Einleitung
Sehr geehrte Damen und Herren, sehr herzlich möchte ich mich für die Einladung bedanken, heute vor Ihnen über ein Thema sprechen zu dürfen, das uns alle betrifft. Ganz gleich, ob im militärischen oder zivilen Kontext – eine Beschäftigung mit den hiermit einhergehenden Fragen lohnt sich! Sie lohnt sich für Angehörige der Bundeswehr, Vertreter der Politik, Angehörige der Ärzteschaft oder des Rettungswesens, Beschäftigte humanitärer Hilfsorganisationen oder auch interessierte Bürgerinnen und Bürger.
„Medizin im Krieg?“, lautet die Überschrift meines Vortrages. Und sie verrät bereits, es geht um medizinethische Fragen im militärischen Kontext. Im Verlauf der letzten zehn Jahre kam es in diesem Zusammenhang zur Ausbildung eines eigenen Faches Wehrmedizinethik, das ich Ihnen im Folgenden etwas näherbringen möchte. Die Wehrmedizinethik ist mittlerweile ein fester Bestandteil des Lehrgangsangebotes im Sanitätsdienst geworden. Die im Jahr 2016 durch Katholische Militärseelsorge und Sanitätsdienst der Bundeswehr gemeinsam ins Leben gerufene Lehr- und Forschungsstelle für Wehrmedizinische Ethik an der Sanitätsakademie der Bundeswehr in München beschäftigt sich sowohl mit Fragen der wissenschaftlichen Forschung als auch zusätzlich mit der Vermittlung wehrmedizinethischer Kompetenz in Ausbildung und Lehre.
Ganz bewusst habe ich für den heutigen Vortrag die, wenn nicht provozierende so doch hoffentlich nachdenklich machende Überschrift „Medizin im Krieg?“ gewählt: Welche Rolle spielt Medizin im Krieg? Nimmt sie sich nur der Verwundeten und Verletzten an oder ist sie als Mittel zum Zweck gar direkt und aktiv am Kriegsgeschehen beteiligt? Welche Aufgabe kommt Soldatinnen und Soldaten im Sanitätsdienst hierbei zu und worin unterscheiden sich diese Aufgaben von denen der übrigen Teilstreitkräfte? Wie lassen sich militärische gegen medizinische Notwendigkeiten abwägen, insbesondere auch im Hinblick auf eine Versorgung der Zivilbevölkerung im Einsatzland? Braucht es international verbindliche medizinethische Standards und wie lässt sich hier ein gemeinsamer Konsens erzielen? Dies sind nur einige Fragen, mit denen wir uns in der Wehrmedizinethik beschäftigen. Sie lassen bereits erahnen, dass es sich hierbei um ein weites Feld handelt, dem ich mich im Folgenden in drei Schritten nähern möchte.
Schritt 1: Historische Aspekte
Ein historisches Ereignis, das für die Wehrmedizinethik eine herausragende Bedeutung einnimmt, stellt die Schlacht von Solferino am 24. Juni 1859 dar. Der Schweizer Kaufmann Henri Dunant (1828-1910) geriet an diesem Tag zufällig in die Entscheidungsschlacht des Sardischen Krieges, bei dem sich Österreich auf der einen, Sardinien und Frankreich auf der anderen Seite gegenüberstanden. Mit diesem Tag sollte der kleine Ort Solferino in Norditalien als einer der blutigsten Kriegsschauplätze des 19. Jahrhunderts bekannt werden. Tausende verwundete und verletzte Soldaten lagen sich selbst und ihrem Schicksal überlassen auf den Feldern und Straßen.
Es war Dunant, der sich ihrer annahm und mit Helferinnen und Helfern aus den umliegenden Dörfern spontan einen Hilfsdienst organisierte. Seine Beobachtungen hielt er in seinem berühmt gewordenen Bericht Un Souvenir de Solferino (dt. Erinnerung an Solferino) fest – ein kleines Büchlein mit weltbewegender Wirkung! Es ist der Initiative Dunants zu verdanken, dass es im Jahr 1864 zur Formulierung der ersten Genfer Konvention kam, der sogenannten Genfer-Rotkreuz-Konvention, und in der Folge zur Ausbildung des Humanitären Völkerrechts.
Auch die Entstehung ziviler und militärischer sanitätsdienstlicher Strukturen erhielt von hier wichtige Impulse. Ohne an dieser Stelle auf alle medizin- und militärgeschichtlich bedeutsamen Aspekte dieser Entwicklung eingehen zu können, möchte ich dennoch auf einen wichtigen Punkt hinweisen. Mit Henri Dunant verbindet sich eine Frage, die bis heute nichts an Bedeutung verloren hat: Wie kann es gelingen, auch in Zeiten des Krieges der Menschlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen? Die Sorge für die Verwundeten und Verletzten des Krieges wurde für Dunant ein zentrales Anliegen, von dem sich die Menschheit als Ganzes nicht dispensieren kann und darf.
In besonderer Weise sollte die Forderung, der Menschlichkeit auch in Zeiten des Krieges zum Durchbruch zu verhelfen, im 20. Jahrhundert auf die Probe gestellt werden. Beispielhaft mögen hier die moralischen Verfehlungen verschiedener deutscher Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus dienen. Im Zuge des Nürnberger Ärzteprozesses der Jahre 1946 und 1947 traten grauenhafte Medizinverbrechen zu Tage, an denen unter anderem auch sanitätsdienstliches Personal beteiligt war. Die schwer zu ertragenden Dokumente des Verfahrens hat seinerzeit Alexander Mitscherlich (1908-1982) einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sein Buch Medizin ohne Menschlichkeit, das ursprünglich 1947 als Das Diktat der Menschenverachtung erschien, stellt ein zentrales Dokument dar, wenn es darum geht, sich mit Fragen der Medizinethik in Anschluss an den Zweiten Weltkrieg zu beschäftigen.
Die wechselvolle Geschichte des Werkes zeigt nicht zuletzt, wie schwer sich die deutsche Gesellschaft mit der Aufarbeitung der Medizinverbrechen in den Jahrzehnten nach dem Krieg getan hat. Aus sanitätsdienstlicher Perspektive gibt es eine Vielzahl von Beispielen, die die Verstrickung von Soldaten in die Medizinverbrechen belegen. So hatte der Stabsarzt und Massenmörder Sigmund Rauscher (1909-1945) im Konzentrationslager Dachau grausamste Medizinverbrechen an Gefangenen verübt und den Tod der Versuchspersonen wissentlich in Kauf genommen. Die Erkenntnisse, die aus dem Nürnberger Ärzteprozess gewonnen wurden, fanden ethisch unter anderem ihren Niederschlag in der Genfer Deklaration, dem Genfer Ärztegelöbnis, aus dem Jahr 1948 und der Deklaration von Helsinki aus dem Jahr 1964 – zwei zentrale Dokumente der Medizinethik bis heute.
In unseren Tagen haben sich die asymmetrischen Szenarien moderner Konflikte und Kriege als eine besondere Herausforderung für den Sanitätsdienst und seiner medizinethischen Grundlagen erwiesen. Die Preisgabe eigener moralischer Werte und Normen wird hierbei vom illegitimen Gegner beabsichtigt. Dieser hat nicht nur die körperliche und mentale, sondern auch die moralische Vernichtung seines Gegners im Sinn. Die grundlegende Forderung, der Menschlichkeit auch in Zeiten des Krieges zum Durchbruch zu verhelfen, wurde und wird hier auf eine weitreichende Probe gestellt. So sahen sich sanitätsdienstliches Personal und sanitätsdienstliche Einrichtungen im Rahmen des Afghanistan-Einsatzes einer besonderen Bedrohungslage ausgesetzt. In der Bundeswehr fand dies seinen Ausdruck in der Notwendigkeit, das Rote Kreuz auf den sanitätsdienstlichen Fahrzeugen abzudecken. Diese Entwicklung brachte Rolf von Uslar im Jahr 2011 mit der Formulierung „Rotes Kreuz im Fadenkreuz“ auf den Punkt. Es ist deshalb wenig überraschend, dass in Auseinandersetzung mit den sogenannten neuen Kriegen auch vermehrt militärmedizinethische Fragen Beachtung fanden.
Schritt 2: Theoretische Aspekte
Neben einer Fundamentalethik, die in grundlegender Weise Fragen nach dem moralischen Handeln des einzelnen Menschen und dessen Relevanz im gesellschaftlichen Kontext stellt, lassen sich je nach Anwendungsgebiet verschiedene Bereichsethiken ausweisen. Dies sind beispielsweise die politische Ethik, die Umweltethik oder die Tierethik, aber auch die Militär-ethik und die Medizinethik. Für sanitätsdienstliches Handeln spielen die beiden Letztgenannten eine wichtige Rolle. Die Fragen, um die es hier geht, lassen sich jedoch weder durch eine Medizin- noch durch eine Militärethik allein in angemessener Weise angehen, so dass sich ein eigener Bereich ethischer Reflexion ergibt, den wir heute Wehrmedizinethik nennen.
Die Wehrmedizinethik als gemeinsame Schnittmenge sowohl militärethischer als auch medizinethischer Fragestellungen ist nicht frei von Spannungen. Diese sind vielmehr ein Spezifikum der wehrmedizinischen Ethik als einer interdisziplinären Vorgehensweise. Dies zeigt zum Beispiel die Frage, ob medizinethisch relevante Prinzipien des zivilen Lebens ohne weiteres auf den militärischen Kontext übertragen werden können. So betont die World Medical Association in ihren Regelungen für den bewaffneten Konflikt: „Medical ethics in times of armed conflict is identical to medical ethics in times of peace.” Dass diese Sichtweise nicht von allen geteilt wird, können Sie einem Zitat von Michael Gross, einem Pionier auf dem Gebiet der Wehrmedizinethik, entnehmen: „As physicians try to save lifes in an endeavor to taking them, they confront hard dilemmas. It is the nature of these dilemmas to question, if not recast, a physician’s moral obligations.”
Gerade aus der Doppelverwendung als Angehöriger des Sanitätsdienstes und als Soldat können sich eine Reihe von moralischen Problemen ergeben, die in asymmetrischen Konflikten eine erhebliche Bedeutung erlangen können. In der Konfrontation mit unmoralisch agierenden Menschen gilt es, nicht selbst zum unmoralisch agierenden Menschen zu werden, das heißt sich sittlich zu kompromittieren. Auch wenn diese Forderung für alle Lebensbereiche des Menschen in Krieg und Frieden Gültigkeit besitzt, wird sie im asymmetrischen Konflikt auf eine schwerwiegende Probe gestellt.
Für den Sanitätsdienst der Bundeswehr gilt festzuhalten, dass wehrmedizinethische Überlegungen bei der Formulierung des beruflichen Selbstverständnisses und des Leitbildes des Sanitätsdienstes der Bundeswehr eine wichtige Rolle spielten. Ohne auf diese zentralen Texte des Sanitätsdienstes im Detail eingehen zu können, möchte ich Sie dennoch auf zwei Punkte hinweisen, an denen sich das spezifische Berufsethos des Sanitätspersonals zeigt. Neben dem Anspruch, einen wichtigen „Dienst am Menschen“ zu leisten, kommt der Verpflichtung zu einem „Waffenlosen Dienst“ eine grundlegende Bedeutung zu.
Über den Dienst am Menschen heißt es im Selbstverständnis des Sanitätsdienstes: „Was unterscheidet uns von anderen? Wir sind ein militärischer Dienst, der in besonderem Maße dem Auftrag der Menschlichkeit verpflichtet ist.“ Dies greift der Leitspruch des Sanitätsdienstes der Bundeswehr auf, wenn er knapp formuliert: „Der Menschlichkeit verpflichtet!“ Über den oftmals missverstandenen Anspruch, ein waffenloser Dienst zu sein, heißt es im Leitbild: „Wir nutzen unsere Waffen im Einklang mit dem Humanitären Völkerrecht ausschließlich zur Verteidigung unserer Patientinnen und Patienten und zum eigenen Schutz.“
In ihrem Handeln können sich Angehörige des Sanitätsdienstes nicht von allgemein gültigen medizinethischen Richtlinien dispensieren. Dies gilt insbesondere für die Angehörigen von Approbationsberufen, wie Ärztinnen und Ärzte, die mit der Aufnahme in die Bundesärztekammer eine moralische Selbstverpflichtung eingegangen sind. Ein medizinethisch bedeutsamer Referenztext stellt hier die bereits erwähnte Genfer Deklaration dar, die der Präambel der Berufsordnung für Ärztinnen und Ärzte vorangestellt ist: „At the time of being admitted as a member of the medical profession: I solemnly pledge to consecrate my life to the service of humanity.” Dies hat Folgen für das Arzt-Patienten-Verhältnis: „The health of my patient will be my first consideration.”
Als ungemein wichtiges Instrument medizinethischer Entscheidungsfindung haben sich die von Tom Beauchamp und James Childress formulierten medizinethischen Prinzipien erwiesen: Autonomie, Wohlergehen, Nicht-Schaden und Gerechtigkeit. Wie im zivilen Kontext müssen diese Prinzipien auch bei wehrmedizinethischen Entscheidungen bedacht werden. Dies ist umso mehr der Fall, als dass die nationalen und internationalen wehrmedizinethischen Diskurse von Kolleginnen und Kollegen geführt werden, die unterschiedlichen fundamentalethischen Richtungen angehören. Neben tugendethischen spielen hier vor allem pflichtenethische und nutzenethische Überlegungen eine Rolle. Insbesondere wenn Pflicht und Nutzen gegeneinander ausgespielt werden, können schwer lösbare Konflikte entstehen.
Letztendlich geht es hier um einen Streit, der sich im Anschluss an die von Immanuel Kant (1724-1804) formulierte pflichtenbasierte (deontologische) Ethik entzündete, der wiederum Jeremy Bentham (1748-1832) und John Stuart Mill (1806-1873) eine nutzenorientierte (utilitaristische) Ethik entgegensetzten. Die meisten international geführten wehrmedizinethischen Kontroversen spiegeln gerade diesen moralphilosophischen Dissens wider. Je nachdem, welche Position vertreten wird, kann es zu unterschiedlichen, nicht selten widersprüchlichen Ergebnissen kommen.
Ein grundlegendes Dokument der Wehrmedizinethik stellen die Ethical Principles of Health-Care in Times of Armed Conflict and other Emergencies dar. Auch hier möchte ich auf einige zentrale Aspekte hinweisen. So wird unter anderem betont, dass es keine kriegsbedingte Relativierung medizinethischer Prinzipien gibt: „Ethical principles of health-care do not change in times of armed conflict and other emergencies and are the same as ethical principles of health-care in times of peace.” Vorrangiges Ziel sanitätsdienstlichen Handelns ist der Erhalt beziehungsweise die Wiederherstellung der physischen und psychischen Gesundheit sowie die Linderung von Leid: „The primary task of health-care personnel is to preserve human physical and mental health and to alleviate suffering.“
Unter keinen Umständen darf sich sanitätsdienstliches Personal an grausamen, inhumanen oder erniedrigenden Handlungen beteiligen, wie sie beispielsweise bei Foltermaßnahmen zur Anwendung kommen: „No matter what argument may be put forward, health-care personnel never accepts acts of torture or any other form of cruel, inhuman or degrading treatment under any circumstances. They must never take part in such acts.“ Eine solch scharfe Formulierung erschien den Verfassern des Dokumentes geboten, da insbesondere im Rahmen der sogenannten speziellen Verhörmethoden Foltermaßnahmen aus nutzenethischen Überlegungen im Krieg gegen den Terror eine Rolle spielten.
Bereits eine orientierende Beschäftigung mit diesen Dokumenten zeigt, dass die Doppelverwendung als Soldat und Sanitäter ein erhebliches Konfliktpotential bietet. Die hieraus resultierenden Konflikte werden auch als doppelte Loyalitätskonflikte bezeichnet. Sie entstehen aus der zeitgleichen Übernahme zweier moralisch bindender Rollen, deren zugrundliegenden Werte und Normen nicht übereinstimmen. Dabei beinhalten sie die Gefahr, dass es zu einer Nivellierung der grundlegenden Unterschiede zwischen ärztlichem und soldatischem Ethos kommt. Hier wird deutlich, wie schwierig es ist, militärische gegen medizinische Notwendigkeiten abzuwägen. Die Rolle des Sanitäters als Heiler und des Soldaten als Kämpfer miteinander in Einklang zu bringen, stellt die Angehörigen des Sanitätsdienstes vor eine schwierige Aufgabe.
Schritt 3: Ethische Aspekte
Im dritten Teil möchte ich gerne die soeben dargestellten theoretischen Inhalte anhand einiger Beispiele vertiefen und mit Leben füllen. Neben den Problemen, die immer schon zu den besonderen Herausforderungen sanitätsdienstlichen Handelns gehörten, spiegeln die konkreten Schwierigkeiten unserer Tage die Reallagen asymmetrischer Konflikte wider.
Wehrmedizinethische Fragen lassen sich in verschiedene Problemfelder einteilen. Neben allgemeinen wehrmedizinethischen Fragen sind dies spezielle wehrmedizinethische Fragen, die sich insbesondere im Kontext von Einsätzen stellen. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Aspekt des Waffengebrauchs. Diesem kommt seit jeher eine besondere Bedeutung zu, die sich nicht zuletzt in den Genfer Konventionen widerspiegelt. Allgemeine wehrmedizinethische Fragen betreffen beispielsweise die Arzt-Patienten-Beziehung, die Vermittlung wehrmedizinethischer Kompetenz oder auch den Umgang mit Folter.
Bei letzterem handelt es sich um ein international viel diskutiertes Problem, das, auch wenn es die Angehörigen der Bundeswehr nur indirekt betrifft, von diesen ethisch reflektiert werden muss. Spezielle wehrmedizinethische Fragen, bei denen der Waffengebrauch durch Sanitätspersonal von Bedeutung ist, beziehen sich unter anderem auf den Umgang mit dem Schutzzeichen, die Frage nach einer erweiterten Waffenkompetenz des Sanitätspersonals oder auch die Frage nach der Absicherung sanitätsdienstlichem Handelns im Einsatz. Unter dem Aspekt des waffenlosen Dienstes lassen sich darüber hinaus Fragen subsumieren, wie diejenige nach der der Versorgung der Zivilbevölkerung im Einsatzland, dem Einsatz beschränkter Ressourcen (sogenannte Allokationsprobleme) oder auch dem Umgang mit Enhancement-Techniken im militärischen Kontext.
Im Folgenden möchte ich auf fünf historische und aktuelle Themen näher eingehen, die Ihnen zeigen sollen, dass die Beschäftigung mit wehrmedizinethischen Fragen eine wichtige Aufgabe in Ausbildung und Praxis ist. Bereits einleitend habe ich Sie auf historisch bedeutsame Ereignisse hingewiesen, die bei der Entstehung der modernen Medizinethik eine wichtige Rolle gespielt haben. Für die Wehrmedizinethik im engeren Sinne lassen sich gleichfalls medizin- und militärgeschichtlich interessante Beispiele finden.
Wehrmedizinethisch bedeutsam ist die Frage nach der Allokation, das heißt die Verteilung der Mittel bei eingeschränkter personeller und materieller Ressource: Wer wird wie vorrangig behandelt? Nach welchen Kriterien lassen sich Handlungsentscheidungen treffen? Sind diese allein unter dem Gesichtspunkt medizinischer Notwendigkeit zu treffen oder müssen hier militärische Notwendigkeiten primär beachtet werden? Diese Gesichtspunkte spielten während des Zweiten Weltkrieges unter anderem im Umgang mit dem kurz zuvor entdeckten Antibiotikum Penicillin zumindest zeitweise eine wichtige Rolle. Infektionskrankheiten waren zu allen Zeiten ein Faktor, der nicht selten kriegsentscheidende Bedeutung hatte.
Die schwierigen Bedingungen des Krieges lieferten im Militär, aber auch in der Zivilgesellschaft ideale Voraussetzungen für die Ausbreitung von Seuchen, denen man lange Zeit nichts als eine symptomatische Therapie entgegenzusetzen hatte. Dies änderte sich grundlegend mit der Entdeckung des Penicillins. Erstmals stand auf Seiten der Alliierten ein potentes Pharmakon zur Bekämpfung bakterieller Infektionen zur Verfügung. Tatsächlich kann die Bedeutung dieses Antibiotikums für die sanitätsdienstliche Versorgung der Alliierten nicht überschätzt werden. Dabei waren es insbesondere zwei Indikationen, die die Penicillintherapie dominierten: Wundinfektionen und Geschlechtskrankheiten.
Das medizinethische Dilemma der frühen sanitätsdienstlichen Penicillintherapie im Zweiten Weltkrieg entzündete sich gerade an der Frage, wie das zunächst nicht in unbegrenztem Maß vorhandene Antibiotikum eingesetzt werden sollte. Orientiert sich die Verteilung an medizinischen oder militärischen Notwendigkeiten? Während die Behandlung von Wundinfektionen für die betroffenen Soldaten zumeist lebensentscheidend war, aber keinen direkten Wiedereintritt in Kampfhandlungen zur Folge hatte, sah dies bei der Therapie von Geschlechtskrankheiten ganz anders aus. Tatsächlich haben wir es hier mit einem medizinisch relevanten Allokationsproblem im oben angesprochenen Sinn zu tun. Dieses birgt in sich die Möglichkeit eines doppelten Loyalitätskonflikts, dessen Schärfe besonders hervortritt, wenn man ihn vor dem Hintergrund der heutebedeutsamen medizinethischen Prinzipien des Patientenwohls, des Nicht-Schadens und der Gerechtigkeit betrachtet.
Ein weiteres historisches Beispiel, an dem sich medizinethische Dilemmata aufzeigen lassen, stellt die Hearts-and-Minds-Policy der USA im Vietnamkrieg dar. Das Programm sollte die Unterstützung der Bevölkerung im Kampf gegen die Viet Cong sichern, nicht zuletzt durch die Bereitstellung ambulanter und stationärer medizinischer Maßnahmen. In diesem Zusammenhang erwies sich der Einsatz von Placebos als höchst problematisch, der die involvierten Sanitätssoldaten in erhebliche Gewissenskonflikte brachte. Medizinische Versorgung wurde hier für militärische Zwecke nicht nur instrumentalisiert, sondern auch moralisch korrumpiert. Aus Sicht einer prinzipienbasierten Medizinethik wurde massiv gegen Autonomie, Patientenwohl, Nicht-Schaden und Gerechtigkeit verstoßen, was zu ausgeprägten doppelten Loyalitätskonflikten führte.
Auch heute ist die Frage nach der Versorgung der Zivilbevölkerung im Einsatzland wehrmedizinethisch bedeutsam: Welche Ressourcen dürfen in welchem Umfang hierfür zur Verfügung gestellt werden, ohne die Erfüllung des militärischen Auftrags zu gefährden? Welche medizinisch-therapeutischen Maßstäbe gilt es, hierbei zugrunde zu legen? Wie lässt sich ein teilweiser oder vollständiger Verzicht auf medizinische Hilfe im Einzelfall rechtfertigen? Welche Konsequenzen hat dies für das Selbstverständnis von Angehörigen eines Heilberufes? Dass erkrankte oder verletzte Zivilpersonen den Kontakt mit militärischem Sanitätspersonal suchen und sich so einen Zugang zu moderner medizinischer Versorgung versprechen, ist nur allzu verständlich. Krankheitstypen mit jeweils speziellen Herausforderungen für den Sanitätsdienst betreffen neben Kriegsverletzungen das gesamte Spektrum des human- bzw. zahnmedizinischen Fächerkanons.
Eine besondere Herausforderung stellt hierbei die Versorgung von Schwangeren und Kindern dar. Insbesondere die Behandlung von Patienten, die einer langwierigen intensivmedizinischen Betreuung bedürfen, kann ein erhebliches Problem für die materiellen und personellen Ressourcen darstellen. Neben medizinischen und militärischen Aspekten können hierbei auch politische Gesichtspunkte die Entscheidungsfindung erschweren. Gerade bei der Versorgung der Zivilbevölkerung erweisen sich wehrmedizinethische Probleme als sehr belastend. Militärische und medizinische Notwendigkeit gilt es hier gegeneinander abzuwägen, was doppelte Loyalitätskonflikte zur Folge haben kann. Auch der Blick auf die medizinethischen Prinzipien lässt die wehrmedizinethischen Probleme deutlich hervortreten. Die sich hieraus zwangsläufig ergebenden Grenzen humanitärer Hilfe können für Sanitätspersonal eine erhebliche Belastung darstellen.
Ein weiteres Allokationsproblem mit spezieller wehrmedizinethischer Relevanz kann sich im Rahmen eines Massenanfalls von Verwundeten ergeben, wobei die Anzahl der Verwundeten und/oder Verletzten im Rahmen eines Großschadensereignisses die zur Verfügung stehenden materielle und personelle Ressource übersteigt. Als eine in höchstem Maß hilfreiche Vorgehensweise hat sich in diesem Zusammenhang die sogenannte Triage erwiesen. Hierunter versteht man die Sichtung und Kategorisierung von Patienten bei einem Massenanfall von Verletzten, die eine Zuteilung der beschränkten medizinischen Ressource erlaubt, mit dem Ziel die Anzahl der Überlebenden zu maximieren. Dabei werden Patienten in verschiedene Kategorien eingeteilt, anhand derer eine medizinische Versorgung erfolgt.
Während diese Kategorisierung normalerweise streng auf medizinischen Kriterien basiert, wird international im militärischen Kontext auch eine hiervon abweichende Kategorisierung nach militärischen, das heißt funktionellen, Gesichtspunkten diskutiert: Ist militärischem Personal ein Vorrang bei der Behandlung gegenüber möglichen zivilen Opfern einzuräumen? Welchen Stellenwert hat der verwundete oder verletzte militärische Gegner? Kann eine vorrangige Versorgung leichtverwunderter Patienten mit dem Ziel gerechtfertigt werden, diese schnell wieder am Kampfgeschehen teilnehmen zu lassen? Kann eine solche Vorgehensweise auch um den Preis des Überlebens schwerverwundeter Kameradinnen und Kameraden gerechtfertigt werden?
Diese Fragen zeigen bereits, dass es eine Reihe von nicht-medizinischen Gesichtspunkten gibt, die durchaus eine Relevanz im wehrmedizinischen Kontext besitzen. Für die Triagierung unter militärischen Gesichtspunkten hat sich in den internationalen Diskursen der Begriff der Reversal oder Wartime Triage ausgebildet. Reversal Triage meint eine unter funktionellen Gesichtspunkten vorgenommene Umkehrung der Behandlungsreihenfolge, der medizinische Kriterien untergeordnet werden. Diese Vorgehensweise birgt erhebliches Konfliktpotential für sanitätsdienstliches Personal. Auch sie kann doppelte Loyalitätskonflikte zur Folge haben. Mit ihr geht eine Missachtung medizinethischer Prinzipien wie Patientenwohl, Nicht-Schaden und Gerechtigkeit einher.
Ein international viel beachtetes wehrmedizinethisches Problem stellt der Umgang von Sanitätspersonal mit Folter dar. Im Zusammenhang mit der Darstellung der zentralen Referenzdokumente hatte ich bereits im theoretischen Teil darauf hingewiesen. Im Krieg gegen den Terror erschien es beispielsweise der US-Regierung opportun, sogenannte spezielle Verhörmethoden anzuwenden. Hierzu zählen neben Waterboarding auch andere Techniken wie Schlafentzug, akustische und visuelle Stressexposition, Einsargen oder die Anwendung von Gewalt in Form von Schlägen. Dies führte international zu der intensiv diskutierten Frage, ob es für Angehörige von Heilberufen eine moralische Verpflichtung geben kann, speziellen Verhörmethoden beizuwohnen. Während Befürworter entsprechender Methoden dies mit der Notwendigkeit einer medizinischen Überwachung zu rechtfertigen suchten, lehnten die Gegner dies als unvereinbar mit dem ärztlichen Ethos ab.
Dabei erweisen sich die ethisch relevanten Fragen, die hiermit einhergehen, als breit gefächert. Losgelöst von der aus meiner Sicht absolut zu verneinenden Frage, ob sich medizinisches Personal an entsprechenden Techniken beteiligen darf, ist bereits die Frage bedeutsam, wie mit dem Wissen umzugehen ist, dass Patientinnen und Patienten Opfer von Folter wurden oder werden könnten. Im Falle einer Beteiligung an entsprechenden Handlungen wird sanitätsdienstliches Personal entgegen seinem Kernauftrag eingesetzt. Dabei wird gegen alle medizinethisch relevanten Prinzipien verstoßen. Mögliche hieraus resultierende doppelte Loyalitätskonflikte müssen als erheblich eingestuft werden; darüber hinaus wird gegen das Humanitäre Völkerrecht verstoßen.
Zusammenfassung und Ausblick
Ausgehend von verschiedenen historischen Beispielen hatte ich Ihnen die Entstehung des Faches Wehrmedizinethik skizziert, verschiedene theoretische Aspekte beleuchtet und bin auf einzelne zentrale Referenzdokumente eingegangen. Die fünf angeführten Beispiele verdeutlichten die praktische Relevanz wehrmedizinethischen Fragens im soldatischen Alltag. Die Notwendigkeit einer allgemeinen ethischen Kompetenz in der Bundeswehr bedarf heute hoffentlich keiner besonderen Begründung mehr. Vielfältige Angebote ethischer Bildung prägen den militärischen Alltag. Eine zentrale Bedeutung kommt hierbei sicherlich dem Lebenskundlichen Unterricht zu. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl an Aus-, Fort- und Weiterbildungsprogrammen. Sie bieten Ihnen die Möglichkeit, intensiv über die Frage „Was für ein Soldat / eine Soldatin möchte ich sein?“ nachzudenken. Diese Frage führt uns zu der viel grundlegenderen Frage „Was für ein Mensch möchte ich sein?“, von der wir uns niemals dispensieren können.
Die Beschäftigung mit wehrmedizinethischen Fragen in Forschung und Lehre wurde in den letzten Jahren intensiviert, so dass wir heute von einer systematisierten und institutionalisierten Wehrmedizinethik sprechen können. Ich hatte Ihnen zu Beginn gezeigt, dass wehrmedizinethische Fragen alle Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr betreffen. Deshalb möchte ich abschließend die Chance nutzen, Sie für eine weiterführende Beschäftigung mit wehrmedizinethischen Fragen zu motivieren, und hoffe, dass ich Ihnen mit meinen Ausführungen die Bedeutung einer entsprechenden Kompetenz für die erfolgreiche Bewältigung eines soldatischen Verwendung im In- und Ausland habe aufzeigen können.