San Romero de América

Märtyrer für Glaube und Gerechtigkeit

Im Rahmen der Veranstaltung "Heilige", 18.10.2018

Oscar Romero ist einer der jüngsten Heiligen der katholischen Kirche. Er wurde am vergangenen Sonntag, dem 14. Oktober, zusammen mit Papst Paul VI. und Maria Katharina Kasper, der Gründerin der Dernbacher Schwestern, von Papst Franziskus heiliggesprochen. Für mich war es eine große Freude, dass ich an dieser Feier auf dem Petersplatz teilnehmen konnte. Mit Oscar Romero und El Salvador verbindet mich eine lange Geschichte. Von seiner Ermordung am 24. März 1980 erfuhr ich über die Tagesschau. Ich war damals im Noviziat am Anfang meiner Ausbildung im Jesuitenorden. Ich meditierte in der Kapelle über dieses Ereignis und erinnere mich noch an meine Gefühle der Empörung über den kaltblütigen Mord während der Feier einer heiligen Messe und der Bewunderung für sein Zeugnis. Innerlich sagte ich mir: Hoffentlich werde ich nie nach El Salvador geschickt. Doch neun Jahre später betrat ich zum ersten Mal salvadorianischen Boden. Ich schrieb damals an meiner Doktorarbeit über die beiden Befreiungstheologen Jon Sobrino SJ und Ignacio Ellacuría SJ. Ich war sehr glücklich, das Land und die Kirche von Oscar Romero kennenzulernen. Im November 1989 wurden sechs meiner Mitbrüder zusammen mit zwei Frauen von Soldaten der Armee wegen ihres Kampfs für Glaube und Gerechtigkeit ermordet. Als Nachfolger von Ignacio Martín-Baró SJ, einem der ermordeten Mitbrüder, wurde ich für zwei Jahre Pfarrer in der Landgemeinde Jayaque. Bis heute bin ich regelmäßig in El Salvador, unterrichte Theologie an der Zentralamerikanischen Universität und halte meine Verbindung mit Jayaque lebendig – zuletzt im vergangenen August.

Ich möchte im Folgenden einen kurzen Überblick über das Leben von Oscar Romero geben und mich dann mit der Erweiterung des Martyriumsverständnisses beschäftigen, die sich mit seiner Heiligsprechung verbindet.

 

Zur Biographie Romeros

 

Die Geschichte von Oscar Romero ist die Geschichte einer großen persönlichen Veränderung, die manche sogar eine Bekehrung nennen. In einer armen Familie geboren, erwachte in ihm mit 12 Jahren der Wunsch, Priester zu werden. Ein Freiplatz ermöglichte ihm ein Theologiestudium in Rom, wo er 1942 zum Priester geweiht wurde. Zurück in El Salvador wurde er zu einem geschätzten Seelsorger. Doch er galt eher als konservativ und wollte die Kirche aus den wachsenden sozialen Konflikten heraushalten. Seine kirchliche Karriere ging steil nach oben: 1970 wurde er zum Weihbischof ernannt, dann Bischof der Diözese Santiago de Maria und schließlich Anfang 1977 Erzbischof der Hauptstadt San Salvador. Von seiner Ernennung zum Erzbischof waren all jene enttäuscht, die sich eine Fortsetzung der sozial engagierten Linie seines Vorgängers Erzbischof Luis Chávez y González erhofften.

Doch die Ermordung von Rutilio Grande SJ und zwei Begleitern am 12. März 1977 im Auftrag der Großgrundbesitzer erschütterte ihn zutiefst. Grande hatte in dem Bauerndorf Aguilares als Pfarrer die Campesinos ermutigt, sich zu organisieren und eine gerechtere Landverteilung zu fordern. Romero war zwar mit ihm befreundet, doch er stand seiner pastoralen Arbeit reserviert gegenüber. Als er vor den drei noch blutenden Körpern stand, spürte er, dass er nun den Weg Rutilios gehen musste. Innerhalb weniger Wochen wurde er zu einem prophetischen Verteidiger der Armen. Einige sprachen vom „Wunder Romero“, das durch den Tod Rutilio Grandes ausgelöst wurde.

Mit der Wandlung Romeros verband sich auch die Einsicht, dass durch bloße Wohltätigkeit die Probleme El Salvadors nicht gelöst werden konnten, sondern die Frage nach den Ursachen von Armut und Ungerechtigkeit gestellt werden musste. Damit näherte er sich der Theologie der Befreiung an, in deren Zentrum die Option für die Armen und die Verbindung von Glaube und Gerechtigkeit steht. Vor seiner Bekehrung war Romero ein Gegner der Theologie der Befreiung. Ihm erschien es gefährlich, wenn sich Kirche und Theologie in soziale und politische Fragen einmischten. Doch als Erzbischof machte er mit Ignacio Ellacuría SJ und Jon Sobrino SJ zwei Befreiungstheologen zu seinen engsten Beratern.

 

Erweiterung des Martyriumsbegriffs

 

Das Selig- und Heiligsprechungsverfahren für Oscar Romero hat sich nicht zuletzt deswegen so lange hingezogen, weil von seinen Gegnern in Frage gestellt wurde, dass Romero als Glaubenszeuge umgebracht wurde. Geschah es nicht eher wegen seines sozialen und politischen Engagements? Damit verbindet sich die Frage nach dem Martyriumsbegriff. Romero selbst hatte Jon Sobrino unter dem Eindruck der Ermordung von so vielen Christen gebeten, neu theologisch über das Martyrium nachzudenken. Sobrino beschreibt diese Herausforderung so: „Diese neue Art, die Ermordung von Christen zu begründen, und die übergroße Zahl der Ermordeten, haben dazu geführt, die Definition des Martyriums zu überdenken. Das war auch deshalb nötig, um nicht in die paradoxe Situation zu geraten, dass viele Christen gewaltsam zu Tode kommen, ohne dass man sie Märtyrer nennen kann. Dass dies nicht sein darf, sagt uns der gesunde Menschenverstand und das Glaubensverständnis, und zwar unabhängig davon, wie auch immer die offizielle Definition lauten mag.”

Ganz in dieser Linie antwortete Papst Franziskus am 18. August 2014 auf der Rückreise von Korea auf Frage eines Journalisten nach der Seligsprechung von Erzbischof Romero: „Was ich möchte, ist, dass geklärt wird, ob es sich um ein Martyrium in odium fidei handelt, sei es aufgrund des Bekenntnisses zum Glauben, sei es, weil man dem Nächsten gegenüber die Werke getan hat, die Jesus uns aufträgt. Und das ist eine Aufgabe der Theologen, die das untersuchen.“

Im herkömmlichen Verständnis des Martyriums wird unterschieden zwischen dem materialen Element: der gewaltsam erlittene Tod, und dem formalen Element: aus Liebe und wegen eines Lebens wie Jesus. Dass ein Tod von der Kirche als Martyrium anerkannt wird, setzt voraus, dass er in freier Zustimmung erlitten wird, und dass er weder ein Fallen im Waffenkampf noch ein unbewusstes Getötetwerden ist. Der Märtyrer gibt Zeugnis für die Bedeutung und die Richtigkeit seines Glaubens, sein Martyrium setzt einen innerlich bejahten und freiwilligen Verzicht auf das Leben voraus. Es ist der höchste Vollzug der Liebe in der Einheit von Gottesliebe und Nächstenliebe. Das Martyrium ist ein wirksames Zeugnis für die anderen. Christologisch gesprochen ist es eine Gleichgestaltung mit dem Leben Christi und eine „gnadenhafte Teilnahme am Todesereignis Christi, aber auch an dessen Wirksamkeit”. Damit wird dem Martyrium auch eine soteriologische, eine heilsmäßige Bedeutung zuerkannt.

In einer geschichtlichen Perspektive ist der Begriff des Martyriums ein analoger Begriff, der sich im Lauf der Geschichte verändert und an neue Wirklichkeiten angepasst hat. Ein neueres Beispiel dafür ist die Apostolische Konstitution Divinus Perfectionis Magister Johannes Pauls II. vom 25. Januar 1983, in der die kirchlichen Kanonisationsverfahren neu geregelt werden. Hier wird als Kriterium, einen gewaltsam erlittenen Tod kirchlich als Märtyrertod anzuerkennen, auch in aerumnis carceris, also „in der Trübsal des Kerkers” genannt. Damit war die Möglichkeit geschaffen, Menschen, die an den Folgen von Inhaftierung und Misshandlung etwa in Konzentrationslagern der Nationalsozialisten gestorben sind, kirchenoffiziell als Märtyrer anzuerkennen. Damit hatte die Kirche ihr Verständnis von Martyrium erweitert.

Karl Rahner ist einer der wenigen europäischen Theologen, die sich theologisch intensiver mit dem Thema des Martyriums beschäftigt haben. Kurz vor seinem Tod plädierte er 1983 in der Zeitschrift Concilium in dem Aufsatz „Dimensionen des Martyriums” für eine Erweiterung des klassischen Begriffs. Ausgangspunkt ist für ihn dabei die Frage, ob der Martyriumsbegriff auch für einen im aktiven Kampf getöteten Menschen Anwendung finden könne. Rahner weist darauf hin, dass „der ‚passiv erduldete’ Tod Jesu die Konsequenz eines Kampfes Jesu gegen die religiösen und politischen Machthaber seiner Zeit” war. Der Tod Jesu dürfe also nicht isoliert von seinem Leben gesehen werden, das auch einen Kampf gegen die soziale und religiöse Unterdrückung und Ausbeutung mit einschloss. Interessanterweise blickt Rahner in diesem Zusammenhang nach El Salvador und fragt: „Aber warum sollte zum Beispiel ein Erzbischof Romero, der im Kampf für die Gerechtigkeit in der Gesellschaft fällt, in einem Kampf, den er aus letzter christlicher Überzeugung führt, nicht ein Märtyrer sein?“

Das Phänomen des Martyriums in Lateinamerika stellt auch eine Herausforderung für das kirchenrechtliche Verständnis des Martyriums dar. Die offiziellen Selig- und Heiligsprechungsverfahren in der katholischen Kirche verlaufen häufig langsam und zäh. Doch in Lateinamerika werden viele, die als Christen umgebracht wurden, von ihren Gemeinden spontan als Märtyrer verehrt. So sagte Oscar Romero selbst über die beiden ersten in El Salvador ermordeten Priester Rutilio Grande SJ und Alfonso Navarra: „Für mich sind sie wirkliche Märtyrer im Sinne des Volkes. Natürlich benutze ich diese Bezeichnung nicht im kanonischen Sinn. Im kanonischen Verständnis setzt die Bezeichnung Märtyrer einen Prozess der höchsten kirchlichen Autorität voraus, die dann den Märtyrer für die gesamte Universalkirche verkündet. Ich respektiere dieses Gesetz und werde niemals sagen, dass unsere ermordeten Priester kanonisierte Märtyrer sind. Wohl aber sind sie Märtyrer im Sinne des Volkes, sie sind Männer, die genau dieses Eintauchen in die Armut gepredigt haben.” In diesem Sinn betone ich auch, dass Oscar Romero von der großen Mehrheit des salvadorianischen Volkes schon längst heiliggesprochen wurde, und dass die amtliche Kirche dies am vergangenen Sonntag in einer gewissen Weise nur eingeholt und bestätigt hat.

 

Prophetische Kritik an den Götzen

 

Die Zeit der Militärdiktaturen in Lateinamerika ist zwar überwunden, doch das Grundproblem, das zu Repression und Bürgerkriegen geführt hat, besteht fort: die extreme soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit. So werden auch heute noch in Lateinamerika Christen und Christinnen wegen ihres Kampfs für Glaube und Gerechtigkeit ermordet. Bedeutsam sind in diesem Zusammenhang die „Götzen“, die Oscar Romero immer wieder angeprangert hat: die Götzen Reichtum, Macht, Ideologie der nationalen Sicherheit, die absolut gesetzt und um derentwillen Menschen geopfert werden. Sobrino bringt solche Götzen in Verbindung mit dem, was er „Antireich“ nennt. Die Märtyrer „bringen zum Ausdruck, dass es Opfer und Henker gibt, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Gnade und Sünde. Sie bringen zum Ausdruck, dass es das Reich Gottes und das Antireich gibt, den Gott des Lebens, Abba, und die Götzen des Todes. Sie bringen zum Ausdruck, dass Jesus die Wahrheit und das Leben ist, und der Böse Lügner und Mörder.“

Das Martyrium in Lateinamerika ist eine Konsequenz der prophetischen Kritik, die Kirche und Theologie an diesen Götzen geübt haben. Solange die Kirche sich auf karitative Wohltätigkeit beschränkte, wurde sie von niemandem als störend oder als bedrohend erfahren. Doch als sie die Frage nach den Ursachen für Armut und Ungerechtigkeit zu stellen begann, wurde sie verfolgt. Freilich nicht die Kirche als Ganze, sondern nur der Teil, der Ernst gemacht hatte mit der Option für die Armen – damit geht ein Riss durch die Kirche selbst. Die gesellschaftliche Spaltung führte zu einer Spaltung innerhalb der Kirche. Worunter Erzbischof Romero am meisten litt, war die Gegnerschaft unter seinen Mitbischöfen. In Lateinamerika gibt es also ein Martyrium nicht primär aus einem odium fidei, wie vorher angeklungen, sondern einem odium iustitiae, einem Hass auf die Gerechtigkeit. Dies drückt sich auch darin aus, dass es in der Regel Christen sind, die andere Christen umbringen. So wurde Jon Sobrino unmittelbar nach der Ermordung seiner Mitbrüder in Thailand die ungläubige Frage gestellt: „Gibt es in Ihrem Land wirklich Katholiken, die Priester umbringen?” Weil die Märtyrer wegen ihres Einsatzes für die Gerechtigkeit und die Menschenwürde der Armen umgebracht werden, steht das Martyrium in Lateinamerika in einem grundlegenden Zusammenhang mit der Option für die Armen.

 

„Jesuanische Märtyrer“

 

Jon Sobrino nennt die Märtyrer in Lateinamerika „jesuanische Märtyrer” weil sie in der Nachfolge Jesu und aus denselben Gründen wie er umgebracht wurden. So kann er sagen: „Die Märtyrer sind historisch und existentiell die beste Mystagogie für die Christologie.” Diese Märtyrer stellen für Sobrino das jesuanische Antlitz des Christentums dar und verleihen ihm Glaubwürdigkeit, die Praxis Jesu ist dabei der wichtigste Bezugspunkt. Diese Rückbindung an die Ursprünge des christlichen Glaubens in Jesus und seiner Praxis ist eo ipso ökumenisch. Dabei ist die Bereitschaft zur Hingabe des eigenen Lebens die Bedingung für die Nachfolge Jesu: „Märtyrer ist nicht zuerst und ausschließlich, wer für Christus stirbt, sondern wer wie Jesus stirbt; Märtyrer ist nicht zuerst und ausschließlich, wer wegen Christus stirbt, sondern wer für die Sache Jesus stirbt. Martyrium ist somit nicht allein der Tod aufgrund der Treue zu irgendeiner Forderung Christi, die hypothetisch auch etwas Willkürliches beinhalten könnte, sondern das Treue Nachvollziehen des Todes Jesu.”

Wird das Martyrium in diesem Sinn als Teilnahme am Tod Jesu verstanden, so erhellen sich das Sterben der Märtyrer und das Kreuz Jesu gegenseitig: „Das Kreuz Jesu verweist auf die gegenwärtigen Kreuze. Gleichzeitig aber weisen diese gegenwärtigen Kreuze auch auf das Kreuz Jesu hin. Sie stellen – historisch gesehen – die große Hermeneutik dar, um zu verstehen, warum Jesus umgebracht wurde. Und theologisch gesehen werfen sie dieselbe nicht unterdrückbare Frage nach dem Geheimnis auf: Warum starb Jesus?”

 

Martyrium als Kennzeichen der wahren Kirche

 

Das Martyrium in Lateinamerika hat auch eine ekklesiologische Dimension. So verstand Erzbischof Romero die Verfolgung als eines der Kennzeichen der Kirche: „Die Verfolgung ist ein charakteristisches Zeichen für die Echtheit der Kirche. Eine Kirche, die keine Verfolgung erleidet, sondern die Privilegien genießt und auf irdische Dinge baut, diese Kirche sollte Angst haben! Sie ist nicht die wahre Kirche Jesu Christi.“ Romero sah in der Verfolgung der Kirche ein Zeichen dafür, dass sie ihre Sendung erfüllt. So konnte er die paradox anmutenden Worte sagen: „Ich freue mich, Brüder und Schwestern, dass sie in diesem Land Priester ermordet haben. Denn es wäre traurig, wenn in einem Land, in welchem derart schreckliche Mordtaten verübt werden, sich nicht auch Priester unter den Opfern befänden. Sie geben Zeugnis von einer in den Leiden des Volkes inkarnierten Kirche.“

Die Kirche in Lateinamerika wurde auch mit der Wirklichkeit eines „kollektiven Martyriums” konfrontiert. Damit sind die Massaker gemeint, in denen etwa in El Salvador und in Guatemala manchmal Hunderte von Menschen, mehrheitlich Frauen und Kinder, von Armeeeinheiten abgeschlachtet wurden. Diese Massaker standen nicht selten im Zusammenhang damit, dass in den entsprechenden Gemeinden eine befreiende Pastoral im Geist der Bischofsbeschlüsse von Medellín verwirklicht wurde. In ihrem Fall fehlt der Aspekt der freiwilligen Hingabe des Lebens und oft auch die „Tugenden”, die für eine Kanonisierung notwendig sind. Doch die Kirche muss einen theologischen Umgang mit dieser Realität finden. Sobrino wendet den Begriff des Martyriums in einem analogen Sinn auf die „massenhaft, anonym und unschuldig Ermordeten” hin, die er mit dem Knecht Gottes des Propheten Jesaja identifiziert und als „gekreuzigte Völker” und als Märtyrervolk bezeichnet.

 

Die Heilsbedeutung des Martyriums

 

Biblisch ist von der Heilsbedeutung eines gewaltsam erlittenen Todes um anderer Willen schon im vierten Gottesknechtlied im Propheten Jesaja die Rede, wo vom leidenden Knecht gesagt wird, dass er zur Rechtfertigung für viele und zum Licht für die Völker wurde. Im Neuen Testament ist für die Heilsbedeutung des Leidens eine Aussage des Apostels Paulus aus dem Kolosserbrief von Bedeutung: „Jetzt freue ich mich in den Leiden, die ich für Euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt“ (Kol 1,24). Sobrino wendet diesen Gedanken auf die Märtyrer an, die demnach in einer analogen Weise in ihrem Leib ergänzen, was an den Leiden Christi noch fehlt.

Auch Erzbischof Romero kam wiederholt auf die Heilsbedeutung des Leidens zu sprechen: „Als Hirte und als Bürger El Salvadors betrübt es mich zutiefst, dass der organisierte Teil unseres Volkes weiter abgeschlachtet wird, nur weil sie geordnet auf die Straße gehen, um Gerechtigkeit und Freiheit zu fordern. Ich bin sicher, dass so viel vergossenes Blut und so viel Schmerz, der den Familien der zahlreichen Opfer zugefügt wird, nicht umsonst ist. Dieses Blut und dieser Schmerz wirken wie ein befruchtender Regen für neue und immer mehr Samenkörner von Salvadorianern, die sich ihrer Verantwortung bewusst werden, eine gerechtere und menschlichere Gesellschaft aufzubauen, die ihre Früchte in mutigen und radikalen strukturellen Reformen bringt, die unser Land so dringend benötigt.”

In Lateinamerika wird auch das alte Verständnis des Martyriums als Bluttaufe, als Mitsterben mit Christus, um in ihm aufzuerstehen, in einer neuen Weise aktualisiert. Die Märtyrer sind als Auferstandene in der Geschichte gegenwärtig, was sich in dem Ruf Presente bei Gedenkgottesdiensten für sie ausdrückt. Romero hatte kurz vor seiner Ermordung ahnungsvoll gesagt: „Wenn sie mich umbringen, werde ich im salvadorianischen Volk auferstehen.”

 

Die Ambivalenz der Heiligenverehrung

 

Nach menschlichem Ermessen ist Oscar Romero gescheitert. Nach seiner Ermordung ist El Salvador in einem zwölfjährigen Bürgerkrieg versunken, der 75.000 Opfer gefordert hat. Bis heute leidet das Land unter einer Welle der Gewalt, weil die eigentliche Ursache des Bürgerkriegs nicht beseitigt wurde: die extreme soziale Ungerechtigkeit. Und trotzdem geht von Romero bis heute Hoffnung aus: Hoffnung, dass sowohl auf der persönlichen als auch auf der strukturellen Ebene Veränderungen möglich sind, dass die Menschlichkeit stärker ist als die Gewalt, dass die Lebenshingabe das größte Zeugnis der Liebe ist. Fragt man arme Menschen in El Salvador, was er für sie bedeutet, so lautet die Antwort: „Er hat die Wahrheit gesagt und uns verteidigt, und deswegen haben sie ihn umgebracht.“

Ein bildlicher Ausdruck für eine Heiligsprechung ist, jemanden „zur Ehre der Altäre zu erheben“. Dies kann sich mit der Gefahr verbinden, ihn zu entrücken, zu idealisieren. Jesus selbst hat auf die Ambivalenz der Prophetendenkmäler hingewiesen. Wir verehren den heiligen Oscar Romero nur dann angemessen, wenn wir seinen Weg gehen: wenn wir die Wahrheit über diese Welt sagen, die eine Welt von Opfern ist; wenn wir die Frage nach den Gründen von Armut und Ungerechtigkeit stellen; wenn wir die Götzen unserer Zeit beim Namen nennen und bekämpfen; wenn wir Risiken und Konflikte in Kauf nehmen; wenn wir vom Glauben getragen sind, dass die Hingabe stärker als der Egoismus und die Liebe stärker als der Tod sind. Denn mit den Worten des heiligen Oscar Romero: „Die Ehre Gottes ist der Arme, der lebt.“

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  • Im Rahmen der Veranstaltung „Heilige“, 18.10.2018

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