Zensur wird häufig als ein Baustein frühmoderner Machtentfaltung gesehen in einer Zeit als Regierungen auf den Landesherrn und seinen engen Beraterkreis zugeschnitten waren. Der Zensurform wurde und wird eine Aura strenger Geheimhaltung zugeordnet, meist verbunden mit einer krassen Überschätzung der Logistik auf Seiten ehrenamtlich arbeitender Zensoren und Inquisitoren.
Klösterliche „Giftschränke“
Ausstellungen über „weggesperrte“ Bücher, wie sie die Bayerische Staatsbibliothek im Herbst 2002 präsentierte, fanden ihr zahlreiches Publikum. Fußen die entsprechenden Bestände indizierter Literatur in der Bayerischen Staatsbibliothek zumindest teilweise auf aufgelösten, am Wissenskontext der Zeit orientierten Kloster- und Stiftsbibliotheken des Landes, so beantwortete 2013 eine Ausstellung zu verbotenen Büchern in der Bibliothek der Schweizer Benediktinerabtei Einsiedeln im Kanton Schwyz Fragen, wie wir uns die Lese- und Rezeptionspraxis zensierter Schriften vorstellen müssen. In Einsiedeln waren die suspekten „libri prohibiti“ nicht einmal von den allgemeinen Buchbeständen getrennt aufbewahrt worden; allerdings fanden sie sich – sicher aus gutem Grund – auch nicht in offiziellen Verzeichnissen. Blicke in die „Giftschränke“ früherer Zensoren sind demnach aktuell und unverändert verheißungsvoll.
Interessiert hatten sich dafür bereits die Bildungsreisenden der Aufklärungszeit, die wie Friedrich Nicolai 1781 bei einem Besuch in der fränkischen Benediktinerabtei Banz – dort übernahm 1803 das Kurfürstentum Bayern die Klosterverwaltung – voller Verwunderung berichteten, dass der Schrank mit den durch die Römische Kurie seit 1559 indizierten „libri prohibiti“ in der Klosterbibliothek offen stünde und man so bequem verbotene Weltliteratur studieren könne. Banz scheint für Rückschlüsse nach der Öffnung der Klosterbibliotheken und Konvente für indizierte Literatur sehr aufgeklärt gewesen zu sein, doch bildete diese Bibliothek sicher keine Ausnahme. Ähnliches dürfen wir für die oberbayerische Kloster- und Stiftslandschaft voraussetzen; zumindest führten dort einige Abteien wie in dem 1077 begründeten Scheyern, dem Hauskloster der Wittelsbacher, eigene Abteilungen indizierter Bücher.
Päpstlich-Kirchliche Zensurforen – Der Index Librorum Prohibitorum
Kirchliche Bücherverbote und Schriftenkontrolle waren keine neue kuriale Erfindung, als im Jahr 1559 Papst Pius V. (1566–1572) die erste Ausgabe des kirchenrechtlich bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1965/66) gültigen Index librorum prohibitorum veröffentlichen ließ. Papst Pius V. war 1518 in den Dominikanerorden eingetreten, agierte seit 1558 als Großinquisitor gegen Reformatoren und Häretiker und wurde 1712 heiliggesprochen. Entscheidend war vor seinem Pontifikat die Ernennung von sechs Kardinälen zu General-Inquisitoren durch Papst Paul III. mit der Bulle Licet ab initio 1542. Die Zensuraufsicht wurde damit zentralisiert, nachdem führende europäische Universitäten wiederholt zu unterschiedlichen Beurteilungen bei Bücherverboten gekommen waren.
Meinungsdifferenzen entstanden vor 1559 vor allem bei Werken reformatorischer Theologen. Das umfassende Verzeichnis verbotener Bücher teilte seitens der römischen Inquisition die Zensur- und Verbotsanordnungen in drei Kategorien: Die Maßnahmen betrafen zunächst Autoren, (1) deren Schriften gänzlich oder (2) deren Werke lediglich teil- oder ausschnittsweise verboten wurden. Schließlich (3) indizierte die Congregatio Romanae et universalis inquisitionis als Vorgänger der Glaubenskongregation anonym veröffentlichte Schriften. Seit der Reformation fielen unter diese dritte Kategorie so gut wie alle (häretischen) Drucke, deren Urheberschaft durch Pseudonymisierung oder Anonymisierung verschleiert wurde. Das Schlussverzeichnis listete die Werke als Ketzerschriften; zunächst handelte es sich nur um 62 Titel.
Es gab aber bereits zahlreiche Zensurmaßnahmen und Bücherverbrennungen vor Pius V. Das von Jyri Hasenecker edierte Quellenverzeichnis zur päpstlichen Pressekontrolle in der Neuzeit beginnt nicht 1559, sondern setzt mit dem Jahr 1487 ein. Blickt man in die Antike und das Mittelalter zurück, eröffnen sich weitere Perspektiven. So ließ Papst Leo der Große bereits 446 häretische Schriften der Manichäer verbrennen. 1121 wurde der französische Theologe Petrus Abaelardus (1079–1142) auf dem Konzil vom Soissons verurteilt, sein Werk zur heiligen Dreifaltigkeit Theologia Summi Boni. De unitate et trinitate divina zu verbrennen. Die Beispiele ließen sich bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts beliebig fortführen. So hatte die Römische Kurie am 15. Juni 1520 mit der Bulle Exsurge Domine schließlich alle Schriften Martin Luthers gebannt.
Das Jahr 1559 bildet für die Geschichte der kirchlichen Zensur eine deutliche Zäsur, auch wenn es zuvor Bücherverbote gegeben hatte. Der einmal veröffentlichte Index wurde seit 1564 aktualisiert und regelmäßig ergänzt. In seiner letzten Ausgabe von 1948 umfasste der Index noch mehrere tausend Bände. Seine Gültigkeit verlor er erst 1966. Eine nahezu vollständige Liste aller zwischen 1559 und 1966 seitens der Glaubenskongregation indizierten Schriften bietet das an der Universität Kassel erstellte Verzeichnis verbotener Bücher list of banned books. Die Listen entstanden im Rahmen der Kasseler documenta 14 und geben den Stand bis Ende Dezember 2016 wieder. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 11. Juni 2017 zu dieser für die Zensurgeschichte essentiellen Datenbank anerkennend: „Der ‚Parthenon of Books‘, ein Tempel aus verbotenen Büchern, ist einer der Höhepunkte der documenta. Germanisten der Uni Kassel folgten der Spur der Werke – und erstellten eine der weltweit größten Sammlungen geächteter Literatur“.
Kaiserlich-Weltliche Zensurforen – Die Bücherkommissionen in Frankfurt und Leipzig
Die kaiserliche Bücheraufsicht entstand als Behörde des Heiligen Römischen Reiches zur Kontrolle des Druck- und Pressewesens. Sie zählte seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu den institutionalisierten Zensurforen – „formal“ oder „structural censorships“ –, nachdem zuvor der Augsburger Reichstag 1530 dem Kaiser die Aufsicht über das Druckwesen übertragen hatte. Vor 1530 schufen bereits die Reichstage von Worms (1521), Nürnberg (1524) und Speyer (1529) die rechtliche Grundlage für die Etablierung einer von der Kirche abgelösten Zensur. Zeitgleich schufen im Gebiet der heutigen Schweiz seit den 1520er Jahren eidgenössische Orte erste Zensurbehörden. In Zürich unterwarf man 1523 die städtischen Druckereien einer Ratskontrolle. Zusätzlich strukturierten im Reich die Policeyordnungen der Jahre 1530, 1548 und 1577 den Büchermarkt und die damit verbundenen zensurrelevanten Druck- und Distributionsverbote.
Die Bücherkommissionen des Reiches in Frankfurt am Main und in Leipzig – dort etablierte sie sich als kursächsische Bücher-Commission – waren in ihren Anfängen eine Antwort auf die Herausforderungen der Medienrevolution und der daraus resultierenden Masse an Reformschriften, deren Verfasser gegen das Kirchenrecht und hergebrachte Verfassungen zu Felde zogen. Der Erfolg Martin Luthers sowie zeitgenössischer Prediger und Reformatoren wäre ohne die Verbreitung der meist in hoher Auflage erschienenen Druckschriften und Pamphlete unvorstellbar gewesen. Reformatorische Medien veränderten deshalb insbesondere in Städten den Alltag, sodass man mit Blick auf die Zensurentwicklung einer Einschätzung des englischen Reformationshistorikers Arthur Geoffry Dickens (1910–2001) folgen kann. Auf ihn geht die oft rezipierte Wortschöpfung des Jahres 1974 zurück: „Reformation was an urban event”.
Zensur wurde jetzt auch kraft kaiserlicher Privilegien, die einzelnen Verlagen das monopolisierte Recht zum Nachdruck zusicherten, zu einem Garanten, die Leitlinien der Reformation zu sichern. In Basel – dort hatte der Rat 1529 offiziell die Reformation eingeführt – benannte die städtische Zensurordnung von 1578 unmissverständlich den Zweck künftiger Schriftenkontrolle: „Das demnach vnnd hierauff/ wir gleich als bald/ vnser Kirchen Reformiert/ allen falschen wohn/ aberglauben/ erdichte und verkehrte Gottesdienst/ abgeschaffet/ vnd dargegen dem Herren Gott zu dienen/ vnsers verhoffen/ ihme ein wohlgefellige form/ nach seinem Wort/ angerichtet/ deßgleichen vnsers Glaubens/ Christenliche Confession/ und Bekandtnus gethan/ vnnd das alles in offentlichen Truck haben außgehn lassen.“ In Basel orientierte man sich wie in anderen Städten der Reformation an Frankfurter Zensurvorgaben.
Bayerische Zensurmaßnahmen
In Bayern ergänzte die katholische Landesherrschaft seit 1524 die allgemeinen reichsrechtlichen und päpstlichen Bestimmungen zur Zensur. Das lag durchaus im Interesse der Reichsinstitutionen und der Kurie in Rom. Die kaiserliche Aufsicht im Alten Reich über Buchdruck, Buchhandel und Presse mit der im 16. Jahrhundert eingerichteten Bücherkommission in Frankfurt konnte und wollte trotz einer Vielzahl an Anfragen und Anordnungen und die Unterstützung durch das Reichskammergericht die Notwendigkeit territorialer Eigeninitiativen nicht verhindern. Ferner erfuhr in katholischen Ländern nach dem Konzil von Trient das Indexwesen unter Papst Pius V., wie oben beschrieben, eine endgültige Festschreibung. Bayern begleitete die europäischen Zensurmaßnahmen stets durch eigenes Handeln. Ein frühes Beispiel hierfür ist der 1566 beim Münchner Verleger Adam Berg gedruckte Catalogus. Der Büecher vnnd Schrifften, vnser Heilige Religion vnnd Geistliche sachen belangendt, welche im Landt zu Bayrn, offentlich fayl zuhaben vnd zuuerkaufen, erlaubt seindt.
Die Kontrolle über die Bücher delegierten die Herzöge 1569/70 zunächst an ein aus sechzehn Personen gebildetes Religionstribunal, das bis zur Errichtung des Geistlichen Rates als Zentralbehörde 1570/73 grundlegende Bestimmungen zur Zensur und zum Religionswesen vorbereitete und umsetzte. Getragen waren diese Aktivitäten, die sehr früh zu einer zensurorientierten Zentralisierung führten, aus der begründeten Sorge vor dem Eindringen reformatorischer Schriften. Buchkrämer oder sogenannte Huckler überschwemmten seit der Reformation auch das bayerische Hinterland mit Flugschriften aus der Feder Martin Luthers und anderer Reformatoren. Über Generalmandate versuchte die Landesherrschaft jedenfalls sowohl in Bayern als auch im Fürstentum Salzburg den Schmuggel mit verbotenen Büchern einzudämmen oder gar zu unterbinden. Bayerns Religionstribunal reagierte 1569 mit einem rigiden Erlass.
„Vnd wann erstlich befunden wirdet/ daß das lesen böser Sectischer vnnd verfürerischer/ Bibeln/ Testament/ Postillen/ Bet vnnd Gesangbücher/ deßgleichen anderer streitschrifften vnd Tractätl/ die bißher daheer von den widerwertigen im Glauben/ ins Teutsch gebracht/ vnd in Truck kommen seindt/ auch nochmalen täglich gedruckt/ vnd außgebrait werden/ bey den vnderthanen vnserer Fürstenthumb des Obern vnd Nidern Landts zu Bayrn/ nit ein geringen schaden gethan haben/ in bedenckung das die verdolmetschung oder verdeutschung der Biblen/ also auch des newen Testaments durch den Luther, Zwinglj vnd jhre nachuolger/ an vil unzelichen ortten/ ganz gefehrlicher vnd höchstschedlicher weiß gefelscht/ die Postillen/ vnd andere jhre schrifften/ mit allerlay alt verdampten secten/ Ketzereyen vnnd jrrthummen/ vast an allen ortten vermengt worden“ sind.
Die Folge war ein formales Verbot nicht katholischer Bücher.
Aus dem Religionstribunal ging der Geistliche Rat hervor, der seit 1573 mit zunächst vier geistlich-kirchlichen und drei weltlichen Räten besetzt war. Den Vorsitz in diesem für Konfession-, Kultur- und Schulfragen zuständigen Gremium führte der jeweilige Dekan des Stifts St. Peter zu München. Landesbischöfe waren nicht beteiligt. Die Landeszensur war somit prinzipiell dem Geistlichen Rat zugeordnet, auch wenn der rechtskundige Hofrat von Fall zu Fall Mitsprache einforderte. Trotz der deutlichen Zuordnung des Zensurwesens an eine vom Fürsten eingesetzte Behörde, darf nicht übersehen werden, dass ein flächendeckender Zensurvollzug des auf die Stadt München fixierten Gremiums, wie in anderen Territorien auch, nur mit verlässlich und effizient arbeitenden Mittel- und Unterbehörden zu bewerkstelligen war.
Der geringe zensurbedingte Geschäftsanfall im Geistlichen Rat steht jedenfalls im Gegensatz zu der von Gerhard Heyl geäußerten Erfolgsbilanz mit weitgehend praktizierter Abschirmung des bayerischen Büchermarkts. Es gab zwar außerhalb Ingolstadts und Münchens keine bayerischen Druckerorte, sodass die dort praktizierte Vorzensur im Gegensatz zur produktiven Drucker- und Reichsstadt Augsburg keine Sorgen bereitete. Doch blieb der Buchimport aufrecht und seine Überwachung krankte aufgrund überforderter Zollbehörden und vieler Ausnahmerechte für die Hofmarken des bayerischen Adels und der Kirche. Trotz zahlreicher Beschlüsse und Dekrete zur Buchkontrolle beschränkte sich der Geistliche Rat auf die Prüfung der Messekataloge, in die indizierte Bücher selbstredend nicht aufgenommen wurden, oder auf die Durchsicht der Angebotsmagazine auswärtiger Buchführer. Visitationen blieben während des 16. Jahrhunderts lediglich in München erfolgreich, wo 1569 das herzogliche Religionstribunal nach dem Verhör von 150 verdächtigen Personen in mehr als zwanzig Haushalten verbotene Bücher entdeckt hatte. Das Strafmaß im Übertretungsfall, das sich ohnehin meist nur gegen Buchhändler richtete, blieb gering.
Im Gegensatz zur reichsstädtischen Zensurpraxis intensivierte sich aber in Kurbayern während der Aufklärung der staatliche Eingriff in das noch immer kirchlich dominierte Zensurwesen kräftig. 1769 wurde eine bereits unter Kurfürst Max Emanuel eingerichtete Spezialdeputation als Bücherzensurkollegium gegenüber dem Geistlichen Rat verselbständigt. Dieses zehnköpfige Gremium, dessen Arbeitsbereiche in Ressorts aufgeteilt wurden, konnte Visitationen und Konfiskationen vornehmen sowie Geld- und Haftstrafen anordnen, gegen die nur an höchster Stelle Revision zulässig war. Es hatte exekutive Vollmachten.
Kurfürst Max III. Joseph berief in dem Bemühen, „keine anderwärtige Censur“ als die staatlich normierte Kontrolle zuzulassen, akademisch hochrangige Fachleute; jedoch in einer Auswahl, die Loyalität zum Hof, undogmatischen Freigeist und ordenspolitische Vielfalt bzw. Neutralisierung zum Ausdruck brachte. Neben dem Präsidenten mit Stellvertreter teilten sich acht Zensurräte die Fachgebiete Theologie, Jurisprudenz, Philosophie, Medizin, Kameralistik und Geschichte. Trotz dieser im Vergleich beachtenswerten Berufung ausgewiesener Fachleute – die Geistlichen Räte waren mit Ausnahme von Karl Anton von Vacchiery alle Mitglieder der Bayerischen Akademie der Wissenschaften – unterschied sich das Bücher-Censur-Collegium in seiner Effektivität wahrscheinlich nicht so sehr vom Modell der benachbarten Reichsstadt Augsburg. Abstriche gegenüber dem Bild eines durch Zensur gefestigten frühmodernen Machtstaates, wie es beispielsweise der in München geborene Staatsrechtler Adam Contzen (1575–1634) entwarf, wird man angesichts der Personalstruktur in Zensurbehörden vornehmen können.
Beim Geistlichen Rat handelte es sich jedenfalls um ein meist überaltertes, ehrenamtlich tätiges Gremium, dessen Mitglieder andernorts in arbeits- und verantwortungsreicher Tätigkeit standen. Personenkonstellationen in Zensurgremien brachten für den Landesfürsten mitunter auch Gefahren. So musste die Regierung 1785 den bayerischen Hof- und Bücherzensurrat Alois Freiherrn von Hillesheim seines Amtes entheben, hatte er doch als Illuminat und Herausgeber der Aufklärungspostille Der Hausvater alles andere als eine fürstenkonforme Religionspolitik vertreten. Insgesamt stand sicher sehr lang der Schutz von Kirche und Konfession mit kräftiger Unterstützung seitens der Klöster, Stifte und Orden im Programm bayerischer Zensur- und Pressepolitik.
In der Aufklärung änderte sich die Zielrichtung grundlegend. Das 1769 verselbständigte bayerische Bücherzensurkollegium legte dazu im ersten Jahr seines Wirkens einen umfangreichen Catalogus verschiedener Bücher, so von dem Churfl. Büchercensurcollegio theils als religionswidrig, theils als denen guten Sitten, theils auch als denen Landesfürstlichen Gerechtsamen nachtheilig verbothen wurden vor. Das Verzeichnis von 1770 umfasste 16 Seiten und wurde von dem akademischen Buchhändler Johann Nepomuk Fritz verlegt.
Studieren wir daraus abschließend einige Einträge zu verbotenen Druckwerken, die den Wechsel von einer primär konfessionell motivierten Zensur des 16. und 17. Jahrhunderts hin zur macht- und staatstragenden Funktion der Kollegien im 18. Jahrhundert unterstreichen.
Unter dem Buchstaben „E“ findet sich „Emille, ou l´Education par J. J. Rousseau citoyeu de geneve. 4 Tom. Amsterdam 1762“. Es handelte sich um das pädagogische Hauptwerk Jean-Jaques Rousseaus (1712–1778) aus dem Jahr 1762, das selbst in Genf, dem Geburtsort des Schriftstellers, am 19. Juni 1762 auf den Index gesetzt und öffentlich verbrannt wurde. Das von Rousseau entworfene pädagogische Konstrukt galt als Skandal in der Aussage, dass „natürliche“ Religion auf jedermanns Erfahrungen und Überlegungen ruhe und dass sich Emile nicht unter das Joch der von Kirche und Staat vorgegebenen Werte stelle, um individuell frei zu wählen und eine eigene Meinung zu bilden.
Unter den Leitbuchstaben „V,W“ findet sich dann 1770 für den Philosophen François-Marie Arouet, besser bekannt als Voltaire (1694–1778), folgender Eintrag: „Voltaire portatif. Pensées Philosophiques de Mr. de Voltaire, où Tableau encyclopedique des Connoissances humaines, 2. Tom, [Paris] 1766”. Mit dem 1766 gedruckten Werk führte der bayerische Index 1770 überraschend nur ein Werk Voltaires, dessen Schriften seit der 1730 erfolgten Beschlagnahmung der ersten Ausgabe seiner Histoire de Charles XII im steten Brennpunkt vieler Zensurgremien stand. Mit seiner herben Kritik am Absolutismus, der feudalen Herrschaft und dem weltanschaulichen Monopol der (katholischen) Kirche geriet er zwangsläufig in das Fadenkreuz der Inquisition. Das galt für Preußen unter Friedrich II. weniger als für das bayerische Kurfürstentum.
Ein weiteres Werk Hermann Busenbaums (1600–1668), sein erstmals 1645 erschienenes Buch Medulla theologiae moralis, facili ac perspicua methodo resolvens casus conscientiae, ist trotz seines theologischen Titels vor allem wegen seiner ausführlichen Abschnitte zum Königsmord erstmals 1757 im französischen Toulouse öffentlich verbrannt worden. Primär führten demnach monarchische und staatstragende Motive 1770 die Medulla des Jesuiten Busenbaum auf den bayerischen Index.
Die 1770 vorgenommene Indizierung vieler Schriften führender Aufklärer und Philosophen erlaubt andererseits aber nicht den Rückschluss, die kurbayerische Bücherzensur hätte das Kapitel europäischer „Konfessionskriege“ bereits abgeschlossen. So führte das Verbotsverzeichnis zwei 1768 bei Joseph Aloysius Crätz in München gedruckte kritische Ausgaben des 1621 in Rom verstorbenen Jesuiten, Theologen und Kardinals Roberto Francesco Romolo Bellarmino (1542–1621). Bellarmin galt zwar im 16. Jahrhundert als Hauptverfechter des römischen Katholizismus, der die päpstliche Suprematie in Glaubensfragen stützte und begründete, doch führten grundlegende Konflikte des Jesuitenordens mit Papst Sixtus V. (1585–1590) in der Frage des weltlichen Besitztums der Päpste zu Konflikten. In Folge wurden Bellarmins Abhandlungen 1590 erstmals auf den päpstlichen Index gesetzt. Manches wurde 1770 auch ungesehen aus dem noch immer glaubens- und konfessionspolitisch geprägten päpstlichen Index übernommen, obwohl die Verbreitung des Werkes in Bayern kaum messbar war. Dazu zählte trotz des Auftrags für die fränkische Reichs- und Druckerstadt Nürnberg die italienisch sprachige Bibelausgabe Biblia (la Sacrosanta) in lingua Italiana, Cive il Vecchio e nuovo Testamento & c., Norimberga 1712.
Städtische Zensur – Die paritätische Drucker-, Handels- und Reichsstadt Augsburg
Werfen wir abschließend einen vergleichenden Blick auf eine Stadt, in der konfessionell begründete Zensurmaßnahmen aufgrund einer paritätischen Ratsverfassung seit der Mitte des 16. Jahrhunderts eine Rolle spielten, aber nicht gegen katholische oder lutherische Inhalte angewandt wurden. Gleichwohl wurden aber im städtischen Kirchenregiment abweichende Inhalte in Predigen für den Druck regelmäßig nachzensiert. Insgesamt zählte Augsburg zu jenen Reichsstädten, die bereits im Spätmittelalter ein formelles Zensurkollegium schufen, dessen Aktenbestände bis zum Jahr 1474 zurückreichen.
Wie andere Ämter unterlag die Zensur bald paritätischen Besetzungsvorschriften, die seit 1555 de facto und seit 1648 auch bei der Besetzung städtischer Deputierter „zur bücher-censur“ galten. Man beachtete sie bei Zuwahlen durch die patrizische Oberschicht ebenso wie bei den aus der Stadtgemeinde gewählten Beisitzern, die als „advocati“ in Zensurangelegenheiten agierten. Das Zensuramt, das sich aus älteren Gremien Geheimer Räte und Schulherren herausgebildet hatte, veränderte seine Besetzung beim Urteil über Religionsschriften. Die Zuständigkeit war dergestalt geregelt, dass bei Konfessionsfragen nur die beiden Ratsherren, bei politischen Themen aber alle vier Zensoren zu entscheiden hatten. Dem Augsburger Zensuramt fiel demnach im Kontext zeittypischer Konfessionalisierung ein Sonderstatus zu, musste es doch vor allem auf Ausgleich bedacht sein. 1598 hieß es dementsprechend in einem Ratsdekret zur Bikonfessionalität: „Den drÿen buechhendlern soll durch ainen herren bürgermaister im ambt anzaigt vnd uferlegt werden, hinfüro von theologischen buechern, khaine andere buecher in iren cathalogis zu trukhen, auch in die stat einzufueren, oder zu verkhauffen, alls der allten catholischen religion vnd rainer augspurgischen confession, bey vermeidung ernstlicher straff […].“
Dabei unterschied sich der Konfessionsstand der Zensoren bis 1740 zu den medienrelevanten Druckern. Waren während des Dreißigjährigen Kriegs noch 70 % der Stadtbevölkerung evangelisch gewesen, so stellte sich nach Angaben der Kirchenbücher zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein numerisches Übergewicht der Katholiken ein, das sich auch in der Druckerstadt widerspiegelte. Stand unter den Druckern das Konfessionsverhältnis um 1650 noch bei drei bzw. vier zu eins zugunsten der Protestanten, so veränderte es sich bis 1738 zu einem fast paritätischen Verhältnis von sieben zu sechs. Bei Buchbindern verschob sich die Konfessionszugehörigkeit noch rascher. 1653 zählte man noch 5:3 für die lutherischen Buchbindermeister, während sich bis 1720 das Verhältnis auf 18:8 zugunsten der Katholiken verändert hatte.
Dem Zensurkollegium fehlten als städtischem Ehrenamt exekutive Kontrollrechte. Ein Abhängigkeitsverhältnis vom Rat und dem Bürgermeisteramt war zu jeder Zeit gegeben. Im Extremfall führte dies auch zu Sanktionen des Rats gegenüber den Zensoren bei Nachlässigkeit oder Fehlverhalten. Diese wurden 1632 vor dem Hintergrund der Ausweisung des katholischen Druckers Andreas A(p)perger (1598–1658) zu Geldstrafen verurteilt, da sie „als geweste censores dergleichen in allen rechten, reichstagsabschieden und policeyordnungen hochverpotene famosschriften druckhen [haben] lassen“. 1797 wurde ferner der Ratskonsulent Franz Anton von Chrismar, der auch im Auftrag anderer Territorien zahlreiche Rechtsgutachten verfasst hatte, aus dem Zensurrat ausgeschlossen, da er wiederholt Ratskalender nicht ausreichend zensiert hatte.
Das städtische Zensurkollegium mit seinem policeystaatlich-friedensstiftenden Arbeitsauftrag blieb bis zur Mediatisierung strikt paritätisch ausgerichtet, trotz sich verändernder konfessioneller Quoten in der Bürgerschaft. Demnach sollte in Augsburg die Parität nicht im Sinne ausgewogener konfessioneller Zahlenarithmetik interpretiert werden, „sondern es hat nach inhalt des Instrumentum Pacis als legis pragmaticae et fundamentalis der Catholische sovil recht als der A. Conf. Verwandte. […] Ist auch dießem eben so wenig als jenem neue druckereyen aufzurichten erlaubt, hingegen hat im fall einer vacirenden druckerey der Cathol. Gesell eben das recht als der A. Conf. verwandte. Mit was bestand der wahrheit kan dann so keck in den tag hinein asserirt werden, daß solches statutum denen Kathol. Burgers-Kindern vor denen Aug. Conf. Verwandten praejudicirlich seye?“
Ergebnisse
Mit dem Phänomen allgemeiner Bücher- und Schriftenzensur, des Verbots und der Indizierung „mißliebiger“ Druckerzeugnisse bzw. einer landesherrlich-tendenziösen Imprimatur-Vergabe waren in territorial und institutionell zu nuancierender Form alle Glieder des Alten Reiches konfrontiert. Städte, geistliche und weltliche Reichsstände und mediate Herrschaften standen aufgrund der hohen Fluktuation an Druckerzeugnissen und einer länderübergreifenden Verbreitung von Büchern, Traktaten, Flugschriften, bildlichen Dokumenten (Stiche, Einblattdrucken, Gemälde), Kalendern und anderen „zensurwürdigen“ Schriftträgern in einem Beziehungsfeld, das seitens der historischen Forschung zur frühmodernen Staatlichkeit mit Blick auf die Zensurpraxis noch immer ein Desiderat darstellt.
Die kaiserliche Aufsicht über Buchdruck, Buchhandel und Presse mit den Bücherkommissionen in Frankfurt und Leipzig konnte und wollte trotz einer Vielzahl an Anfragen und Verordnungen die Notwendigkeit territorialer Eigeninitiativen nicht verhindern. Das Herzogtum und der Kurstaat Bayern nutzten diese föderale Chance ebenso wie die Reichsstädte (Augsburg) und andere Fürstenländer, um eigene Zensurgesetze zu erlassen. Parallel dazu galt der von der Römischen Kurie 1559 ins Werk gesetzte Index librorum prohibitorum zwar formal noch bis 1966, doch fand er insbesondere in den evangelisch geprägten Landschaften des Alten Reiches, ähnlich wie die päpstliche Kalenderreform, zunächst nur eine zögerliche Rezeption.