der Juden, die bundesweite Dachorganisation der jüdischen Gemeinden in Deutschland wurde 1950 in Frankfurt gegründet. 1963 wurde er als Körperschaft des öffentlichen Rechts (KöR) anerkannt.
Seit der Wiedervereinigung hat sich die Mitgliederzahl der Gemeinden erheblich erhöht. Dies lag nicht an der Wiedervereinigung selbst. In der DDR waren nur ca. 500 Juden in 5 Gemeinden organisiert. Seit 1989 sind ca. 200.000 Menschen jüdischen Glaubens aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen, die sogenannten Kontingentflüchtlinge.
Heute zählt der Zentralrat ca. 100.000 Mitglieder in seinen Gemeinden. Insgesamt wird von ca. 200.000 jüdischen Menschen in Deutschland ausgegangen. 2003 hat die Bundesregierung einen Staatsvertrag mit dem Zentralrat der Juden zur Förderung des jüdischen Lebens in Deutschland geschlossen. Seit 2018 werden 13 Mio. € jährlich gezahlt. Daneben werden auch weitere Projekte und Einrichtungen auf Bundes- und Landesebene gefördert.
Durch die Zuwanderung aus den Staaten der Sowjetunion aber auch durch die allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen hat sich die jüdische Gemeinschaft verändert. Zum einen sind die orthodoxen Juden stärker geworden, aber auch die Union der progressiven Juden tritt stärker in Erscheinung und ist zahlenmäßig gewachsen.
Islam in Deutschland
In Deutschland hat es immer Muslime gegeben, deren Zahl war jedoch so gering, dass sie als eigenständige gesellschaftliche Gruppe kaum wahrgenommen wurden. Dies änderte sich in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit den sogenannten Anwerbeabkommen für Arbeitnehmer mit der Türkei, Jugoslawien, Tunesien und Marokko. Ursprünglich war der Gedanke, Arbeitskräfte für eine bestimmte Zeit zu holen, die dann wieder in ihre Heimatländer zurückgehen sollten bzw. auch wollten. Es begann allerdings bald der sogenannte Familiennachzug, es entwickelten sich entsprechende Gemeinschaften mit allem, was dazu gehört und damit natürlich auch die „religiöse Versorgung“. Der Wunsch nach religiöser Betreuung führte dazu, dass Vorbeter und Imame aus den Heimatländern geholt wurden bzw. auch geschickt wurden.
In den 80ern und 90ern nahm die Zahl der Muslime nochmals zu. Insbesondere durch Flüchtlinge aufgrund von Kriegen, Bürgerkriegen oder Revolutionen – genannt seien hier nur die Islamische Revolution im Iran, Kriege in Afghanistan, der Zerfall von Jugoslawien, Kriege und Bürgerkriege im Libanon, Syrien und Irak.
Das alles hat zur heutigen ungefähren Zahl von 5,5 Mio. Muslimen in Deutschland (Schätzung BAMF) geführt. Davon werden ca. 4 Mio. als konfessionell gebunden angesehen. Die größte Glaubensgruppe unter den Muslimen bilden die Sunniten mit ca. 74 %, dann folgen die Aleviten mit ca. 13 % und die Schiiten mit ca. 7 %. Muslime mit türkischer Abstammung bilden mit ca. 2,5 Mio. die größte Herkunftsgruppe. Diese Zahlen machen deutlich, dass die Muslime in Deutschland eine sehr heterogene Gruppe bilden. Aber der Satz unseres ehemaligen Bundespräsidenten „Der Islam gehört zu Deutschland“ war und ist sehr wohl berechtigt!
Die größten sunnitisch geprägten Dachverbände sind die Türkisch-Islamische Union (DITIB, ca. 900 Gemeinden), der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (inkl. Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, ca. 400 Gemeinden), der Verband der islamischen Kulturzentren (VIKZ, ca. 300 Gemeinden) sowie der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD, ca. 300 Gemeinden). Daneben bestehen noch weitere konfessionell geprägte Dachverbände wie die Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF, ca. 100 Gemeinden), die Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden in Deutschland (IGS, ca. 140 Gemeinden) sowie die Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ).
Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt der Gläubigen behauptet von sich ca. 70 % der in Deutschland lebenden Muslime zu vertreten. Nach einer Studie von 2020 fühlen sich von der DITIB allerdings nur ca. 16 % aller Muslime und ca. 23 % der türkischstämmigen Muslime repräsentiert. Der Wunsch der Muslime nach religiöser Betreuung hier in Deutschland führte dazu, dass vielfach aus den Herkunftsländern und insbesondere natürlich aus der Türkei Imame und Vorbeter geholt bzw. auch geschickt wurden. Dies bot und bietet auch erhebliche Möglichkeiten der Einflussnahme der entsendenden Staaten bzw. der dortigen Religionsgemeinschaften auf die hier betreuten Menschen. Dies erfolgt insbesondere durch die Türkei aber auch durch Saudi-Arabien und den Iran.
Die DITIB wird von der türkischen Religionsbehörde Diyanet in Ankara mitfinanziert und gelenkt. Nach eigenem Bekunden vertritt die DITIB den türkischen Staatsislam mit dem Prinzip der Trennung von Staat und Religion. Die Gemeinden werden durch vom türkischen Staat besoldete Vorbeter (Hodschas/Imame) betreut.
Diese zwei Faktoren – fehlende Imame, die die deutsche Gesellschaft kennen und die hier ausgebildet wurden, sowie die durch die Entsendung und Finanzierung gegebenen Möglichkeiten der Einflussnahme anderer Staaten und damit auch Verfestigung der dortigen gesellschaftlichen Strukturen und Vorstellungen – stellen wichtige Punkte für die Probleme der Integration der Muslime in die deutsche Gesellschaft dar.
Dies führte zu Überlegungen einen Islam zu befördern, der in, aus und für Deutschland geschaffen wird und damit die gesellschaftlichen Fragen aufgreift, die die Muslime in Deutschland umtreiben. So wurde 2006 die Deutsche Islam Konferenz (DIK) gegründet. Die DIK wurde im September 2006 vom damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ins Leben gerufen. Damit legte er den Grundstein für einen langfristigen und umfassenden gesamtstaatlichen Dialog mit den in Deutschland lebenden Muslimen und ihren Vertretungen und Institutionen.
In der Vergangenheit tagte und arbeitete die DIK in festen Formaten und Foren. Es gab ständige, an Personen oder Organisationen gebundene Mitgliedschaften in Arbeits- und Lenkungsgruppen, denen bestimmte Themen und Arbeitsaufträge zugeordnet waren. Feste Gremien und dauerhafte Mitgliedschaften waren der organisatorische Ausdruck der Zielsetzung, in definierten Bereichen und festgelegten Arbeitsschritten zu konkreten Ergebnissen, Festlegungen und Empfehlungen zu kommen.
Dies bildet die Grundlage für die Arbeit der aktuellen DIK, die nun aber in themen- und anlassbezogenen, variablen und flexiblen Formaten arbeitet. Abhängig vom Gegenstand, von der jeweiligen Zielrichtung und von den betroffenen Akteuren bzw. Organisationen finden der Dialog und die Veranstaltungen mit unterschiedlichen Teilnehmenden statt. Formate sind z. B. Fachtagungen, Arbeitsgespräche, politische Dialogveranstaltungen, Werkstattgespräche und Podiumsdiskussionen, wobei diese Veranstaltungen öffentlich wie auch geschlossen sein können. Den Dialog ergänzt die finanzielle Förderung von Maßnahmen zur Umsetzung von Zielen der DIK.
Die DIK hat und hatte ein breites, vielfältiges Teilnehmerfeld. Zwar waren schon bisher islamische Dach- und Spitzenverbände, muslimische Einzelpersonen wie auch Vertreter aus Ministerien, den Bundesländern, den Kommunen und aus Wissenschaft und Praxis beteiligt und eingebunden. Doch (auch) die muslimische Gemeinschaft in Deutschland ist im Wandel. In den vergangenen Jahren sind zahlreiche neue Initiativen und Vereine außerhalb der traditionellen Moscheestrukturen entstanden, in denen sich insbesondere junge Muslime zusammengeschlossen haben, um Einfluss auf gesellschaftliche Debatten zu nehmen. Diese muslimische Meinungsvielfalt soll auch im Rahmen der DIK eingebunden werden. Sie soll die notwendige innermuslimische Debatte über die Voraussetzungen und Grundlagen eines in Deutschland beheimateten, von z. B. politischer ausländischer Einflussnahme unabhängigen Islam widerspiegeln.
Gegenstand der Arbeit der DIK waren der Austausch und die Verständigung über konkrete Themen und Anliegen sowie die Suche nach Lösungen und Regeln für alltagspraktische Fragen, z. B. zum islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen, zur Lehre islamischer Theologie an Universitäten, zur islamischen Wohlfahrtspflege und Seelsorge, zum Moscheebau oder zur Prävention von Muslimfeindlichkeit. Die Ergebnisse wurden in Empfehlungen, Handreichungen und Informationsangeboten festgehalten.
Es hat immer wieder Kritik an der Zusammensetzung der DIK sowohl von den dort nicht vertretenen aber auch von dort vertretenen Personen und Organisationen gegeben. Auch die Themen waren Gegenstand von Diskussionen. Insgesamt kann festgehalten werden, dass dieses Format den notwendigen gesellschaftspolitischen Dialog mit den Muslimen in Deutschland ermöglicht, natürlich aber fortentwickelt werden sollte.
Diese sehr kurze Darstellung der Entwicklung der Religionen in den vergangenen 30 Jahren in Deutschland zeigt sehr unterschiedliche Prozesse. Es wird aber deutlich, welche Bedeutung Religion in der Gesellschaft und für die Entwicklung der Gesellschaft immer noch hat! Nicht nur die Religion auch die Institutionen, die für die Religion stehen sind sehr wichtig und unabdingbare Mittler und Ansprechpartner. Diese Bedeutung von Strukturen zeigt der in der DIK angelegte Prozess.
Gerade die zurückliegenden Pandemie-Jahre und die aktuellen Herausforderungen durch den von Russland begonnenen Ukraine-Krieg zeigen auf, wie wichtig Religion in Krisenzeiten für die Menschen ist. Dies wird auch im Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung hervorgehoben: Religion verstanden als Quelle von Sinn hilft Menschen beim Umgang mit Ungewissheit. Religion ist danach nicht nur private Ressource, sondern auch Stütze in Zeiten der Krise! Vielleicht liegt darin auch eine Chance!
Und ich möchte auch noch einen Gedanken hinzufügen: Nicht nur für den Einzelnen, auch für die Gesellschaft und den Zusammenhalt in der Gesellschaft sind Religion und die Institutionen dazu – Kirchen und Religionsgesellschaften – sehr wichtig und bleiben auch wichtig.
Verfassungsrechtliche Grundlagen
Damit komme ich nun zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen. Hier sind mit einer gewissen Vereinfachung zwei zentrale Normen des Grundgesetzes zu nennen: Art. 4 GG und Art. 140 GG.
Diese Regelungen über das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften in Deutschland gelten für alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gleichermaßen. Viele Fragen des Staatskirchenrechts/Religionsverfassungsrechts sind darüber hinaus in Verträgen zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften geregelt. Nach dem Grundgesetz sind für Kultusangelegenheiten in erster Linie die Länder zuständig. Daher auch die überwiegende Zahl der Verträge zwischen Ländern und Kirchen.
Verträge mit Religionsgemeinschaften tragen dazu bei, die Beziehungen zwischen Staat und Kirche auf eine dauerhafte rechtliche Grundlage zu stellen. Das ist ein wichtiger Beitrag für ein möglichst konfliktfreies Miteinander von Staat und Kirche.
Verträge zwischen der katholischen Kirche und dem Staat nennt man Konkordate. Bei den Protestanten werden sie als Kirchenverträge bezeichnet. Es würde den Rahmen komplett sprengen, hier alle Konkordate und die anderen Staatsverträge aufzuzeigen oder zu beschreiben. Vereinfacht gesagt werden dort Fragen zu u.a. folgenden Bereiche geregelt: Schutz der Sonn- und Feiertage, kirchliche Verwaltungsbezirke, Anerkennung unter anderem von Diözesen, Bischöflichen Stühlen, Domkapiteln, Kirchengemeinden, Verfahren bei der Berufung von Theologieprofessoren, Ausbildung von Religionslehrern und deren Anstellung im öffentlichen Dienst, Übertragung der Verwaltung der Kirchensteuern auf die staatlichen Finanzämter und die Mitwirkung der Arbeitgeber bei der Erhebung der Kirchensteuern, Recht der Kirchen zur Festlegung des Hebesatzes für die Erhebung der Kirchensteuern, Gründung freier Schulen in kirchlicher Trägerschaft und deren Finanzierung.
Die Religionsfreiheit
Die zentrale verfassungsrechtliche Norm ist Art. 4 Abs. 1 und 2 GG:
1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantiert die Religionsfreiheit eines jeden Einzelnen. Jeder kann sich frei zu einer Religion bekennen und einer Religionsgemeinschaft beitreten. Jeder ist aber auch frei, sich zu keiner Religion zu bekennen, aus einer Religionsgemeinschaft auszutreten oder in eine andere überzuwechseln.
Diese Regelung ist wie alle Grundrechte in erster Linie ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat und möglichen Eingriffen in diese Freiheit. Neben dem individualen Grundrecht garantiert Art. 4 aber auch die korporative Religionsausübung. Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses erschöpft sich nicht in der Freiheit des Einzelnen zum privaten und öffentlichen Bekenntnis, zu ihrer Effektuierung bedarf es auch der Kirchenfreiheit in ihrem Vollsinn – so klar das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) (E 42,312(323)).
In diesem Kontext ist auch auf das in Art. 137 Abs. 3 WRV i.V.m. Art. 140 GG niedergelegte kirchliche Selbstbestimmungsrecht hinzuweisen. Dieses ist als institutionelle Sicherung nicht durch
Art. 4 obsolet, vielmehr wird damit die klare Auslegung unter Einbeziehung von Art. 4 GG bestätigt. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht umfasst die Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens und die zu der Wahrnehmung dieser Aufgaben unerlässliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung. In Deutschland war dieses innerkirchliche Selbstbestimmungsrecht juristisch viele Jahrzehnte unbestritten. Mit der Vergemeinschaftung vieler Rechtsbereiche, z. B. im Arbeitsrecht, ist der Einfluss der EU-Gerichte gewachsen.
Neutralitätsgebot
Laut Bundesverfassungsgericht muss der Staat „Heimstatt aller Bürger“ sein – unabhängig von ihrem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis. Der Staat darf sich daher selbst nicht mit einem bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis identifizieren. Er muss vielmehr allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften neutral und tolerant gegenüberstehen.
Das Staatskirchenverbot erklärt sich vor dem historischen Hintergrund bis 1918: Der monarchische Landesherr hatte auch das landesherrliche Kirchenregiment. Aber anders als in anderen Staaten sah die Weimarer Reichsverfassung und sieht das Grundgesetz durch die Inkorporation der dortigen Reglungen in der Bundesrepublik Deutschland keine strikte Trennung von Staat und Religion vor. Kooperation von Staat und Kirche wurde und wird vorausgesetzt!
Ich möchte es nochmals betonen: Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sieht in seinem sogenannten Staatskirchenrecht (oder auch: Religionsverfassungsrecht) keine strikte Trennung zwischen Staat und Religion vor. Neben dem klaren Staatskirchenverbot sind auch Regelungen des Zusammenwirkens übernommen worden, die in der Weimarer Reichsverfassung vorhanden waren: Die Fortführung und Garantie des Körperschaftstatus, Art. 137 Abs. 5, die Staatsleistungen Art. 138 und Zusammenarbeit bei Religionsunterricht an Schulen, und bei weiteren Punkten.
Art. 137 Abs. 1 wird nicht als Ausdruck staatlicher Indifferenz, sondern als Ausdruck religiös-weltanschaulicher Neutralität des Staates verstanden. Ein Identifikationsverbot des Staates mit nur einer bestimmten religiös-weltanschaulichen Auffassung. Mit den Worten des BVerfG: „Das GG legt dem Staat als Heimstatt aller Bürger ohne Ansehen der Person religiöse-weltanschauliche Neutralität auf. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse.“ (BVerfGE 19,206(216)) Diesem Neutralitätsgebot stehen auch nicht die Regelungen zum Körperschaftsstatus in Art. 137 Abs. 5 und die damit verbundenen Rechte entgegen.
Für Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften steht der besondere Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts zur Verfügung. Mit diesem Status gewährt der Staat besondere Rechte. Zu den besonderen Rechten, die den Gemeinschaften verliehen werden, zählen beispielsweise das Recht zum Steuereinzug bei ihren Mitgliedern, die Dienstherrenfähigkeit (Möglichkeit, die Rechtsstellung ihrer Bediensteten öffentlich-rechtlich auszugestalten), die Rechtssetzungsbefugnis (für eigenes Binnenrecht, z. B. Regelungen zur innerkirchlichen Organisation und zum Mitgliedschaftsverhältnis) sowie das Recht kirchliche öffentliche Sachen durch Widmung zu schaffen.
Darüber hinaus hat der Gesetzgeber mit dem Körperschaftsstatus für Religionsgemeinschaften eine Reihe von Einzelbegünstigungen verbunden (das sog. Privilegienbündel). Dazu gehören zum Beispiel steuerliche Begünstigungen oder die Gewährung von Vollstreckungsschutz. Demgegenüber ist beispielweise die Vertretung in öffentlichen und staatlichen Gremien (z. B. Rundfunkräten) nicht durchgängig an den Körperschaftsstatus geknüpft. Sie erfolgt häufig nur durch die Benennung der jeweiligen Religionsgemeinschaft als gesellschaftlich relevante Gruppe. Auch viele weitere Rechte sind nicht an den Körperschaftsstatus geknüpft. Dazu gehören zum Beispiel der Betrieb von Einrichtungen wie Kindergärten oder Altenheimen, die Errichtung von Gebäuden, die religiösen Zwecken dienen und der Zugang zur Erteilung von Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG.
Der Status der öffentlich-rechtlichen Körperschaft ist keine Voraussetzung dafür, dass eine Gemeinschaft überhaupt als Religionsgemeinschaft in Erscheinung treten oder die ansonsten Religionsgemeinschaften gewährten Rechte in Anspruch nehmen darf.
Erwerb des Körperschaftsstatus
Gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 Satz 1 WRV bleibt denjenigen Religionsgemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, dieser Status erhalten. Damit wurde der bei Erlass der Weimarer Reichsverfassung vorgefundene Rechtsstatus der beiden großen christlichen Kirchen und weiterer sogenannter altkorporierter Religionsgemeinschaften beibehalten.
Anderen Religionsgemeinschaften sind auf ihren Antrag hin gleiche Rechte zu gewähren. Der Körperschaftsstatus ist anzuerkennen, wenn ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder darauf schließen lässt, dass die Religionsgemeinschaft auch in Zukunft dauerhaft bestehen wird. Grundlage für diese Einschätzung sind der gegenwärtige Mitgliederbestand der Religionsgemeinschaft und ihre „Verfassung im Übrigen“. Die dafür in der Staatspraxis herangezogenen Indizien (etwa eine Mindestbestandszeit) dürfen aber nicht schematisch angewendet werden und die geforderte Gesamtbetrachtung stören. Zudem dürfen keine Umstände in die Beurteilung einfließen, deren Bewertung dem religiös-weltanschaulich neutralen Staat verwehrt ist.
Das Bundesverfassungsgericht verlangt in seiner Rechtsprechung zusätzlich die Rechtstreue der Religionsgemeinschaft (BVerfGE 102, 370 ff. – Zeugen Jehovas). Danach muss die Religionsgemeinschaft die ihr übertragene Hoheitsgewalt in Einklang mit den verfassungsrechtlichen und sonstigen gesetzlichen Bindungen ausüben. Sie muss die Gewähr dafür bieten, dass ihr künftiges Verhalten die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien nicht gefährdet. Ebenso darf sie nicht die Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts des Grundgesetzes einschränken.
Wenn die genannten Voraussetzungen erfüllt sind, besteht ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an die Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft.
Aktuelle rechtliche und gesellschaftspolitische Fragen
Staatsleistungen Art. 138 Abs. 1 WRV
„(1) Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.“
Staatsleistungen sind danach nur diejenigen finanziellen Zuwendungen oder Abgabenbefreiungen, die in das historisch ausgebildete System staatskirchenrechtlicher Beziehungen gehören. D. h die dem Staat aus der Zeit vor 1919 erwachsen sind, vornehmlich die mit der Säkularisation des Kirchengutes durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 begründeten Entschädigungspflichten. Die Säkularisation war das Ergebnis der Neugliederung des Reichs: Sie sollte die weltlichen Fürsten für ihre linksrheinischen Gebietsverluste an Frankreich „entschädigen“. Auf Reichsebene wurde die landesherrliche Gewalt der geistlichen Reichsstände aufgehoben und sämtliches Land der säkularisierten Reichsbistümer und -abteien den Territorien der weltlichen Fürsten hinzugefügt (annektiert). So erhielt Preußen gegen den linksrheinischen Verlust von ca. 2.700 Quadratkilometern eine „Entschädigung“ mit kirchlichem Land im Umfang von ca. 13.000 Quadratkilometern. Auf Ebene der Einzelstaaten kam die Einziehung landsässigen Kirchenguts hinzu.
Die Staatsleistungen entstanden so als Ersatz für die Eigenmittel der Kirche. Zu Rechtsansprüchen wurden sie mit der nachfolgenden vermögensrechtlichen Verselbständigung der Kirche gegenüber dem Staat. Der Rechtsgrund für die Staatsleistungen ist also nicht der Entzug kirchlichen Vermögens selbst, sondern sind zum einen die im Wege der Rechtsnachfolge zu tragenden, auf dem eingezogenen Kirchengut ruhenden Lasten, zum anderen die schon seinerzeit vom Staat begründeten Leistungsrechte, die einen dauernden Ausgleich für den Entzug der wirtschaftlichen Grundlage der Kirche herstellen mussten. Durch Art. 138 Abs. 1 WRV und die staatskirchenvertragliche Novation haben sich die Staatsleistungen von ihren historischen Entstehungsvoraussetzungen gelöst und verselbständigt.
Der historisch unübersichtliche Bestand der „auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen“, die die Bundesländer den römisch-katholischen Diözesen und den evangelischen Landeskirchen in ihrem Gebiet schulden, sind in den Staatskirchenverträgen zwischen den Bundesländern und den staatsleistungsberechtigten Kirchen einvernehmlich in pauschalen, indexierten Jahresleistungen zusammengefasst worden – den Novationen. Eine Ablösung ist nur gegen Entschädigungszahlung zulässig. Damit eine solche Ablösung möglich ist, muss ein Grundsatzgesetz des Bundes erlassen werden. Welche Bedeutung dieser Programmsatz aus der Weimarer Reichsverfassung heute noch hat, war lange Zeit nur eine rein akademische Frage.
Aber bereits in der vergangenen Legislaturperiode wurde diese Frage im Deutschen Bundestag diskutiert und in den politischen Fokus gerückt! Es wurden entsprechende Gesetzentwürfe der damaligen Oppositionsfraktionen im Bundestag, neben der Fraktion der AfD auch die Fraktionen DIE LINKE., BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP (vgl. Bundestagsdrucksachen 19/19649 und 19/19273) eingebracht, aber nach einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat mit Sachverständigen von der damaligen Regierungsmehrheit, der GroKo, abgelehnt.
Jetzt steht die Ablöse ganz aktuell auf der politischen Agenda: Im zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP geschlossenen Koalitionsvertrag 2021 bis 2025 ist dazu die folgende Formulierung niedergeschrieben worden:
„Wir schaffen in einem Grundsätzegesetz im Dialog mit den Ländern und den Kirchen einen fairen Rahmen für die Ablösung der Staatsleistungen“.
Dies ist auch bereits in der tatsächlichen Umsetzung: Es ist eine Arbeitsgruppe eingerichtet worden bestehend aus Mitarbeitenden von Bundeskanzleramt, Bundesministerium des Inneren und für Heimat, Bundesministerium der Justiz, Ländern, Kirchen und Sachverständigen, die Eckpunkte erarbeiten soll, aus denen dann ein Gesetz entwickelt werden soll. Der sehr ambitionierte Zeitplan sieht vor, dass dieses Gesetz 2024 verabschiedet werden soll.
Über welche Größenordnung reden wir, wenn von Staatsleistungen gesprochen wird? Ich konzentriere mich hier auf die beiden großen Kirchen. Danach bekamen sie zusammen 602 Mio. € von den Bundesländern (355 Mio. € Ev. und 248 Mio. € Kath.). Anzumerken ist hierbei, dass einige Bundesländer aus Gleichbehandlungsgründen auch anderen Kirchen/Religionsgemeinschaften Staatsleitungen gewähren, insgesamt 688 Mio. €.
Für die Evangelische Kirche machen nach eigenen Angaben die Staatsleistungen ca. 2,5 % der jährlichen Einnahmen aus. Bei der Katholischen Kirche dürfte dieses etwas mehr sein. Hierbei ist zu beachten, „Ablösung“ bedeutet Aufhebung der Dauerleistungspflicht gegen Wertersatz. Art. 138 Abs. 1 WRV zielt mit der Ablösung „durch die Landesgesetzgebung“ auf eine einseitige Aufhebung, ohne eine zwischen dem staatsleistungsverpflichteten Bundesland und der staatsleistungsberechtigten Kirche einvernehmliche Ablösung auszuschließen. Nur gegen Wertersatz können die Staatsleistungsansprüche aufgehoben werden. Die Aufhebung muss also mit einem Ausgleich ihres wirtschaftlichen Werts verbunden werden.
Die Ablösungsleistung hat sich grundsätzlich an einem vollen Wertersatz zu orientieren. Einige Stimmen in der Rechtswissenschaft meinen, dass die Ablösungsleistung den Wert der Staatsleistung nicht ganz, sondern nur „angemessen“ decken müsse, wobei das Maß der damit für erlaubt gehaltenen Minderung unklar bleibt. In der Politik wird sogar noch weitergehend argumentiert: Durch die Zahlungen seit 1803 sei schon längst die Ablösung erfolgt. Hierbei wird übersehen, dass bei Verbleib des Eigentums bei den Kirchen diese auch dauerhaft daraus Erlöse hätten erzielen können bzw. zukünftig erzielen.
Ungeachtet dessen können die Unwägbarkeiten und politischen wie finanziellen Kosten der Rechtsdurchsetzung Gründe der Opportunität dafürsprechen lassen, bei einvernehmlicher Ablösung ein pragmatisches wechselseitiges Entgegenkommen zu suchen. Diese Pragmatik hat ihren Ort und ihren Rahmen in den Unschärfen jeder Prognose über die künftige Ertragskraft der Ablösungsleistung.
Beide Kirchen haben ihre Bereitschaft zum Dialog über diese Ablösung bekundet. M. E. die evangelische Kirche deutlicher als die katholische Kirche, dort wurde stärker auf den Dialog nicht auf das Ergebnis abgestellt. Wie dieser Prozess letztlich ausgeht, bleibt abzuwarten. Es stellen sich aber m. E. juristische und auch gesellschaftspolitische Fragen: Gilt dieser Auftrag aus der Weimarer Reichsverfassung und dem Grundgesetz von 1949 noch heute? Hat er sich durch Zeitablauf erledigt? Oder sind diese Staatsleistungen nicht unter dem Gesamtkontext sozialstaatlicher Mittelvergabe ganz anders zu beurteilen und nicht unter den historischen „Entschädigungsleistungen“?
Gilt der Auftrag noch? Formaljuristisch: ja. Besteht eine unbedingte Umsetzungsverpflichtung und warum dann erst jetzt? Haben alle anderen Regierungen mit der Nicht-Umsetzung gegen das Grundgesetz verstoßen? Hier meine ich nein: Es liegt kein Verstoß vor und wenn nicht umgesetzt wird, ist dies m. E. auch nicht justitiabel.
Politisch ist dazu auch wieder der Koalitionsvertrag heranzuziehen. Der Gesamttext des Koalitionsvertrages zu Kirchen und Religionsgemeinschaften ist insoweit beachtenswert: „Kirchen und Religionsgemeinschaften sind ein wichtiger Teil unseres Gemeinwesens und leisten einen wertvollen Beitrag für das Zusammenleben und die Wertevermittlung in der Gesellschaft. Wir schätzen und achten ihr Wirken. Wir schaffen in einem Grundsätzegesetz im Dialog mit den Ländern und den Kirchen einen fairen Rahmen für die Ablösung der Staatsleistungen. Wir entwickeln das Religionsverfassungsrecht im Sinne des kooperativen Trennungsmodells weiter und verbessern so die Beteiligung und Repräsentanz der Religionsgemeinschaften, insbesondere muslimischer Gemeinden. Dazu prüfen wir, ob hierfür Ergänzungen des Rechtsstatus von Religionsgemeinschaften notwendig sind und erörtern dies in enger Abstimmung mit den betroffenen Kirchen und Religionsgemeinschaften. Neuere, progressive und in Deutschland beheimatete islamische Gemeinschaften binden wir in diesen Prozess ein. Wir bauen die Ausbildungsprogramme für Imaminnen und Imame an deutschen Universitäten in Zusammenarbeit mit den Ländern aus.“
Generell stehen die Zeichen auf größeren Abstand zwischen Staat und Kirchen – deutlicher gesagt größerer Abstand zu den christlichen Kirchen. Das Religionsverfassungsrecht soll „im Sinne des kooperativen Trennungsmodells“ weiterentwickelt werden. Ziel ist dabei eine bessere Beteiligung und Repräsentanz insbesondere der muslimischen Gemeinden. „Neuere, progressive und in Deutschland beheimatete islamische Gemeinschaften“ sollen dabei eingebunden werden, Zusammenarbeit der Religionsgemeinschaften und „Orte der Begegnung“ gefördert werden. Generell liegt der Fokus der Ampel stärker auf der Unterstützung der muslimischen Gemeinden. Die christlichen Kirchen in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft und den Zusammenhalt in der Gesellschaft stehen eindeutig nicht im Fokus! Dies halte ich gesellschaftspolitisch für sehr problematisch. Diese Koalition zeigt in einem anderen Bereich sehr viel Engagement und dies mit einer Begründung, die konträr zu dieser „Weiterentwicklung des Trennungsgebotes steht“.
Hier nehme ich Bezug auf das Demokratiefördergesetz. Ziel des Demokratiefördergesetzes ist es, Projekte zur Förderung der Demokratie und zur Stärkung gesellschaftlicher Vielfalt sowie zur Extremismusprävention vor Ort verlässlich und bedarfsorientiert fördern zu können. Mit dem Gesetz stelle der Bund die wichtige Arbeit der Initiativen und Projekte „auf eine stabilere und nachhaltigere Grundlage, die vorhandenen und bewährten Strukturen können aufrechterhalten und weiterentwickelt werden“, erläuterte die zuständige Familienministerin Paus.
Bislang war es so, dass der Bund Projekte nur für eine bestimmte Zeit fördern konnte, weil es keine gesetzliche Grundlage für die längerfristige Förderung gab. Der Gesetzentwurf für das Demokratiefördergesetz schafft nun erstmals einen gesetzlichen Auftrag des Bundes zur Förderung und Stärkung der Demokratie und der Prävention jeglicher Form von Extremismus. Somit können Projekte auch längerfristig gefördert werden und haben mehr Planungssicherheit. Dieses Gesetz soll so Strukturen schaffen bzw. sicherstellen, dass diese über einen reinen Projektzeitraum hinaus erhalten bleiben. Vereine und Organisationen erhalten Unterstützung für ihre Organisation.
Bei den Staatsleistungen wird andersherum argumentiert: Warum unterstützt der Staat die Organisation der Kirchen? Gerade solche Organisationsstrukturen sind notwendig, um in der Gesellschaft aktiv zu wirken. Nur als Beispiel: um die vielen Ehrenamtlichen zu unterstützen und ihnen zu helfen; sie in die Lage zu versetzen, ihre materiellen Hilfen auch tatsächlich zu erbringen. Ich verweise nur auf die Flüchtlingskrise: Die Arbeit der Ehrenamtlichen war möglich, da ein „back-up“ durch die Kirchenorganisationen gegeben war. Hier nehme ich Bezug auf das zuvor Gesagte: Sind diese Staatsleistungen nicht unter dem Gesamtkontext sozialstaatlicher Mittelvergabe ganz anders zu beurteilen und nicht unter den historischen „Entschädigungsleistungen“?
Wäre es nicht angezeigt, hier über eine andere Überschrift zu sprechen und diese Leistungen „abzulösen“ und in eine andere Form zu überführen? Staatlicherseits sollte m. E. ein ebenso großes Interesse daran bestehen, die bewährten Strukturen der großen christlichen Kirchen zu erhalten und für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu stärken, wie dies mit den anderen im Demokratiefördergesetz genannten Strukturen auch der Fall ist.
Ob dieses noch politisch machbar und möglich ist, vermag ich nicht zu beantworten. Realistisch muss man die Chancen dazu aber als sehr gering ansehen. Da die „alte“ Ablösung offenbar für die Koalitionspartner auch ein politisches Symbol darstellt – und Symbole sind wichtig!
Religiöse Symbole in der Gesellschaft
Damit komme ich von einem politischen Symbol zu der Verwendung von religiösen Symbolen in der Gesellschaft bzw. in der Öffentlichkeit. Hier möchte ich mich auf zwei Symbole konzentrieren, die auch immer wieder für Diskussionen sorgen – aus den unterschiedlichsten Gründen: das Kreuz und das Kopftuch.
Verfassungsrechtlich sind die Fragestellungen dazu unter dem Stichwort Religionsfreiheit zu verorten. Sowohl unter der positiven Religionsfreiheit wie auch unter der negativen Religionsfreiheit. Ich beginne rein historisch mit dem Kreuz und hier mit dem Kruzifix-Beschluss des BVerfG von 1995. Der Beschluss des Ersten Senats vom 16. Mai 1995 – 1 BvR 1087/91 – in seinem ersten Leitsatz lautet: „1. Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG.“
Diese Entscheidung des BVerfG hat damals zu heftigen Diskussionen nicht nur in der juristischen, sondern insbesondere in der allgemeinen politischen Öffentlichkeit geführt. Um es vorwegzunehmen, ich halte diesen Beschluss vor dem Hintergrund der klar im Grundgesetz vorgegebenen Neutralitätspflicht des Staates für richtig. Daher ist immer dann, wenn der Staat nach außen handelt, zu prüfen, ob durch die Verwendung von religiösen Symbolen diesem Neutralitätsgebot noch ausreichend Rechnung getragen wird. In der Schule wird nicht nur Wissen vermittelt, die Schülerinnen und Schüler sollen auch in vielen Bereichen „erzogen“ werden. Es wird vorausgesetzt, dass Schüler/innen noch „formbar“ sind, dass sie vieles aufnehmen und auch umsetzen. Insofern gilt es gerade hier „neutral“ zu erziehen. Früher gab es mal den Begriff des „besonderen Gewaltverhältnisses“ für die Schule. In einem solchen „Unterwerfungsverhältnis“ gilt es umso mehr neutral aufzutreten. Ähnliches gilt auch in anderen Bereichen, in denen der Staat hoheitlich gegenüber dem Bürger aktiv wird. Polizei und Justiz z.B.!
Der Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts blieb bis heute weitgehend ohne praktische Folgen. Nach dem Willen der bayerischen Regierung soll das Kreuz im Klassenzimmer weiterhin der Regelfall bleiben. Nur in speziellen begründeten „atypischen Ausnahmefällen“ soll es auf einzelne Klagen hin abgehängt werden. Nachdem § 13 Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern für nichtig erklärt wurde, ist am 23. Dezember 1995 Art. 7 Abs. 4 in das Bayerische Erziehungs- und Unterrichtsgesetz folgender Satz 1 eingefügt worden: „Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht.“
In diese Richtung geht auch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR): In der Entscheidung des EGMR vom 3. November 2009 wurde Italien verurteilt, einer Klägerin eine Entschädigung zu zahlen, weil Kruzifixe in der Schule ihrer Kinder nicht entfernt worden waren. Dieses Urteil wurde am 18. März 2011 von der Großen Kammer des EGMR aufgehoben, da das Anbringen des Kruzifixes keinen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) darstelle. Kreuze in Klassenzimmern verstießen nicht gegen die Religionsfreiheit. Es lasse sich nicht beweisen, dass ein Kruzifix an der Wand Einfluss auf die Schüler habe, auch wenn es in erster Linie ein religiöses Symbol sei.
Ich hatte dargestellt, dass das Neutralitätsgebot besonders dann zum Tragen kommt, wenn der Staat hoheitlich gegenüber seinen Bürgern tätig wird. Völlig anders sind m.E. aber zwei aktuelle Fälle zu beurteilen: Das Abhängen eines Kruzifixes in Münster beim G 7- Gipfel in einem Sitzungssaal und die Bestrebungen unserer Staatsministerin für Kultur, das Kreuz auf dem Berliner Schloss und die dortige historische Inschrift an der Kuppel zu entfernen. Dieses Handeln bzw. beabsichtigte Tun ist eindeutig nicht durch das Neutralitätsgebotes gefordert! Es liegt kein Eingriff in die Religionsfreiheit anderer vor! Vielmehr ist dies eine Distanzierung von christlichen Symbolen und den damit verbundenen Werten. Dem christlichen Kreuz wird damit abgesprochen, Symbol für Toleranz, Nächstenliebe und die Freiheit des Einzelnen zu sein. Es wird reduziert auf die unleugbar auch historisch gegebene Missionierungshistorie beider christlichen Religionen verbunden mit den Grausamkeiten gegenüber den zu Bekehrenden.
Man muss sich den historischen Fakten stellen, aber die notwendige Diskussion wird nicht eröffnet, wenn man die Geschichte aus der Öffentlichkeit ausblendet. Besonders deutlich wird dies in Münster: Im Friedenssaal wurde der Friedenschluss nach dem Dreißigjährigen Krieg verhandelt. Ein Krieg zwischen zwei Parteien, die beide unter dem Kreuz und für das jeweilige Kreuz kämpften.
Zum Schloss oder Humboldt-Forum: Der Deutsche Bundestag hat 2003 beschlossen, das Schloss in seiner historischen Form mit Kreuz, Kuppel und Kuppelinschrift wieder aufzubauen.
Auch hier gilt trotz allem Negativem, das mit diesem Schloss verbunden ist: Man muss sich diesen Fragen stellen und sie nicht einfach aus der Öffentlichkeit verbannen. Dann kommt keine offene Diskussion zustande, vielmehr wird dann nur eine, die vermeintlich „politisch richtige“ Interpretation vorgegeben. Ich nehme noch einmal Bezug auf das zu den Staatsleitungen von mir Gesagte. Es wird hier ein neues Verständnis des Trennungsgebotes deutlich: nicht nur Trennung und Neutralität, sondern eher Distanzierung und stärkerer Abstand von der christlichen Religion und seinen Symbolen!
Genau umgekehrt verhält es sich bei einigen politischen Akteuren mit dem Kopftuch!
Ich komme damit zum sogenannten Kopftuchstreit. Hierbei bitte ich um Verständnis, wenn ich die vielschichtigen Fragen wie Freiwilligkeit und/oder religiöse Pflicht zum Tragen nicht behandle oder gar beantworte. Für die weiteren Fragen unterstelle ich, dass eine muslimische Frau, die ein Kopftuch als Staatsbedienstete tragen will, dies freiwillig und als Ausdruck Ihrer religiösen Position tut.
So ist aber auch schon eine Frage beantwortet. Es ist Ausdruck einer religiösen Überzeugung, ein aktives Zeigen der religiösen Einstellung und kein modisches Kleidungsstück. Damit ist die Frage der Zulässigkeit m. E. auch schon beantwortet: Genauso wie das offensive Tragen oder Zeigen christlicher oder jüdischer Symbole als Vertreter/in des zur Neutralität verpflichteten Staates ist auch das Kopftuch nicht zulässig.
Aktuell ist dieses in Berlin wieder Gegenstand der politischen Diskussion auf Landesebene vor dem Hintergrund eines Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts. Das Gericht hat die Verfassungsbeschwerde des Landes Berlin gegen ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts nicht angenommen. Dies Urteil ist damit rechtskräftig. Es behandelt das sogenannte Berliner Neutralitätsgesetz.
Das Gesetz sieht vor, dass Menschen in Berlin im Staatsdienst, also etwa Polizist/innen, Justizangestellte, Richter/innen, Staatsanwälte/innen und eben Lehrer/innen keine religiösen oder weltanschaulichen Symbole und Kleidungsstücke während des Dienstes tragen dürfen. Jüdische Männer also keine Kippa, muslimische Frauen kein Kopftuch, auch sichtbar getragene Halsketten mit Kreuzen sind nicht erlaubt.
Das Bundesarbeitsgericht hatte einer Lehrerin Schadensersatz zuerkannt, da ihr die Einstellung in den Schuldienst verweigert wurde, da sie nur mit Kopftuch unterrichten wollte.
Dieses Gesetz muss nun geändert werden. Hinsichtlich der Änderung des Gesetzes gehen die politischen Vorstellungen stark auseinander! Von einigen Akteuren im landespolitischen Raum wird dieser Beschluss als „Sieg“ der Religionsfreiheit für Muslima gefeiert. Ich frage mich, ob dieses ebenso bei einem Rechtsstreit um ein christliches Symbol der Fall wäre. Erinnert sei nur an das Kreuz auf dem Humboldt-Forum. Wenn das Kopftuch zugelassen wird, dann kann es nur eine Freigabe von allen religiösen Symbolen sein. Die m. E. gebotene Lösung wäre eine Gesetzesergänzung, in der die Begründung für die mit dem Tragen verbundenen und zu vermeidenden Konflikte gegeben wird. Dies würde dem Neutralitätsgebot des Staates und seiner Repräsentanten entsprechen.
Ich bin eindeutig der Auffassung, dass das Verbot des Tragens bzw. Zeigens von religiösen Symbolen auch weiterhin für alle gelten sollte. In Situationen, in denen ein/e Vertreter/in des Staates dem Bürger gegenübertritt und die Möglichkeit der Beeinflussung oder Konfliktsituation gegeben ist, sind religiöse Symbole weiterhin ausgeschlossen. Dort wo ein/e Mitarbeiter/in keinen Kontakt mit Bürgern hat, ist auch das Tragen religiöser Symbole unproblematisch.
Die folgenden vier Thesen sollen das Gesagte zusammenfassen:
1. Neutralität des Staates „Ja“. Dies gilt auch in Bezug auf das Zeigen und Tragen von religiösen Symbolen von Staatsbediensteten, wenn sie in Kontakt mit dem Bürger sind und insbesondere, wenn sie hoheitlich auftreten.
2. Keine Schwächung der Kirchen durch staatliche oder politische Akteure. Wir brauchen für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft auch die religiösen Institutionen.
3. Eindeutig „Ja“ zum Dialog mit den Islam-Verbänden aber dabei auch die Verflechtungen mit ausländischen (staatlichen) Organisationen kritisch ansprechen und keine Übernahme bestimmter Narrative dieser Verbände.
4. Religion kann Stütze und Hilfe gerade in Krisenzeiten sein. Daher sollten die beiden großen christlichen Kirchen diese aktuelle Situation als Chance begreifen und sich als Institution wieder den Menschen und ihren realen Problemen zuwenden.
Da es sich um ein Vortragsmanuskript handelt, wurde bewusst auf einen detaillierten Quellennachweis und Fußnoten verzichtet. Die Zahlen zu den Religionsgemeinschaften sind den Veröffentlichungen des fowid (Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland) und einer Studie des Forschungszentrums des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge aus dem Jahre 2020 entnommen. Alle Wertungen und Bewertungen geben die persönliche Meinung des Vortragenden wieder.