Träume und Traumdeutung

Die biblische Josephsgeschichte und ihre Rezeption in Thomas Manns "Josephs"-Roman

Im Rahmen der Veranstaltung "Traum", 23.10.2019

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In keinem anderen biblischen Buch spielen Träume und Traumdeutung eine so entscheidende Rolle wie in der Erzählung von Joseph und seinen Brüdern. Es handelt sich im ganzen um sieben Träume. Zwei davon träumt Joseph ganz am Anfang: den Garben- und Sternentraum (Gen 37,5–11), zwei träumen hochrangige Höflinge des Pharao, der Obermundschenk den Weinstock- und der Oberbäcker den Korbtraum. Sie hatten die Gunst des Pharao verloren und Joseph begegnet ihnen im Gefängnis (Gen 40,9–23). Zwei Träume träumt Pharao persönlich: den Kühe- und den Ährentraum (Gen 41,1–36) und ein Traum wird Vater Jakob zugeschrieben, wird er doch zu seiner Reise nach Ägypten auf Werben Josephs hin durch eine „nächtliche Vision“ ermutigt: „Ich bin Gott, der Gott deines Vaters. Fürchte dich nicht, nach Ägypten hinabzuziehen; denn zu einem großen Volk machen will ich dich dort“ (Gen 46,3). Diese Träume in der biblischen Geschichte haben zum einen eine weichenstellende Funktion für die Dramaturgie der Handlung und zugleich eine symbolische Funktion für eine theozentrische Deutung der Gesamterzählung. Thomas Mann war das nicht verborgen geblieben, als er sich nach Abschluss und Veröffentlichung seines Romans „Der Zauberberg“ (1924) daran machte, die biblische Vorlage erzählerisch auszugestalten, nicht ahnend, dass er für deren Vollendung vom Dezember 1926 bis August 1936 und vom August 1940 bis Januar 1943 13 Jahre und vier Romanbände brauchen würde und für deren Publikation von Band I 1933 bis zu Band IV 1943 zehn Jahre.

 

Von Alterität und Differenz: Josephsgeschichte im Roman

Wer nun aber eine Art Nacherzählung der biblischen Geschichte erwartet, wird rasch eines Besseren belehrt. Gewiss, Thomas Mann hält sich an den Grundduktus der biblischen Josephsgeschichte, der in fünf Erzählblöcken besteht:

1. Alles beginnt mit dem durch das Verhalten von Vater Jakob mitverursachte und durch maßlose Träume Josephs verstärkte Eifersuchtsdrama Bruder – Brüder. Der Hass zwischen den Brüdern steigert sich zum Mordplan, dann zur Beseitigung Josephs in einem Brunnen und zum Verkauf an die Midianiter. Daraus folgt der Transport nach Ägypten und der Verkauf an Potifar (Kap. 37). Vater Jakob wird mit einer gefälschten Tötungsgeschichte hintergangen.

2. Dann das Drama im Hause Potifars mit dem Versuch sexueller Verführung durch die Frau des Hauses. Es kommt zur Intrige gegen Joseph und zum Wurf ins Gefängnis (Kap. 39,1–20).

3. Dann die Traumdeutungspraxis im Gefängnis, dadurch Gunst zweier Hofbeamter des Pharao, dessen einer (der „Obermundschenk“) sich später Josephs erinnert, als der König selber Traumdeutungs-Hilfe braucht (Kap. 39,21–41,14).

4. Die Begegnung mit Pharao: Deutung von dessen Träumen, Aufstieg Josephs in eine einzigartige Machtstellung über Ägypten (Kap. 41,15–49).

5. Schließlich der Komplex Wiederbegegnung und Wiederversöhnung. Einerseits mit den Brüdern (mit denen Joseph noch eine Zeitlang spielt), andererseits mit dem Vater, der nach Ägypten geholt wird und hier sein Leben vollendet (Kap. 41,50–50,13)

Doch von der ersten Zeile an ist alles anders, trifft man eine narrative Konzeption und Strategie, die dem Romangeschehen ihr unverwechselbares Profil geben. Aus einer biblischen Erzählung der Urzeit, aus der Welt der antiken Vormoderne, wird ein moderner Roman, dessen Reiz nun gerade nicht in der Imitation des Vertrauten, sondern im Kontrast besteht, in der Fortschreibung und Transformation ins 20. Jahrhundert unter den Prämissen der Moderne, vor allem der religionsgeschichtlichen und psychologischen Aufklärung. Diese „Andersheit“, sprich: Alterität und Differenz der romanhaften Josephserzählung zu verstehen, ist anspruchsvoll, denn sie setzt eine Vertrautheit mit der konzeptionelle Programmatik des Romanautors voraus, mit seinen Prämissen und Vorentscheidungen, die man zunächst verstanden haben muss, um sie in ihrem Eigenwicht würdigen zu können.

Auf Alterität und Differenz trifft man schon bei dem Versuch, herauszufinden, wie im Roman mit der ersten Traumszene der Josephsgeschichte umgegangen wird. Ich ziehe sie pars pro toto heran, um an ihr Grundsätzliches zur Bedeutung der Träume in diesem Romanwerk klar zu machen. Der Roman erzählt insgesamt 12 Einzelträume, wobei die Zahl 12 zu den magischen Zahlen im Romanganzen gehört. Die Zwölf steht im Zusammenhang mit der Brüderreihe und die ist wiederum verbunden mit den Tierkreiszeichen, so dass jedem Bruder ein eigenes Tierkreiszeichen zugeordnet werden kann. Das im Detail zu rekonstruieren ist in diesem Rahmen nicht möglich, all die Träume, die Thomas Mann immer wieder neu einzelnen Figuren in freiem Absprung von der biblischen Vorlage träumen lässt. Und es wird viel geträumt in diesem Romanwerk. Ich denke insbesondere die Träume der Frau des biblischen Potifar, Mut-em-enet, und des Vorstehers im Gefängnis, Mai-Sachme. Tiefenträume, die Einblicke in die Vorgeschichte und damit in die seelische Disposition der beiden Figuren erlauben. Aber selbst nur die einzelnen Traumsequenzen aus den biblischen Vorlagen im Roman zu analysieren, würde jeden Rahmen sprengen. Thomas Mann hat mit sichtlichem Vergnügen, voll Witz und Ironie, von den Träumen der Höflinge im Gefängnis ebenso erzählt wie von den Träumen des Pharao einschließlich der Traumdeutungspraxis der Höflinge und Josephs. Nachzulesen im Vierten und letzten Band, in den Hauptstücken eins, zwei und drei, Höhepunkt zweifellos die beiden Kapitel „Das Kind der Höhle“ und „Pharao weissagt“ im 3. Hauptstück. In diesem Kapiteln erweist sich Thomas Mann als glänzender, funkelnder Erzähler, der nicht nur die Technik der Amplifikation, Alteration, Dramatisierung und Psychologisierung der biblischen Prätexte, sondern auch die Theorie von Traumdeutung virtuos beherrscht und sie als moderner Erzähler einzusetzen weiß.

Bekanntlich beginnt die biblische Erzählung ohne lange Einführung nach nur wenigen Sätzen mit dem Garben- und Sternentraum Josephs. Beide Träume werden selbstverständlich auch im Roman erzählt, aber bis es soweit ist, braucht der Romanautor einen langen „Anmarschweg“ mit zunächst überraschenden Ausweitungen und Kontextualisierungen. So hat man als Leser schon den ganzen ersten Band hinter sich, „Die Geschichten Jaakobs“, an dessen Ende die Geburt Josephs geschildert wird, ist dann schon über viele Seiten in den zweiten Band „Der junge Joseph“ eingedrungen, bis man dort im Dritten Hauptstück auf das Kapitel „Der Adonishain“ trifft. Joseph im vertrauten Umgang mit seinem mittlerweile achtjährigen Lieblingsbruder Benjamin Seltsam: Mit Vorliebe, heißt es, suche Joseph, „unseren Ort“ auf: einen in einer Myrthen-Schlucht verborgenen Ort, der „als Hain der Astaroth-Ischtar oder mehr noch ihres Sohnes, Bruders und Gatten, des Tammuz-Adoni heilig galt“ (7.1, 416). Nicht gerade ein Ort, den Vater Jaakob schätzt, denn hier wird nicht der Gott Abrahams verehrt. Doch die Anziehung dieses „heidnischen“ Kult- und Festortes ist für Joseph unwiderstehlich. Denn alles wird hier zu Zeichen, die er selber auf sich und sein bevorstehendes Schicksal zu deuten weiß, sowohl die Präsenz von Myrthe als auch die kultische Verehrung von Figuren aus der phönizisch-babylonischen Götterwelt: Die Myrthe – ist sie nicht ein Symbol für Jugend und Schönheit, aber zugleich auch von Sterben und Todeshauch? Und die Götterjünglinge Tammuz-Adonis? Vollzieht das Fest zu ihrer Verehrung nicht das Zugleich von Tod und Auferstehung rituell nach? Was aber mag das Interesse des Romanautors sein, seinen Joseph in diesen Kontext zu stellen und mit dem Wissen um schöne, aber sterbliche Götterjünglinge auszustatten, an deren Lebensweg sich der Kreislauf von Tod und Neuem Leben veranschaulichen lässt?

Und dann noch einmal merkwürdig. Nach dem „Adonishain“-Kapitel lässt der Romanautor Joseph einen „Himmelstraum“ träumen, noch bevor er die biblisch überlieferten Träume aufnimmt und im Vierten Hauptstück von „Der junge Joseph“ unter dem Titel „Der Träumer“ breit ausgestaltet. Dieser „Himmelstraum“ ist an Größe und Bedeutungsschwere kaum zu überbieten, den Joseph seinem Bruder Benjamin erzählt. Dabei ist der Kritik nicht verborgen geblieben, dass Thomas Mann bei der sprachlichen und bildlichen Ausgestaltung klassische antike Texte herangezogen hat. „Josephs Traum ist eine Mythenmischung aus der babylonischen Etana-, der hebräischen Henoch-, der griechischen Ganymed-Sage und der biblischen Ezechiel-Vision“ (7.2, 840). Wichtiger für uns ist die Funktion dieses Traums vor allen Träumen. Joseph sieht sich auf einem Feld unter Schafen liegen, auf dem Bauch, einen Halm im Mund und die Füße in der Luft, als ein riesiger Adler ihm überschattet, so groß wie ein Stier und mit Hörnern wie ein Stier. Der packt ihn und entführt ihn in die Lüfte. Er ist der Engel Amphiel, der einem unumstößlichen Auftrag der höchsten Autorität folgend mit ihm in den Sternenhimmel fliegt, in den kosmischen Raum, „zum obersten Gewölbe, in die Mitte des großen Palastes“ (7.1, 441), so hoch und weit, bis er des „Alleinigen Antlitz“ sieht, des „Vaters der Welt“.

Dieser gebietet, dass er, Joseph, künftig vor seinem Stuhle stehen solle als Metatron (hochrangiger Engel) und Knabe Gottes, ausgestattet mit der Schlüsselgewalt und als Befehlshaber über alle Scharen (7.1, 444). Selbst die irritierten Vorbehalte großer Engel können den „König“ nicht davon abhalten, diesen Erdling in allerhöchste Stellungen einzusetzen und ihn mit allen Machtinsignien auszustatten. Er erklärt vor den versammelten himmlischen Scharen: „Siehe, es war ein zarter Zedernschößling im Tal, den verpflanzte ich auf einen Berg, hoch und erhaben, und machte einen Baum daraus, unter dem die Vögel wohnen. Und der unten den Scharen der Jüngste war an Tagen, Monden und Jahren, den Knaben machte ich größer denn alle Wesen, in meiner Unbegreiflichkeit, um der Vorliebe willen und der Gnadenwahl. Ich befahl ihn zum Aufseher über alle Kostbarkeiten der Hallen des Araboth und über alle Schätze des Lebens, so in der Höhen des Himmels aufbewahrt sind … Und war mir nur leid, dass ich seinen Stuhl nicht grösser machen konnte denn meinen eigenen und seine Herrlichkeit nicht grösser denn meine eigene, denn sie ist unendlich! Sein Name aber war Der kleine Gott!“ (7.1, 446).

Ein Schlüsseltraum, keine Frage. Noch bevor der Romanerzähler auf die biblisch überlieferten Traumszenen, den Garben- und den Sternentraum, übergeht, hat er ein symbolisches Verweissystem geschaffen, das Elemente aus der antiken Religionsgeschichte und der astralen Visionsliteratur benutzt, um seine Josephsfigur mit einer Bedeutung aufzuladen, die der biblischen Erzählung unbekannt ist. Warum ist das so? Welche Vorentscheidungen hat Thomas Mann für seine „Menschheitsdichtung“ getroffen? Vergegenwärtigen wir uns in aller gebotenen Kürze Entstehung und Konzeption dieses Romanwerks.

 

Die Entdeckung des Joseph-Stoffs

Eher „zufällig“ war er ihr wieder begegnet, dieser Geschichte, vermutlich im April 1924. Als der Münchner Maler Hermann Ebers ihn um eine Einleitung zu einer von ihm gefertigten Bildermappe bittet, welche „die Geschichte Josephs, des Sohnes Jakobs, in hübscher graphischer Darstellung“ darbietet (so im „Lebensabriss“ von 1930: E III, 214), liest Thomas Mann in seiner alten Familienbibel „die reizende Mythe“ noch einmal nach. Literarisch fühlt er sich überdies herausgefordert (wie auch sonst) von Goethe, der in seiner Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ von einem eigenen Jugendwerk zur Josephs-Geschichte berichtet hatte, das er dann aber buchstäblich des Aufhebens nicht wert fand und vernichtet hat. Immerhin aber hatte der alte Goethe die in diesem Zusammenhang die „Arbeitsanweisung“ hinterlassen: „Höchst anmutig ist diese natürliche Erzählung, nur erscheint sie zu kurz, und man fühlt sich berufen, sie ins einzelne auszumalen“ (E III, 214).

Eine solche „Berufung“ findet Thomas Mann auf Dauer unwiderstehlich, zumal er im März 1925 Gelegenheit bekommt, selber nach Ägypten zu reisen. Es ist ohnehin die Zeit besonderer Ägypten-Faszination in Europa, hatte doch der britische Archäologe Howard Carter im November 1922 das unversehrte Grab Pharao Tut-ench-Amuns, des Schwiegersohns von Pharao Amenophis IV Echnaton, entdeckt und war auf Schätze von atemberaubender Schönheit gestoßen. Thomas Mann sieht auf dieser seiner ersten Ägypten-Reise (1930 wird eine zweite folgen) nicht nur Kairo, sondern auch die Pyramiden, dann Luxor und Karnak sowie die Königsgräber in Theben. Die Jahre 1925 und 1926 sind mit ausgedehnten Vorbereitungen ausgefüllt. Im Juni 1926 läuft das Projekt noch unter der Bezeichnung „Novelle“, seit August 1926 aber ist bereits von einem kleinen Roman die Rede. Er heißt zu diesem Zeitpunkt noch „Joseph in Ägypten“. Anfang Dezember 1926, zu Beginn der Weihnachtszeit also, werden die ersten Kapitel des „Vorspiels“ geschrieben. Gut 16 Jahre wird es bis zum Abschluss dauern, dann hat sich die „Novelle“ zu einem vierbändigen Roman-Gebirge ausgewachsen. Aber ein Romanstoff aus den Tiefen der Religionsgeschichte bei einem Autor der „Buddenbrooks“ und des „Zauberbergs“? Was war das: Eine unpolitische Flucht in uralte Zeiten jenseits der bedrückenden Tagesaktualität der 20er Jahre?

 

Öffnung für Fragen von Menschheit und Religionsgeschichte

Selbstzeugnisse verraten, dass Thomas Mann selber überrascht ist, wie sehr ihn jetzt, nach dem “Zauberberg”, “das Religiöse anzieht”. Er habe bisher, gesteht er im Juni 1926 einem Gesprächspartner, das Religiöse „nur mit der naiven Ehrfurcht eines Daseinsmenschen vor dem Unbekannten angesehen“. Doch jetzt ziehe es ihn „unendlich heftig an“, und er glaube, das geschehe „nicht zufällig, sondern notwendig“. Das Religiöse werde „unsere ganze nächste Zukunft bestimmen“ (Selbstkommentare, 20). Endgültig vorbei ist damit die Verengung der Erzählperspektive auf das Schicksal Einzelner. Der ehemals bewusst in einem bestimmten Sinne „Unpolitische“ („Betrachtungen eines Unpolitischen“, 1918) beginnt sich in den 20er Jahren Jahr für Jahr intensiver Gedanken zu machen über die Situation und Zukunft der Menschheit als ganzer. Selbstsorge wird ergänzt durch Weltsorge, Deutschtum durch Weltbürgerlichkeit. In seinem Aufsatz „Deutschland und die Demokratie“ plädiert er 1925 bereits für die „Einordnung Deutschlands in die Weltdemokratie“ (15.1, 947). Im Vortrag „Lübeck als geistige Lebensform“ (1926) definiert er „Deutschtum“ angesichts der politisch immer bedrohlicheren nationalistischen Borniertheit des aufkommenden Faschismus jetzt als „Weltbürgerlichkeit, Weltmitte, Weltgewissen, Weltbesonnenheit“ (E III, 37).

Nur wenige Jahre später kann von all dem in Deutschland keine Rede sein. Bei den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 verbucht die NSDAP ihren ersten Massenerfolg. Thomas Mann nimmt dazu am 17. Oktober 1930 im Beethoven-Saal zu Berlin Stellung: „Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft“. Sie ist für unser Thema insofern von Bedeutung, als der Schriftsteller den Massenerfolg des Nationalsozialismus nicht nur auf außen- und innenpolitische „Leidensmotive“ zurückführt, nicht nur auf wirtschaftliche und soziale Verwerfungen also, sondern auch auf eine geistig-kulturelle Wende. Denn Thomas Mann deutet das Aufkommen des Faschismus jetzt erstmals religionsgeschichtlich, ja religionspsychologisch: „Wenn man aber bedenkt, was es, religionsgeschichtlich, die Menschheit gekostet hat, vom orgiastischen Naturkult, von der barbarisch raffinierten Gnostik und sexualistischen Gottesausschweifung des Moloch-Baal-Astarte-Dienstes sich zu geistigerer Anbetung zu erheben, so staunt man wohl über den leichten Sinn, mit dem solche Überwindungen und Befreiungen heute verleugnet werden, – und wird sich zugleich des wellenhaften, fast modisch-ephemeren und, ins Große gerechnet, bedeutungslosen Charakters eines solchen philosophischen Rückschlages bewusst.“ (E III, 266 f.)

Das Studium der Religionsgeschichte ist also angesichts der faschistischen Usurpation des Mythos alles andere als unpolitisch. Thomas Mann ist sich früh darüber im Klaren. „Die Beschwörung des Mythos in seinem Josephs-Plan“, so die Kritik zurecht, „ist in diesem Sinne für ihn die Evokation einer alle nationale und ethische Beschränkung überwindenden, universalen Geistes- und Bilderwelt, die Zusammenschau altorientalischer, griechisch-antiker und jüdisch-christlicher Religiosität. Wie die ‚Einheit der religiösen Welt‘ für ihn ein Axiom seines letzten Lebensjahrzehnts gewesen ist, so auch die ‚Einheitlichkeit der abendländischen Menschlichkeit“ (7, 2, 63). Später wird Thomas Mann für sein Unternehmen – in einem Brief an den ungarischen Mythenforscher Karl Kerényi – die nachmals oft zitierte Formulierung verwenden: „Mythos plus Psychologie. Längst bin ich ein leidenschaftlicher Freund dieser Combination; denn tatsächlich ist Psychologie das Mittel, den Mythos den faschistischen Dunkelmännern aus den Händen zu nehmen und ihn ins Humane ‚umzufunktionieren’. Diese Verbindung repräsentiert mir geradezu die Welt der Zukunft, ein Menschentum, das gesegnet ist oben vom Geiste herab und ‚aus der Tiefe, die unten liegt’“ (S. 105). Eine Anspielung auf einen Schlüsselsatz aus der biblischen Josephsgeschichte, den Thomas Mann immer wieder zitiert. Er stammt aus dem Segenskapitel 49 am Ende der biblischen Josephsgeschichte stammt, als Vater Jakob Joseph mit den Worten segnet (ich zitiere aus der Thomas Manns Arbeitsbibel 1910, nach der Übersetzung von Martin Luther): „Von deines Vaters Gott ist dir geholfen und von dem Allmächtigen bist du gesegnet, mit Segen oben vom Himmel herab, mit Segen von der Tiefe, die unten liegt, mit Segen der Brüste und Bäuche“ (Gen 49,25).

Dass das Nachdenken über „Humanität“ durch Einbeziehung der Kultur- und Religionsgeschichte noch einmal eine ganz andere Komplexität erlangt und erlangen muss, ist ohne weiteres nachvollziehbar. Denn Tiefenschichten der Geschichte sind zugleich auch immer für Thomas Mann Tiefenschichten der menschlichen Seele, des menschlichen Bewusstseins.

 

Die Verbindung von Mythologie und Tiefenpsychologie

In der Tat gehen Religionsgeschichte und Tiefenpsychologie im neuen großen Roman-Projekt eine ingeniöse Synthese ein. Kulturarchäologie und Seelenarchäologie erhellen sich gegenseitig. Von daher versteht sich auch Thomas Manns Interesse an der Psychoanalyse. Kein Text bringt dies programmatischer zum Ausdruck als der seiner Festrede zur Feier des 80. Geburtstags von Sigmund Freud am 8. Mai 1936 in Wien (Freud und die Zukunft, in: Leiden und Größe der Meister, 905–929). Zu dieser Zeit waren die ersten beiden Bände des „Josephs“-Romans bereits erschien, der dritte Band „Joseph in Ägypten“ wird noch im Oktober 1936 folgen. Thomas Mann lebt zu diesem Zeitpunkt bereits in seinem Schweizer Exil-Ort Küsnach.

Mit Genugtuung weist der Redner in seiner Freud-Rede auf bereits ausgetauschte Sympathien zwischen ihm und der Freud-Schule hin. Soeben habe man ihm etwa einen Sonderdruck der Zeitschrift „Imago“ zugesandt. Es enthalte die Arbeit eines Wiener Gelehrten unter dem Titel „Zur Psychologie älterer Biographik“. Hier sei nachgewiesen, dass „ältere, naive, von der Legende und vom Volkstümlichen her gespeiste und bestimmte Lebensbeschreibung, namentlich Künstlerbiographien“ nach feststehenden, schematisch-typischen Zügen und Vorgängen abliefen, nach Lebens-Mustern also. Uraltes könne sich im Neuen wiederfinden, im Einzelnen etwas Typisches wiederkehren.

Dieses Denken in Mustern aber, meint Thomas Mann, könne man durchaus verallgemeinern. Denn was sei das Leben? Sei es nicht „eine Mischung von formelhaften und individuellen Elementen, ein Ineinander, bei dem das Individuelle gleichsam nur über das Formelhaft-Unpersönliche“ hinausragt? Gerade dies habe er, Thomas Mann, in seinem Josephs-Roman (von dem damals drei Bände erschienen waren) zeigen wollen. Hier habe er schon aufgewiesen, wie sehr das psychologische ins mythische Interesse übergehen könne: „In der Wortverbindung ‚Tiefenpsychologie‘ hat ‚Tiefe‘ auch zeitlichen Sinn: die Ursprünge der Menschenseele sind zugleich auch Urzeit, jene Brunnentiefe der Zeiten, wo der Mythus zu Hause ist und die Urnormen, Urformen des Lebens gründet. Denn Mythus ist Lebensgründung; er ist das zeitlose Schema, die fromme Formel, in die das Leben eingeht, indem es aus dem Unbewussten seine Züge reproduziert.“ (S. 921)

Bevor wir diesen Gedanken an den Traumtexten im Roman prüfen, geben wir uns in aller gebotenen Kürze Rechenschaft über die Grundstruktur des Riesen-Werks.

 

Wovon der „Josephs“-Roman erzählt

Der Roman beginnt ohnehin nicht sofort mit der Geschichte des Titelhelden, sondern mit Josephs Vater, mit den „Geschichten Jaakobs“, wie der erste Band betitelt ist, der 1933 erscheint. Der Boden wird bereitet, auf dem Josephs Geschichte wächst. Eingeleitet wird das ganze Unternehmen mit dem erwähnten „Vorspiel“, einer „anthropologischen Ouvertüre“ unter dem Titel „Höllenfahrt“. Hier geht es um die Vor- und Urgeschichte der Menschheit, von Abraham noch weiter zurück zu Adam und immer weiter zurück bis zum Ur-Beginn der Schöpfung. Echolote in die Tiefe der Zeit. Die „Anfangsgründe des Menschlichen“ – „unerlotbar“. Wahrhaftig: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ (7.1, IX).

In den folgenden drei Bänden wird die Geschichte Josephs entfaltet, wobei der Erzähler sich an den Grundrhythmus der biblischen Vorlage hält, ohne sich dadurch im Geringsten eingeengt zu fühlen. Band II, erschienen 1934, trägt den Titel „Der junge Joseph“. Breiten Raum nimmt hier die Auseinandersetzung mit den Brüdern ein, die Joseph durch seinen traumverstärkten narzisstischen Hochmut herausfordert. Anfangs wird Joseph im Roman als Typus eines egomanischen Intellektuellen und Träumers hingestellt, als eine schreibkundige Künstler-Natur, der aber durch seine Arroganz die anderen Brüder zur Weißglut treibt. Sie rächen sich dadurch, dass sie Joseph beseitigen wollen, dann aber in einen Brunnen werfen. Psychologisch gesprochen aber ist „die Grube“ – nach Thomas Mann – Josephs Regressions- und Bußort. Mythologisch ist er Eingang zur Unterwelt und damit auch der Ort von Opfertod, Wiedergeburt und Auferstehung.

Band III „Joseph in Ägypten“ kann noch 1936 in Wien erscheinen. Thomas Mann lebt mittlerweile im Schweizer Exil und reflektiert sein eigenes erzwungenes Exil nun im Lichte des Exilanten Joseph. Sein Held gelangt über Gaza und Heliopolis, an den Pyramiden und der Sphinx vorbei, zunächst in die alte Königsstadt Memphis. Vor hier aus reist er zu Schiff weiter, nilaufwärts ins oberägyptische Theben, in die neue Hauptstadt, in der Pharao Amenophis III. regiert. Dort wird Joseph auf dem Sklavenmarkt für den Haushalt eines sehr hohen Würdenträgers an Pharaos Hof eingekauft: Potiphar, im Roman Peteprê genannt. In Ägypten nennt sich Joseph Osarsiph, „Joseph des Osiris“, wie in Ägypten unter Nennung des Namens des Gottes der Unterwelt die Toten angesprochen werden, denn Joseph war ja, verglichen mit seinem alten Leben, in der Tat gestorben. Ausführlich wird nun sowohl der Aufstieg Josephs im Hause des Ägypters erzählt (allmählich wird der bisherige Hausverwalter Mont-kaw aus dem Weg geräumt) als auch die schon aus der Bibel bekannte Verführungs-Geschichte geschildert: Peteprê, auf Grund seiner Herkunft aus einer inzestuösen Verbindung seiner Eltern zum Eunuch gemacht, ist zum Schein verheiratet mit Mut-em-enet, einer Priesterin und keuschen Nonne. Ihre sexuelle Frustration erklärt ihr Verlangen nach dem schönen Jüngling, was Joseph zum Verhängnis werden wird. Nicht zuletzt des erotischen Inhalts wegen wird Thomas Mann den dritten Band den „romanhaftesten Teil“ des Gesamtwerks nennen (Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag, 1942, in: E V, 192).

Band IV mit dem Titel „Joseph, der Ernährer“ ist bereits außerhalb Europas geschrieben, im amerikanischen Exil. 1943, zehn Jahre nach dem ersten und sieben Jahre nach dem dritten Band, erscheint dieses abschließende Buch, nachdem Thomas Mann zwischenzeitlich noch den großen Goethe-Roman „Lotte in Weimar“ (1939) vorgelegt hatte. Die Erzählungen des vierten Bandes setzen ein mit Josephs Gefängnisaufenthalt. Er verdankt ihn der Intrige von Potiphars Frau, die Joseph sein „Virtuosenstück der Tugend“ nicht verzeiht. Im Gefängnis kommt er in Kontakt mit hochgestellten Beamten des Pharao, und einer erinnert sich Josephs, als er wieder in Gnade ist. Er holt ihn als Traumdeuter für Pharao an den Hof, und damit ist Josephs neues Glück gemacht.

Höhepunkt ist hier das Gespräch mit Pharao Amenophis IV. Echnaton, der während Josephs Gefangenschaft auf den Thron gelangt ist. Bei Thomas Mann ist dieser ein „überfeinerter und zärtlicher Knabe, ein Gottsucher wie Josephs Vater, aber verliebt in eine, seine erfundene schwärmerische Liebesreligion und damit der „mythische Typus dessen, der auf dem rechten Wege ist, aber der Rechte nicht für den Weg“ (E V, 193). Gemeint ist damit: Echnaton ist ein etwas dekadenter, mutterabhängiger Sinnierer, der an die Stelle der sinnlich-polytheistischen Vielfalt künstlich einen abstrakt-geistigen Gott zu setzen versucht. Das aber hat in Ägypten – im Unterschied eben zu Josephs Geschlecht –geschichtlich noch keine Zukunft. Geschichtlich gesehen gehört Ägypten – der Konzeption dieses Romans zufolge – noch der Sphäre des Dunklen, Schwarzen, Sinnlichen an und nicht der Sphäre des Lichtes, der Vernunft, des Geistes. Deshalb muss Echnaton – als Außenseiter in dieser Kultur – scheitern. Und deshalb hat Josephs Gottesverständnis Zukunft.

Die Schlüsselkategorie dafür im Roman heißt „Gottessorge“, die Gegenkategorie dazu „Gottesdummheit“. Gemeint ist damit „Aufmerksamkeit auf innere Veränderungen der Welt und den Wechsel im Bild der Wahrheit und des Rechten; Gehorsam, der nicht säumt, Leben und Wirklichkeit diesen Veränderungen, diesem Wechsel anzupassen und so dem Geiste gerecht zu werden.“ Thomas Mann wörtlich: „Die ‚Gottessorge’ ist die Besorgnis, das, was einmal das Rechte war, es aber nicht mehr ist, noch immer für das Rechte zu halten und ihm anachronistischer Weise nachzuleben; sie ist das fromme Feingefühl für das Verworfene, Veraltete, innerlich Überschrittene, das unmöglich, skandalös oder, in der Sprache Israels, ein ‚Greuel’ geworden ist. Sie ist das intelligente Lauschen auf das, was der Weltgeist will, auf die neue Wahrheit und Notwendigkeit, und ein besonderer, religiöser Begriff der Dummheit ergibt sich dabei: die Gottesdummheit, die diese Sorge nicht kennt.“ (E V, 198 f.)

 

Religionsgeschichtliche Schulaufgaben

Woher hatte Thomas Mann all sein Wissen von der Geschichte der alten Religionen? Wie eh und je hatte er sich einem gründlichen Studium einschlägiger Literatur unterzogen. Drei Werke sind dabei von besonderer Bedeutung, wie wir aus umfangreichen Notizenkonvoluten schließen können: Micha Joseph bin Gorions „Die Sagen der Juden“ (2. Aufl. 1919 in drei Bänden), Dimitri Mereschkowskis „Die Geheimnisse des Ostens“ (1924) sowie Alfred Jeremias’ „Das Alte Testament im Lichte des Orients“, erschienen 1916 in dritter Auflage. Für seine Exzerpte aus diesen drei Büchern legt Thomas Mann sich eigene Mappen an unter dem Titel: „Sagen der Juden“, „Im Lichte des Orients“ und „Mystisches“ (für Mereschkowski).

Für unseren Zusammenhang wichtig ist zunächst ein Blick auf das Lehrbuch von Alfred Jeremias, evangelischer Pfarrer und Professor für Evangelische Theologie an der Universität Leipzig. Er gilt in der alttestamentlichen Forschung als einer der Hauptvertreter des Panbabylonismus, einer Schule von Orientalisten und Theologen, die auf der Basis von umwälzenden archäologischen Neuentdeckungen und Keilschriften-Funde im vorderasiatisch-mediterranen Raum „in der sumerischen und babylonischen Kultur, vor allem in der Astral-Religion, eine Hauptquelle sowohl für den Mythen- und Bilderschatz des Alten Testamentes wie der antiken Kultur überhaupt sahen“ (Eckhard Heftrich, Joseph und seinen Brüder, in: TM Handbuch, hrsg. v. H. Koopmann, Stuttgart 2. Aufl. 1995, S. 447–474, Zit. 454 f.)

Thomas Mann kommen die Arbeiten von Jeremias gelegen. Unter dem Einfluss der Religionskritik von Schopenhauer und Nietzsche war es früh zu einem Bruch nicht nur mit dem traditionellen (lutherisch geprägten) bürgerlichen Christentum seiner Kindheit, sondern auch mit Metaphysik und Religion überhaupt gekommen, nachzulesen schon in den „Buddenbrooks“. So ist die Einbeziehung der Religionsgeschichte in sein Denken ein neuer Zugang zur Welt der Religionen überhaupt. Das hat mit christlichen Glaubensbekenntnissen nichts zu tun, wohl aber mit der Überzeugung: Zur Kultur gehört auch der Faktor Religion. Zur Kulturgeschichte der Menschheit gehört auch die Geschichte der Religionen.

Vor allem einen Grundgedanken von Jeremias konnte Thomas Mann für seinen „Joseph“ gut gebrauchen: Im Vergleich mit sumerischen und babylonischen Mythen fällt die biblische Josephs-Geschichte in eine Spät- und Schwellenzeit. Mythische Muster aus diesen Kulturen haben deshalb zur Ausgestaltung der biblischen Josephs-Geschichte beigetragen. Und da die hebräischen Erzähler die Geschichte Josephs in Ägypten spielen lassen, müssen die in seiner Geschichte erkennbaren mythischen Muster vom Babylonischen ins Ägyptische eingedrungen sein. Zur Begründung verweist Jeremias auf zahlreiche Parallelen im Lebenslauf verschiedener Erlösergestalten antiker Kulturen.

Konkret heißt das: Die Hebräische Bibel präsentiert Joseph bekanntlich als schönen Jüngling. Schöne Götter-Jünglinge aber kennt man gerade auch in Babylon, Syrien und Ägypten: Da ist Tammuz, sumerisch und akadisch Dumuzi („rechter Sohn“), der sumerisch-babylonische Jünglingsgott von überragender Schönheit. Ursprünglich als Vegetations- und Frühlingsgottheit verehrt, entwickelt er sich zu einer Erlöser-Gestalt. Sein Kult vollzieht das Wachsen und Verblühen der Pflanzenwelt im Ablauf des Jahreskreises nach. Tammuz ist Hirte und Geliebter der Göttin Ischtar, die ihn den Dämonen der Unterwelt preisgibt, wo er für jeweils ein halbes Jahr abwechselnd mit seiner Schwester als König herrscht. Der Abstieg der Ischtar in die Unterwelt und die Rückkehr des Tammuz symbolisieren das Absterben und Wiederaufblühen der Vegetation. Sein Tod wird im Monat Tammuz (Juni/Juli) gefeiert, wobei der Tammuz-Kult auch außerhalb Babyloniens und Assyriens verbreitet ist, wie eine Notiz aus dem biblischen Ezechiel-Buch belegt (8,14). Das Leben des Tammuz also steht für das zyklische Geschehen von Sterben und neuem Leben, Tod und Auferstehung.

Da ist Adonis, der aus dem Raum Syrien stammende, ebenfalls als schöner Jüngling gedachte Vegetationsgott (Hauptkultort Byblos). Der mit ihm verbundene Mythos berichtet vom jahreszeitlichen Sterben im Hochsommer nach der Ernte und Wiederauferstehen im Frühling. In den Adonis-Festen wird der Tod des Gottes mit Klageriten und sein Wiederauferstehen mit Jubelriten gefeiert. Da die Liebesgöttin Aphrodite (Ischtar) und die Unterweltgöttin Persephone in Streit geraten, bestimmt ein Urteilsspruch des Göttervaters, dass Adonis einen Teil des Jahres allein, jeweils weitere Teile bei Aphrodite und bei Persephone verbringen soll. Adonis stirbt, von einem wilden Eber zerrissen, fährt in die Unterwelt und wird von dort wieder ins Leben zurückgeholt. Noch einmal also dasselbe Schema: Leben und Tod, Sterben und Auferstehen.

Und da ist der ägyptische Jünglingsgott Osiris, der Gott der Toten, vor dem die Verstorbenen sich verantworten müssen. Im Mythos steht sein Todesschicksal im Vordergrund. Und in einer Version dieses Mythos wird Osiris zwar vom eselsköpfigen Gott Seth ermordet und zerstückelt, die Leichenteile aber werden von Isis, seiner Schwester und Gattin, wieder gesammelt und neu belebt, so dass sie von Osiris ihren Sohn Horus empfangen kann. Später besiegt Horus den Mörder seines Vaters und tritt als sein Rächer das Königtum an, während Osiris im Totenreich regiert. Wieder dasselbe Muster: Zerstörung und neues Leben, Zerrissenheit und Fruchtbarkeit, Leben und Tod.

 

Wieder-Holung mythischer Muster

Daraus folgt: Hat man sich erstens das Verständnis von „Mythos“ (als Wiederholung vorgeprägte Lebensmuster), zweitens das Verhältnis von Religionsgeschichte und Seelengeschichte und drittens die Abhängigkeit Thomas Manns von einer ganz bestimmten altorientalisch-alttestamentlichen Forschungsrichtung klargemacht, versteht man besser, warum bei Thomas Mann Joseph nicht bloß als Einzel-Figur, sondern immer auch als Spurengänger, Wiederholer und Repräsentant geschildert ist. Ihm kam dabei entgegen, dass die biblischen Figuren schon in ihrem ursprünglichen Kontext ja keineswegs „fixierte“, abgerundete, in sich geschlossene Persönlichkeiten im modernen Verständnis waren. Die Bibel erzählt von Menschen, „die so recht nicht wussten, wer sie waren, oder die es auf eine frömmere, tiefer-genaue Art wissen, als das moderne Individuum: deren Identität nach hinten offen stand und Vergangenes mit aufnahm, dem sie sich gleichsetzten, in dessen Spuren sie gingen, und das in ihnen wieder gegenwärtig wurde.“ (E V,190). Ein Gegenwärtigwerden freilich nur durch den (uns unbekannten) Erzähler der biblischen Josephs-Geschichte.

Dies ist bei Thomas Mann nun entscheidend anders. Bei ihm spielt nicht nur der Erzähler mit Parallelen, Querverweisen oder Durchblicken, sondern auch sein Joseph. Denn dieser Jüngling ist nicht nur schön, sondern auch gescheit. Er kennt die großen Religionen der Vergangenheit, kennt die Mythen von Erlösern, ja, weiß sie auf sich zu beziehen, um sich selber in ihrem Lichte zu deuten. Schon früh im Prozess der Ausarbeitung des Romans hatte sich Thomas Mann für diese alles entscheidende Perspektivenerweiterung entschieden: „Der babylonisch-ägyptisch gebildete Amurru-Knabe Josef weiß doch natürlich von Gilgamesch, Tammuz, Usiri, und er lebt ihnen nach. Eine weitgehende und eigentümlich hochstaplerische Identifikation seines Ich mit dem dieser Helden ist unterstellbar, und die Wiederverwirklichung des ja wesentlich zeitlosen Mythos ist ein Hauptzug der Psychologie, die ich dieser ganzen Welt zuzuschreiben geneigt bin. Sie werden den Kopf schütteln, aber in dem meinem nimmt sich das alles sehr reizvoll aus und wird hoffentlich auf dem Wege zum Papier von seinem Reiz nicht allzu viel einbüßen.“ (Selbstkommentar, S. 25)

In der Tat war Thomas Mann bereit, diesen Preis zu zahlen und in seinem Joseph „eine Art von mythischem Hochstapler“ zu erblicken. Ein seltsames Wort im Zusammenhang mit Mythen und Religionen: Hochstapelei. Der Gestus des So-tun-als-ob. Die Selbstinszenierung durch Rollenwechsel. Felix Krull, der Hochstapler, mit dessen Figur Thomas Mann seit 1905 beschäftigt ist, grüßt herüber. Aber dieses bewusst Inszenatorische gibt Thomas Mann die Möglichkeit, nicht nur immer neue Rollen- und Identitätswechsel bei Joseph zu beschreiben (von Narziss bis Hermes), sondern auch mythologische Anspielungen wie Zitate spielerisch-kreativ zu verwenden. Literarisch gewinnt er so eine schier grenzenlose Freiheit in der Herstellung von Zusammenhängen über Zeiten, Räume, Kulturen und Religionen hinweg.

Von dieser Freiheit macht Thomas Mann denn auch reichlich Gebrauch, um zeigen zu können: Liest man die biblische Joseph-Geschichte vor mythologischem Hintergrund, erkennt man, dass auch Joseph auf seine Weise eine Erlösergestalt ist. Und weil er das ist, wiederholen sich in Josephs Geschichte nicht nur Lebens-Muster antiker Götter-Jünglinge. Joseph nimmt auch vorweg, was der christliche Erlöser-Jüngling, Jesus Christus, sein wird. Joseph ist somit eine zutiefst doppelgesichtige Figur. Ein Gesicht weist zurück in die Mythenwelt des Alten Orients, ein anderes voraus auf die christliche Heilsgeschichte.

Hermann Kurzke fasst in seinem Buch „Mondwanderung“ zusammen: „Joseph wird von den Ägyptern ‚Adōn’ genannt, denn er ist der schöne griechische Jüngling Adonis, auf den das Kapitel „Adonishain“ anspielt. Er ist der babylonische Tammuz, der Zerrissene und Geopferte, der ‚Usiri des Ostens’, der wie Christus den Tod besiegt, und Dionysos Zagreus, der als Knabe von den Titanen zerstückelt wurde. Er ist Gilgamesch, der von der bärtigen Muttergöttin Ischtar bestürmt wird, wie Joseph von Mut. Er ist – als Osarsiph – der ägyptische Osiris, der ‚Dulder und Zerstückelte’, der ‚Zerrissene’ und das ‚Opfer’, der ‚Wiedergeheilte’, der mit Isis den Horos zeugt. … Joseph ist Ödipus vor der Sphinx, und Joseph ist Christus, der von der Jungfrau Maria Geborene. Seine Mutter Rahel, die Liebliche, nennt er deshalb jungfräulich im Gespräch mit Potiphar. Rahel ist zugleich Isis, die den Horus an der Brust trägt. Schon Jaakob sah in ihr ‚eine himmlische Jungfrau und Muttergöttin‘, eine Isis ‚mit dem Kind an der Brust – in dem Kinde aber einen Wunderknaben und Gesalbten‘. Joseph ist das Gotteslamm und der am Kreuze Zerrissene, der Niedergefahrene und Wiederauferstandene.“ (Mondwanderung, 67–90)

Wir sind nun in der Lage, die eingangs par pro toto geschilderte Szene im Adonishain und den erfundenen „Himmelstraum“, den Traum vor allen Träumen, in ihrem konzeptionellen Sinn zu entschlüsseln und für die Deutung des Romans als ganzen fruchtbar zu machen. Dabei sind Träume als Motiv in Romanen von Thomas Mann nicht Außergewöhnliches. Sie haben eine Schlüsselfunktion schon in den „Buddenbrooks“ und im „Zauberberg“, wenn ich an den Todestraum des Senators Thomas Buddenbrook oder den Schneetraum von Hans Castrop denke. Aber diese Träume waren in einen realen gesellschaftlichen Kontext der jeweiligen Handlung eingebettet gewesen. Im Josephsroman dagegen ist alles Geschehen in eine mythische Vorzeit verlegt.

Der Erzähler hat sich aus gesellschaftlichen Zusammenhängen freigemacht und sich für uns Leser ein traumhaftes Bewusstsein geschaffen. Will sagen: Die fiktive Wirklichkeit Josephs und seiner Vorfahren ist eine träumerische, insofern die Realität, in der sich die Protagonisten im Roman bewegen, eine mythische ist und so die Gegenwart zitathaften Charakter bekommt. Dieser Grundkonzeption zufolge ist alles, was geschieht, nicht originell und einmalig, sondern immer schon da gewesen und wird immer wieder da sein.

Das Bewusstsein der Romanpersonen ist somit eng verbunden mit den Tiefen des Unbewussten, so dass ihnen ihre Träume aus dieser Tiefe nicht fremd, sondern zugänglich erscheinen und in die Alltagswirklichkeit integriert werden. So lässt Thomas Mann Joseph wie im Traum den Mythos der getöteten (zerrissenen) und wiederauferstandenen Gottheiten Tammuz, Osiris und Adonis erleben. Auf der symbolischen Ebene durchleidet er seinen Tod, wenn er wiederholt in die „Grube“ fährt (Brunnen, Gefängnis), aber jedes Mal auch wiederaufersteht und schließlich zum „Ernährer“ Ägyptens aufsteigt.

Die Bedeutung der Träume in diesem Roman geht also über das Erzählen von Einzelträumen weit hinaus. Denn traumverloren, träumerisch sein, heißt im Josephsroman zurücksinken in einen Strom des Geistigen, in dem alles mit allem verbunden ist. Das Individuum verschmilzt mit dem Ganzen, bis hin zur Auflösung der Identität und bis hinein in ein Zurücksinken in den Tod. Das Ichbewusstsein der Protagonisten des Romans ist ein zeitloses Bewusstsein, denn alles Leben und Geschehen ist nur die Wiederholung und Rückkehr des Urgeprägten, ist die Ausfüllung mythischer Formen mit Gegenwart.

Die Trennung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist aufgehoben, ebenso die räumliche Trennung von oben und unten, wenn alles mit allem in Beziehung gebracht und ineinanderfließt, so dass ein zeit- und raumloses Bewusstsein entstehen kann. Alles Geschehen wiederholt sich im Roman ja nur in einer ständigen Kreislaufbewegung. Kurz: das Erleben von Raum und Zeit ist ein träumerisches und kann es sein, denn auch der Traum trennt ja die Zeitebenen nicht, sondern verdichtet sie miteinander. Raum und Zeit nur für das menschliche Wach-Bewusstsein, das Unbewusste mit seiner mythischen und träumerischen Bilderwelt ist zeit- und raumlos.

Hinzu kommt: Alles Sein besteht nach der Grundkonzeption des Romans auf der Ergänzung und Entsprechung zweier Hälften, die sich zu einem Ganzen zusammenfügen: dem Oben und dem Unten. Oben und Unten aber repräsentieren unterschiedliche, aber nicht getrennte Dimensionen: Das Wachbewusstsein des Tages und das Unbewusste mit der Nacht und dem Traum, das Geistiges und das Sinnliche, diskursives und mythisches Denken, das Apollinische und das Dionysische. Von daher verstehen wir noch besser den Satz aus der biblischen Josephserzählung, der für Thomas Mann zum Schlüsselsatz wurde, Segenssätze Jakobs am Ende der biblischen Erzählung aufnehmend: „Von deines Vaters Gott ist dir geholfen und von dem Allmächtigen bist Du gesegnet mit Segen oben vom Himmel herab, mit Segen von der Tiefe, die unten liegt, mit Segen der Brüste und Bäuche“ (Gen 49,25). Und weil sich Oben und Unten entsprechen, erfüllt sich auch das, was eingangs im Himmelstraum geschaut worden war: die himmlische Rolle als „Der Kleine Gott“ oben wandelt sich zu einem Vizegott auf Erden unten vor Pharaos Thron.

 

Bibel-Roman Vergleich: Universale Mythopoesie gegen einmalige Theozentrik

Wir sind nun auch in der Lage, die romanhafte mit der biblischen Fassung zu kontrastieren. Um es auf eine Formel zu bringen: Im Vergleich treffen die menschheitsgeschichtliche Mythopoesie auf biblisch heilsgeschichtliche Theozentrik. Zyklisches Denken trifft auf lineares, das Immer-schon auf das Einmal und Ein-für-Allemal. Zwar muss sich die Urgeschichte literarisch keineswegs verstecken. Schon der bedeutende ev. Alttestamentler Gerhard von Rad hat in einem noch heute lesenswerten Artikel über „Biblische Joseph-Erzählung und Joseph-Roman“ (in: Neue Rundschau 76, 1965, S. 546–559, Zitate S. 548 u. 551) herausgearbeitet, dass schon in der biblischen Geschichte viele Themen von literarischem Rang versammelt seien: Familienstreit und Verbrechen, Lüge und Schuld, tiefste Niederlage und höchster Aufstieg, Not und Hunger, Intrige, Versöhnung und Rührung, am Ende schließlich Glück und Segen.

Dazwischen ein Stück Erotik (die Verführung durch Potiphas Frau), ein Stück vorweggenommener Tiefenpsychologie (Joseph als Traumdeuter), ein Glanzstück vorausschauender Machtpolitik (Vorratswirtschaft im Blick auf Dürrezeiten), ein Kriminalstück um die älteren Geschwister und den jüngeren Bruder Benjamin. Von Anfang an also sei die biblische Joseph-Erzählung „Literatur“, so von Rad. Ganz „neue Möglichkeiten der literarischen Darstellung des Menschlichen“ seien hier vorhanden, die weit über die Ausdrucksmittel hinausgingen, die der älteren sagenhaften Überlieferung der Bibel zur Verfügung gestanden hätten. Welch ein „erlesener Stil“, welche Fähigkeit, „auch psychologisch komplizierte Situationen zu beschreiben“! Die Josephs-Geschichte habe „hinsichtlich ihrer literarischen Geschliffenheit und geistigen Kultiviertheit“ „den Rang und den Anspruch eines großen, ja einzigartigen Kunstwerkes“. Aber die theologische Pointe ist doch eine völlig andere als die im Roman. Worin besteht sie?

Die biblische Josephs-Geschichte ist in der Tora Israels als Eckstück eingepasst: als Abschluss des Buches Genesis und als Überleitung zum Buche Exodus. Nach hinten ist sie verzahnt mit den Geschichten um die Erzväter und Erzmütter, nach vorne verzahnt mit der Mose-Geschichte: der Offenbarung des künftigen Gottes Israels, Jahwe sowie der Volkwerdung Israels im Zeichen von Exodus und Sinai. Damit hat die Josephsgeschichte in der Hebräischen Bibel ein klar erkennbares theologische Gefälle und zwar im Interesse einer zu erlangenden Identität Israels als Gottes-Volk, ist doch der Exodus und damit die Rettung des Volkes das „Heilsereignis“ Israels schlechthin, später in einem eigenen Fest („Pessach“) Jahr für Jahr erinnert (Einzelheiten: K.-J. Kuschel, Festmahl am Himmelstisch, 2013). Aus der Geschichte von Familien (die Sippen Abrahams, Isaaks und Jakobs), aus der Geschichte von Stämmen (die zwölf Stämme entsprechend den zwölf Söhnen Jakobs) soll und wird die Geschichte des Volkes werden: Israel als Jahwes Eigentum und Heiligtum!

Die biblische Josephsgeschichte steht somit im Dienste der Selbstreflexion des Volkes auf seinem künftigen Weg vor Gott und mit Gott. Und zwar so, dass im Nachhinein alles wie theozentrisch geführt und gefügt erscheint. Wer es liest, soll diese Dialektik begreifen: Gott setzt trotz allem Widrigen, Sündhaften, Verbrecherischen, das Menschen anderen Menschen antun können, seinen Segen durch. Böses kann zum Guten gewendet werden, wenn Gott es will. Aus Unheils- können Glückserfahrungen werden. Die dialektisch-theozentrische Pointe der biblischen Josephs-Geschichte steht denn auch an dessen Ende, als Jakob bereits tot ist und Joseph mit seinen Brüdern nach der Beisetzung des Vaters in der Höhle von Machpela in Hebron nach Ägypten zurückgekehrt ist :„Ihr habt Böses gegen mich im Sinn gehabt“, kann Joseph jetzt seinen Brüdern sagen, „Gott aber hatte dabei Gutes im Sinn, um zu erreichen, was heute geschieht: viel Volk am Leben zu erhalten“ (Gen 50,20).

 

Josephs Träume in der biblischen Gesamtkomposition

In der Tat: Dass die Josephsgeschichte eine theozentrisch-dialektische Glücks- und Segensgeschichte ist, wird schon an der ersten Traumszene zu Beginn der Erzählung deutlich: am Garben und Sternentraum, jeweils mit der durchschaubaren Pointe, dass er in höchster Machtstellung ist und seine Brüder und auch sein Vater sich vor ihm niederwerfen. Dass es so kommt, ist nicht der Wiederholung eines mythischen Musters geschuldet, sondern der geschichtlich einmaligen Führung und Fügung des Gottes Israels. Die erste Traumszene ist denn auch kompositionell genau in den Gesamtrahmen der Geschichte eingepasst und bereitet das weitere Geschehen einschließlich der theozentrischen Pointe vor. Zum einen werden die Träume Josephs dramaturgisch gebraucht, denn nur sie bringen den Hass der Brüder zum Überkochen, der dann in einen Mordplan umschlägt. Der wiederum setzt das weitere Geschehen in Gang.

Zum zweiten bereitet sich mit diesen Träumen die theozentrische Dialektik der Gesamtgeschichte vor. Dass die Brüder den Träumer umbringen wollen, um die Erfüllung seines Traums zu verhindert, ist Teil ihrer Verblendung. Anders als Joseph später können sie den tieferen Sinn der Traumsprache gerade nicht erkennen. Mit ihrem vordergründigen Wissen verstehen sie die Machtträume Josephs nur als Ausdruck seiner aufreizenden Eitelkeit: „Willst du etwa König über uns werden oder über uns herrschen“ (Gen 37,8). Und auch Vater Jakob missversteht den Sternetraum als bloßen Wunsch Josephs, sich sogar über die eigene Familie erheben zu können, was ihn erzürnt, obwohl Jakob „die Sache bewahrt“, wie es ausdrücklich heißt (Gen 37,11). Auffällig überdies, dass Joseph zu diesen seinen eigenen Träumen zunächst keine Stellung nimmt und sie nicht zu deuten wagt. Er muss erst langsam in den Ab- und Aufstiegen seines Lebens begreifen, dass in seiner dramatischen Geschichte Gott am Werk ist, der Gott Israels, der damit Zeichen setzt im Blick auf seine Erwählung Israels zu seinem Volk. Diese Tiefendimension bleibt kurzsichtigen Menschen zunächst verborgen, die auf eigene Faust sich auf Träume einen Reim machen und die falschen Konsequenzen ziehen.

Um der Gesamtkomposition willen also werden Anfang und Ende der Geschichte narrativ und symbolisch verklammert. Und am Ende gibt Joseph den selbsterfahrenen Segen Gottes an seine Brüder weiter: „Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes Stelle? Ihr habt Böses gegen mich im Sinn gehabt, Gott aber hatte dabei Gutes im Sinn, um zu erreichen, was heute geschieht: Viel Volk am Leben zu erhalten.“ (Gen 50,19 f.) Womit sich der Kreis zur Traumdeutung der Brüder am Anfang der Geschichte schließt und zwar auf eine unerwartete Weise. Zwar herrscht Joseph jetzt tatsächlich als „König“ über dem Reich, und damit auch über die Brüder, ihr „Kommen und Niederfallen“ aber mündet gerade „nicht in Unterwerfung und Herrschaft, sondern in Rettung und Versorgung … Am Ende werden Josephs Träume erfüllt und korrigiert sein“ (J. Ebach, Genesis 37–50, 2007, 75).

Ganz anders die Konzeption von Thomas Manns Romanunternehmen. In der Kritik ist zurecht festgehalten worden, dass der „Joseph“ der erste Roman Thomas Manns sei, in dem die Traumdeutung eine wesentliche Rolle spielt: „Zum einen, weil die Protagonisten einander ihre Träume erzählen und deuten, zum anderen, weil auch der Erzähler selbst sich als Deuter präsentiert. Dies geschieht nicht selten in selbstreflexiver Weise, denn die Kommentare zu den Träumen münden immer wieder in Reflexionen über den kreativen Prozess dichterischen Schreibens. Traum und Fiktion werden parallelisiert“ (Gisela Bensch, 2004, 158).

In dieser „humoristisch getönten, ironisch abgedämpften“, ja „verschämten Menschheitsdichtung“ (E V, 189) aber geht es nicht um Gottes Führung seines auserwählten Volkes, auch nicht um einen typologischen Verweis auf den einzigartigen Heilsbringer Jesus Christus, sondern um einen Idealtypus des Humanen, in dem Thomas Mann alles verdichtet hat, was an Potentialen im Menschlichen angelegt ist. Dafür hat Thomas Mann seinen Helden zu dieser doppelgesichtigen Figur gemacht, dessen eines Gesicht zurückweist in die Welt antiker mythologischer Erlöserfiguren und das andere Gesicht vorausweist in die Zeit des christlichen Erlösers. Wieder eine Heilszeit, wieder ein Neu-Beginn. Aber dieses „christliche“ Neue ist nichts Exzeptionelles mehr, wohl aber durchaus etwas Exemplarisches. Keine unerhörte singuläre Erscheinung, sondern eine geschichtlich-besondere Wieder-Holung. Dabei lässt Thomas Mann seinen Joseph eine Wandlung durchmachen: vom wirren Träumer und narzisstischen Traumerzähler zum sokratisch vorgehenden Traumdeuter Pharaos und zum klugen Geschäftsmann und Politiker. In das zyklische Wiederholungsstruktur des Mythos ist im Roman auch eine lineare Linie eingebaut: Fortschritt in der Beförderung des Humanen. Der Akt des Wiederholens mündet in einen Prozess des Höherschraubens, in die Idee des Fortschritts.

1944 gibt Thomas Mann noch einmal Auskunft über seine Beschäftigung mit der Bibel und damit auch mit dem Joseph-Stoff. Unter Anspielung auf das Schlüsselzitat aus Gen 49. 25 führt er aus: „Ich habe es mir angelegen sein lassen, Joseph als eine Künstlernatur zu kennzeichnen, und ein Künstlersegen ist es ja, den er vom Vater empfängt. Der humane Zauber alles Künstlertums besteht in diesem doppelten Segen: dem aus der Höhe herab und dem aus der Tiefe; es ist der Zauber der Sinnlichkeit, die Geist wird, und des Geistes, der sich verleiblicht; Begabung ist es aus mütterlichem Lebensgrunde, aus der Sphäre des Instinkts, des Gefühls, des Traumes, der Leidenschaft – und Begabung aus der väterlichen Lichtsphäre des Geistes, der Vernunft, des Verstandes, des ordnenden Urteils. Eben damit ist die Kunst das Paradigma und Vorbild der Menschlichkeit überhaupt, denn es gibt kein wahres Menschentum ohne jenen doppelten Segen“ (Selbstkommentare, 260).

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