Tod und Leben. Macht und Ohnmacht

Künstlerisches und Theologisches zur Eröffnung

Im Rahmen der Veranstaltung Vernissage zur Ausstellung “Tod und Leben”, 25.04.2023

© Herlinde Koelbl

Das Thema der Ausstellung ist schrecklicherweise – wieder einmal oder schon wieder – aktuell. Krieg und Militär mit allem, was dazu gehört gab es und wird es, entgegen aller Hoffnung vermutlich immer geben. Damit auch das Training für Soldatinnen und Soldaten, Menschen zu töten. Die Ausstellung mit den Bildern von Herlinde Koelbl wirft deshalb viele, grundsätzliche Fragen auf und reicht, obwohl es anders scheint, bis in die biblischen Anfänge zu Adam und Eva, Kain und Abel zurück.

Tod und Leben – Macht und Ohnmacht

Das ist ein Menschheitsthema. Der Titel formuliert, was die Fotografin uns vor Augen führt. Ihre Bilder und Texte stammen zu einem großen Teil aus dem Projekt targets, das sie 2014, zum hundertsten Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs (!) im Deutschen Historischen Museum und in der Bundeskunsthalle zeigte. Jahrzehnte hatte Herlinde Koelbl an diesem Projekt gearbeitet. Diese, den komplexen Themen geschuldete Gründlichkeit braucht ihre Zeit und ist typisch für die Vorgehensweise Koelbls, um ihren Projekten schließlich in Form von Ausstellungen, Filmen und Büchern die Gestalt zu geben, mit der sie als Autorin zufrieden ist.

„Tod und Leben – Macht und Ohnmacht“. Angesichts des gegenwärtigen, fürchterlichen Krieges in Europa, fürchterlich im eigentlichen Sinn des Wortes, hat Herlinde Koelbl für die Ausstellung in der Katholischen Akademie eine Auswahl aus targets getroffen. Bilder von Menschen in Kampfuniform, waffentragend, zielend, feuernd, Bilder von durchlöcherten Blechfiguren, von zerfetzten Köpfen, von durchsiebten Körpern, von Herzen mit Einschussspuren. Bilder, fotografiert in über dreißig Jahren, deren Qualität nicht in bildjournalistischer Aktualität liegt. Sie zeigen keine hybride Kriegsführung, kein Arsenal ferngesteuerter Waffen und deren mörderische Wirkung, wie sie derzeit Tag für Tag in beinahe allen Medien aufscheinen und irgendwann zum nachrichtlichen Alltag gehören.

Gerade deshalb entfalten Koelbls Fotos, die sich auf Soldatinnen und Soldaten, also auf die Menschen konzentrieren, die ausgebildet werden, andere zu erschießen, ihre beeindruckende Wirkung und Gültigkeit jenseits der Aktualität. Denn der Fotografin geht es um eine andere Ebene der Wahrnehmung und der Sinnhaftigkeit. Ihr Interesse fokussiert sich darauf, heraus zu finden, ob und was den Menschen bewegt, oder durch was er bewegt wird, die Hemmung zu töten, falls es sie denn gibt, auszuschalten und einen Mitmenschen ohne auch nur eine Sekunde des Zögerns zu erschießen.

Als ursprünglichen Titel dieses Projekts hatte sie, wie gesagt, das englische Wort „targets“ ausgewählt und damit ausgedrückt, wie Soldatinnen und Soldaten überall auf der Welt trainiert werden, mutmaßliche Gegner, also Mitmenschen „gezielt“ zu töten. Nun ließe sich Treffsicherheit und Reaktionsgeschwindigkeit ja auch mit Zielscheiben bewerkstelligen, mit Tontauben oder wie im Western, mit Blechdosen oder Flaschen üben. Es sind aber Menschenattrappen. Pappkameraden, wie das früher, im vordigitalen Zeitalter einmal hieß. Heute ist das militärische Schießtraining längst perfektioniert, sind Gegner, wie beim Gaming, virtuell, tauchen unvermutet auf, geben sich mal aggressiv in Kampfuniform, mal unverdächtig zivil, eben so realistisch wie möglich, zudem unterschiedlichen Kriegssituationen angenähert, bis hin in eine jeweils spezifische kulturelle Umgebung eines vermuteten oder zu erwartenden Feindgebiets. Zack, Schuss, in den Kopf oder ins Herz getroffen, sofortiger Exitus. Der Feind, die Feindin ist erledigt.

Das Wort „Feindbild“ wird hier ganz im buchstäblichen Sinn umgesetzt. Der Mensch ist als Gegner auf den Begriff „Ziel“ reduziert. Er wird zum Objekt, das es zu treffen gilt. „Ausschalten“ ist ein gängiges Synonym, das aus der Welt der Maschinen stammt. Interessant, wie Worte den Akt der Gewalt, jemand zu erschießen, sprachlich entschärfen: eliminieren – das eigentlich „entfernen“ bedeutet, oder wegpusten und selbst „abknallen“ oder „umlegen“ umschreiben die Gewalttat. Wie auch „ausknipsen“. Bei diesem Wort schwingt zudem die Vorstellung vom Lebenslicht mit, das dann nicht mehr leuchtet.

Die religiöse Ebene

Greift man dieses Sprach-Bild auf, führt es aus der Ebene des Kriegs und des Tötens in eine tiefere, in eine religiöse Ebene: Das Gegenüber, wahrgenommen als Bedrohung, die beseitigt werden muss, ist ein Mensch. Ein, wie Paulus sagt, „Kind des Lichts“, und, sagt er, Menschen seien als Geschöpfe Gottes „untereinander Glieder“, was bedeutet: Niemand existiert für sich allein, sondern immer im Zusammenhang mit den anderen. Der Theologe Eugen Biser erinnert in seinem Buch Wege des Friedens an die Gotteskindschaft des Menschen und schreibt uns ins Stammbuch den Satz aus dem Neuen Testament „dass wir Gotteskinder nicht nur heißen, sondern sind“.

Eben auch jene, die als mögliche Bedrohung auftauchen und dann, wie die Kameraden, zerfetzt, wie es in dem Gedicht von Ludwig Uhland heißt, einem zu Füßen liegen, „als wärs ein Stück von mir.“ Herlinde Koelbl vermittelt eine Ahnung davon, weil sie für diese Ausstellung Bilder ausgesucht hat von Menschen, die, wie der russisch-ukrainische Religionsphilosoph Nikolai Alexandrowitsch Berdjajew (1874 bis 1948) es ausdrückte, „das Paradox des Leidens und des Bösen durch die Erfahrung von Mitleid und Liebe auflösen“.

Diese Menschen, denen man über die Portraits auf der Holzwand dort im Umgang begegnen kann, sind als Nonnen oder Mönche auch uniform gekleidet, aber sichtbar in anderer Weise und dienen in anderer Weise. Sie leben zurückgezogen, aber vor allem für andere, als Meditierende, Betende, Helfende, die ihr Licht leuchten lassen, wie es bei Matthäus heißt, in der Hinwendung zum Du, zu den Mitmenschen, denn, so formuliert es der russische Mönch Starez Siluan, ein berühmter geistlicher Lehrer des 20. Jahrhunderts: „Selig, wer seinen Nächsten liebt, denn unser Nächster ist unser Leben“, und fügt er an „Liebe duldet nicht, dass auch nur eine Seele zugrunde geht.“ Und, sagt er: „Krieg ist der Sünde Sold, aber nicht der Liebe“. Herlinde Koelbl zeigt diese Portraits, weil gerade sie vermitteln, was Menschsein eigentlich bedeutet, jenseits des Tötens, und trotzdem um Tod und Leben, und um Macht und Ohnmacht wissend.

„Das Paradox des Leidens und des Bösen“ von dem Berdjajew spricht, schiebt sich allerdings im Leben vor allem derzeit immer wieder lautstark und bedrohlich in den Vordergrund. Russische Soldaten, so heißt es, werden im Kriegsgebiet live ausgebildet. Sie nutzen lebendige Targets und sind Trainingstrupps mit Erkennungszeichen: Eine Gruppe schießt nur in den Hals, die andere in das Auge, eine dritte übt den Schuss in die Stirn, wie gesagt, am lebenden Gegenüber. Das ist die Seite des verwundenden und verwundeten, des tötenden und getöteten Menschen. Damit des verwundeten und getöteten Gottes?

Ein Bild, meine ich, könnte das andeuten, das vorne an der Stirnwand hängt: Die schwarz- weiße Silhouette mit dem roten Herzpunkt im Zentrum, vielfach zerschossen. Neben dem Kruzifix vorne eine weitere Kreuzigung? Hoffnung auf Auferstehung? Das Rot des Herzbereichs könnte drauf hindeuten. Wir haben gerade das Osterfest gefeiert, mit dem Ruf „Christus ist auferstanden!“

Üben, um zu töten, gehört offenbar hierher, selbst wenn das Training am Objekt nur der Verteidigung dient. Aber kann man Verteidigung und Angriff sauber trennen? Wo verläuft die Grenze von Gut und Böse? Herlinde Koelbls Fotografien lassen das offen. Klagen nicht an. Zeigen auf: Tod und Leben – Macht und Ohnmacht.

Mao Zedong prägte den Satz, dass die politische Macht aus den Gewehrläufen komme. In Portugal wurden 1974 rote Nelken in die Gewehrläufe gesteckt, um diktatorische Macht zu brechen und in der Nato Einmarschpläne überlegt, falls das Land sozialistisch werden würde.

Das Paradox des Leidens und des Tötens, des Bösen war und ist heute mehr als je die Macht mit Bomben, Raketen und Drohnen, und all den anderen hoch effizienten Vernichtungsmaschinen, die Macht gewalttätiger Unterdrückung weltweit, diese Macht, die Menschen hundertausendfachen Tod bringt und die ohnehin hochgefährdete Welt verwundet und verpestet, vernichtet und zerstört und Schöpfung und Geschöpfe aus dem Leben in den Tod reißt. Bleibt da nicht das Gefühl einer hilflosen Ohnmacht, einer Machtlosigkeit, nichts ändern zu können? Wäre folglich die einzige Lösung, die Macht mit noch mehr Macht zu bekämpfen? Abschrecken mit wechselseitiger Aufrüstung. Nötig? Schon wieder? Fragen, die sich vor den Bildern der Ausstellung stellen, mit der Kernfrage, was im Menschen, der doch ein Licht in der Welt sein soll, vorgeht.

Was also ist der Mensch angesichts von Tod und Leben, Macht und Ohnmacht? Herlinde Koelbl, die unablässige Beobachterin, hat immer wieder entsprechende Themenfelder gesucht, sie mit Kamera und Mikrofon ausgelotet, auf ihrer Suche nach Antworten. Sie ist eine Erforscherin des Menschseins, man könnte sie mit Fug und Recht eine künstlerische Anthropologin nennen, die das Wie und das Warum wissen will. Ihre zahlreichen Projekte wirken denn auch wie Feldforschungen, um die Fülle menschlicher Existenz in Bildern und, ergänzend durch Interviews, aus unterschiedlichen, aber meist miteinander zusammenhängenden Perspektiven zu zeigen.

Von Reichtum und Macht zeugte schon ihr frühes Langzeit-Projekt Feine Leute, und zwar, wie es der Untertitel andeutet, 111 Fotografien der Jahre 1979 bis 1985. Es sind Selbstentblößungen der Reichen und Mächtigen im Land, zu allerhand festlichen Anlässen. Herlinde Koelbls Blick ist dabei nie zynisch, sie verrät die Abgelichteten nicht, sondern registriert präzise, blickt genau hin, zeigt Einzelheiten, die Kleidung etwa, auch als Verkleidung, den Habitus, die Insignien des Reichtums und der gesellschaftlichen Macht.

Macht, politische Macht wie Ohnmacht war ihr Thema des vielleicht bekanntesten Projekts Spuren der Macht – Die Verwandlung des Menschen durch das Amt – Eine Langzeitstudie, das 1999 erschien. Darüber ist viel geschrieben worden, wie auch über ihre Portraitserie der Kanzlerin Angela Merkel. Verändert Macht den Menschen? Korrumpiert sie, macht sie einsam, oder ist ein Mensch mit Macht angesehener, gar begehrenswerter als jene, die auf Macht verzichten, ohne Macht bleiben, oder schwach sind? Gar Schwächlinge, wie das abwertend ausgedrückt wird. Aber sagte Paulus nicht „wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“?

In einem anderen Projekt, das sie lakonisch Kinder nannte, galt ihr Blick den Menschen im Alter zwischen zwei und acht Jahren, die gerade erst beginnen, eine Art Rollenverständnis zu entwickeln. Also Unschuld? Nein, sentimental ist Herlinde Koelbl nicht, in keinem ihrer Projekte, und ihre Herangehensweise bleibt distanziert und frei von Klischees. Sie zeigt mit ihren Kinderportraits weitgehend unverstellte Gesichter, in denen sich, poetisch ausgerückt, ein Teil der Seele offenbart. Für die Fotografin ein Versuch mehr, den Blick in die Tiefe zu wagen, um herauszufinden, was Menschsein bedeutet.

Herlinde Koelbl hat Schriftstellerinnen und Schriftsteller besucht, sie in ihrem Arbeitszimmer fotografiert, ihrem Intimraum, mit ihnen über den Prozess des Entstehens, des Schreibens gesprochen, der Kreativität. Was bewegt sie, was treibt sie an, was erhoffen sie, was wollen sie bewirken, wollen sie überhaupt etwas bewirken? Auch dies eine bildhafte Spurensuche, ein Blick in den Menschen, und auch ein Sinnieren über Macht und Ohnmacht.

Genauso wie die Portraitreihe Starke Frauen, im wirklichen wie übertragenen Sinn. Ein „Körper und Geist Buch“ ist daraus entstanden, das buchstäblich leibhaftig die junge und volle, wie die alte, welke und verletzliche Schönheit zeigt. Lebensspuren mit der sinnlichen Fülle des Werdens, wie in der reifen Fülle des Vergehens: Haut, die voll unendlicher Fältchen einer Landschaft gleicht: Leben auf den Tod hin, in vornehmer Würde des nackten Körpers.

Das Begriffspaar Tod und Leben

Da ist es einmal mehr, das Begriffspaar Tod und Leben, als Eckpunkte menschlichen Seins. Denn um diese Kernbegriffe dreht sich die Ausstellung hier vor uns in der Katholischen Akademie, und, meine sehr verehrten Damen und Herren, drehte sich schon einmal eine Ausstellung von Herlinde Koelbl in diesen Räumen. Es war Das Opfer. Siebzehn Bilder der österlichen Schlachtung eines Lammes durch einen Hirten in Sardinien: siebzehn Stationen des Tötens und Verarbeitens, des gemeinsamen Zubereitens und Verzehrens. Das gebundene Schaf steht am Anfang, Hände, die das geröstete Fleisch teilen, bilden den Schluss. Im Buch hat dieses Projekt nur wenig Text. Der Bilderzyklus steht im Vordergrund, ist lesbar genug. Vorangestellt hat die Fotografin den biblischen Bericht vom ersten Opfer, der ersten Gewalttat: Kain und Abel.

Der Brudermord: Eine Geschichte über den Zusammenhang von Gewalt, Leben und Tod. Von Macht und Ohnmacht. Kain erschlägt Abel. Kain ist der Täter und Abel das Opfer. Aber Abel hat seinerseits getötet: ein Schaf geopfert. Töten bedeutet Gewalt. Abel übt Gewalt aus. Freilich ritualisiert, in vorgeschriebener Form. Das lateinische Wort „rite“ bedeutet „auf rechte Weise“ oder „gebührend“. Beim Opfern flutet die Gewalt eingedämmt, flutet in der richtigen Bahn. Sie überschwemmt nicht, richtet keine Zerstörung an. Es ist die Bahn des Ritus, der das Töten im Transzendenten bindet.

„Einer der beiden Brüder tötet den anderen, und zwar ist es jener, der nicht in der Lage ist, die Gewalt zu überlisten, wie dies in Form des Tieropfers möglich ist.“ erklärt der französische Kulturwissenschaftler René Girard im Vorspruch zu dem Buch Opfer von Herlinde Koelbl. Sie hatte ihn um einen Text gebeten, denn als sie in Sardinien zu Ostern das Schlachtritual beobachtete mit dem geschärften Blick durch die Kamera, sei ihr, wie sie sagt, die Gewalt, die im Töten liegt in ihrer Wucht erst zu Bewusstsein gekommen.

Bemerkenswert, wie heftig die Reaktionen des Publikums auf diese Bilder waren, an nahezu allen Ausstellungsstationen, auch hier in der Akademie.

Die Bilder mit den Fotos der Soldatinnen und Soldaten sowie ihres zerschossenen, virtuellen Gegenübers, scheinen dagegen in einer gewissen emotionalen Distanz zu bleiben. Obwohl hier in unterschiedlichen Variationen das Töten geübt wird – das Töten von Menschen. Aber es wirkt eigentümlich undramatisch und auch abstrakt. Diese Distanz, und das zeigt Herlinde Koelbl eindrucksvoll, ist auch für die Soldatinnen und Soldaten Teil eines mal improvisierten, mal ausgeklügelten und perfektionierten Trainings, je nach den vorhandenen Möglichkeiten. Soll doch das Üben realistisch sein und gleichzeitig eventuelle Skrupel und Bedenken, den Abzug zu betätigen, soweit wie möglich abbauen. Das erfordert eine gewisse Abstraktion. „Wer denkt, ob er schießen soll oder nicht, ist schon so gut wie tot“ zitiert Herlinde Koelbl einen Soldaten.

Natürlich ist das so. Es ist die grundsätzliche Logik, die seit der Antike jeder potenziellen militärischen Aktion innewohnt, ob als Übung oder im Ernstfall. Militär muss notwendigerweise zu maximaler Effizienz bereit und in der Lage sein, sonst ist es sinnlos und würde seiner Aufgabe nicht gerecht. Aber wo sind die Grenzen, die es einzuhalten gilt: Ist töten erlaubt? Und wenn ja: wann, wie, wo und wen? Entsprechende Regeln sind eigentlich in der UN-Charta formuliert. Demnach ist Krieg grundsätzlich völkerrechtswidrig, im Falle von Selbstverteidigung bei einem Angriff aber legitim. Auch während eines Krieges müssten, oder sollten wenigstens Rechtsgrundsätze des Genfer Abkommen und der Haager Landkriegsordnung befolgt werden.

Nun sind Recht, also Gesetz, und Gerechtigkeit zwei verschiedene Begriffe, und aus vielen Gründen nicht immer deckungsgleich. So kann eine ungerechte Entscheidung dem Gesetz entsprechen, oder eine gerechte Entscheidung ihm widerlaufen. „Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben, denn er selbst hat sich zu Gottes Sohn gemacht.“ So begründet die Priesterschaft, so steht es jedenfalls im Johannes-Evangelium (Johannes 19, 7), als oberstes Organ der damals jüdischen Rechtsprechung das Todesurteil Jesu. Gesetzestreu? Vielleicht. Aber gerecht?

Auch verändert sich das Recht mit den gesellschaftlichen Vorstellungen, was zur Frage führt, woraus eine Rechtsordnung ihre Legitimität bezieht. Wer definiert letztlich, was Recht und Unrecht ist? Zumal die Definitionen ihrerseits in einen Graubereich vieler weiterer Fragen führen kann. Im Falle der Tötung von Menschen allemal.

Lassen Sie mich in dem Zusammenhang eine Geschichte erzählen, die ich mit der Katholischen Akademie erleben durfte. Wir reisten im Oktober 2016 im Rahmen einer Studienreise nach Volos in Mittelgriechenland, zu Füßen der bergigen Pilion-Halbinsel. Eine der Exkursionen von dort führte uns in das nahe gelegene Bergdorf Miliés. Wir kamen aber nicht, um es zu besichtigen, sondern um auf dem Dorfplatz vor der alten Taxiarchis- also Erzengel-Kirche der rund 20 Menschen in einer gemeinsamen ökumenischen Feier zu gedenken, die am 4. Oktober 1943 auf diesem Platz von deutschen Wehrmachts-Soldaten erschossen worden waren.

Ihr Blut floss in den kleinen Dorfbach und den Berg hinunter. Die Opfer waren zufällig ausgesuchte männliche Dorfbewohner, von kleinen Kindern bis zu Greisen. Sie wurden als Vergeltung für zwei deutsche Soldaten ermordet, die von griechischen Partisanen in den Bergen um Milies getötet worden waren. 73Jahre später stand neben dem Bürgermeister des Dorfes ein alter Mann, der das Massaker als Kind überlebt hatte und uns, die erste offizielle Gruppe aus Deutschland, nun staunend und verwirrt ansah. Das war außerordentlich berührend.

Tod und Leben – Macht und Ohnmacht, und, darf ich anfügen: Scham. Warum Scham? Weil auch dieses Massaker, wie viele andere, nicht nur in Griechenland, nach dem Krieg keinerlei juristische Konsequenzen hatte. Denn für jeden der von den Partisanen getöteten deutschen Soldaten galt die Erschießung von zehn Geiseln aus nahegelegenen Dörfern als angemessene Vergeltung und war damit gerechtfertigt. So jedenfalls entschieden Gerichte der Bundesrepublik Deutschland.

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund und angesichts der Ausstellung mit den Bildern weltweiter Schießtrainings auf Menschenattrappen fragt man sich, ob und welche Folgen Übungen für die Soldatinnen und Soldaten haben, die die innere Schwelle, einen Menschen zu töten herabsetzen. Und, noch einen Schritt weiter, welche es für den tatsächlichen Ernstfall hat, wenn der Kampf zur Norm und der Krieg zum Alltag und der Gegner von einem Menschen zu einem Ziel, einer Sache wird, die zerstört werden soll. Egal, ob mit Schüssen, Mienen, Drohnen oder Bomben.

Gibt es dazu offizielle, begleitende Forschungen? Vielleicht – aber ich weiß es nicht. Herlinde Koelbl, die sich eingehend mit diesen „targets“ beschäftigt hat, schreibt in ihrem Text zur Ausstellung, dass sie den Soldatinnen und Soldaten entsprechende Fragen gestellt hat nach Zweifeln und Ängsten, nach Töten und Verantwortung. Das lässt sich in ihrem sehr lohnenden Buch mit dem selben Titel nachlesen.

Mit der Ausstellung Tod und Leben – Macht und Ohnmacht jedenfalls berührt sie grundsätzliche Themen, die sich allein schon im Betrachten stellen. Bis hin dazu, ob es überhaupt einen „gerechten Krieg“ geben kann, oder einen „gerechten Frieden“, was eine verbindliche Definition von Frieden voraussetzen würde dessen, was Friede bedeutet. Weltliches Vertragswerk – dann mag es einen ungerechten, weil erzwungenen Frieden geben, aber ist das wirklich ein Frieden? Friede ist bekanntlich mehr als nur die Abwesenheit von Krieg. Könnte entsprechend Frieden eine Utopie sein? Unerreichbar? „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht, wie die Welt ihn gibt, gebe ich ihn euch. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“

Dieser Friede, den Jesus im Johannesevangelium zusagt, ist keine Utopie, sondern es ist der Friede, den die Engel über Bethlehem den Hirten verkünden. Der Friede Christi ist Kern christlichen Glaubens und untrennbar mit Christus verbunden. Er wird mit jedem Segen, in jeder Messe, jeder göttlichen Liturgie, in jedem Gottesdienst verkündet und erbeten, sogar als Friedenserfahrung, wie Eugen Biser sagt, und im sogenannten Kanzelsegen als letztes Votum nach der Predigt in evangelischen Kirchen erbeten: „Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure – unser aller – Herzen und Sinne in Christus Jesus.“

Entschuldigen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, diese kleine Abwandlung des Philipper Briefs. Aber es sind weder Pfarrerworte noch von der Kanzel gesprochen, sondern einführende Worte zur Ausstellung, die auf ihre Art auch eine Friedenserfahrung möglich machen kann.

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