Fragestellung
Bildung prägt als ebenso schillernder und facettenreicher wie persistenter Begriff nicht nur den pädagogischen Fachdiskurs, sondern auch gesellschaftliche und politische Debatten im Hinblick auf die Gestaltung und Sicherung einer guten Zukunft in nationaler wie globaler Perspektive. Dabei kann auffallen, dass die involvierten Akteurinnen und Akteure nicht selten ein unterschiedliches Verständnis von Bildung haben, worauf etwa der österreichische Philosoph und Publizist Konrad Paul Liessmann hingewiesen hat: „‘Bildung‘ selbst ist in der sogenannten Wissens- und Informationsgesellschaft zu einem diffusen Begriff geworden, mit dem alles benannt wird, das irgendwie mit der Beaufsichtigung und Beschulung von Kindern, mit der Ausbildung von Halbwüchsigen, mit berufsorientierten Studiengängen für angehende Akademiker, mit Qualifikation und Trainings aller Art, mit dem Erwerb grundlegender Kulturtechniken oder dem Abfassen wissenschaftlicher Abschlussarbeiten zu tun hat. Kein Wunder, dass jeder von ‚Bildung‘ sprechen kann und dabei immer etwas anderes versteht als der aktuelle Gesprächspartner.“
Auch die strategische Verwendung des Bildungsbegriffs in der nicht abreißenden Diskussion um die ‚richtige‘ Bildung zeigt, wie anpassungsfähig dieses Wort zu sein scheint. Sehen etwa die Befürworterinnen und Befürworter der kompetenzorientierten Schule oder der (in aller Regel von Psychologinnen und Psychologen verantworteten) empirischen Unterrichtsforschung in der Bildung häufig ein elitäres und unzeitgemäßes pädagogisches Ideal, so nutzen sie dennoch diesen Begriff – wohl um an einem eingeführten semantischen Rahmen festzuhalten und so nicht den Anschluss an fachliche und gesellschaftliche Debatten zu verlieren. Es ist dann die Rede von kompetenzorientierter Bildung und den Bildungswissenschaften – Begrifflichkeiten, die bei den Kritikerinnen und Kritikern der im Zuge der ersten Pisa-Studien zu Beginn der 2000er Jahre zügig eingeleiteten schulischen Reformen auf Protest stießen, insofern sie hier einen Verrat ‚echter‘ Bildung vermuteten. Dies zeigt, dass Bildung gerade auch als Kampfbegriff nichts an Attraktivität eingebüßt zu haben scheint. Darüber hinaus kennt der pädagogische Diskus noch weitere zentrale Begriffe wie Lernen, Sozialisation oder Erziehung, die mit dem Bildungsbegriff konkurrieren.
Bildung zeigt sich aber nicht nur heute als diffuser Begriff. Vielmehr wird gerade auch in seiner Begriffsgeschichte deutlich, wie sich das Verständnis von Bildung – und damit auch dasjenige von Mensch und Welt – immer wieder gewandelt hat, worauf zuletzt etwa Michaela Vogt und Till Neuhaus aufmerksam gemacht haben. Nicht zuletzt scheint diese Wandlungs- oder Anpassungsfähigkeit des Begriffs ein zentraler Grund dafür zu sein, dass sich Bildung – trotz einiger Rückschläge – nach wie vor hartnäckig als relevante Diskursvokabel behaupten kann. Eine zentrale Transformation des Verständnisses von Bildung zeigt sich in seinem Wandel von einem religiösen zu einem pädagogischen Begriff, mit dem gleichzeitig die Gründung der modernen Pädagogik seit dem 18. Jahrhundert verbunden wird, wenngleich schon im Humanismus der Renaissance Spuren einer ‚Säkularisierung‘ von Bildung bzw. des damit Bezeichneten festzustellen sind. Doch gehen Transformationen in der Regel nicht nur mit Diskontinuitäten, sondern auch mit Kontinuitäten einher, weshalb sich die Frage nach dem religiösen Erbe der Pädagogik stellt, worin nicht zuletzt der bleibend hohe affirmative Charakter
von Bildung begründet liegen mag.
Im Folgenden soll zunächst von heute aus auf Bildung zugegriffen werden, um des Begriffs anhand einiger Grundlinien seiner pädagogischen Verwendung doch einigermaßen habhaft zu werden. In einem zweiten Schritt wird Bildung in exemplarischer Weise historisch in den Blick genommen. Ausgehend von der Bedeutung von Bildung bei Meister Eckhart – und damit einer klassischen religiösen Fassung des Phänomens – werden Epochen berücksichtigt, in denen Wandlungen des Bildungsverständnisses greifbar werden: Im Humanismus, in der Aufklärung sowie im Neuhumanismus. Ob dieser Wandel des Bildungsbegriffs von einer religiösen zu einer pädagogischen Orientierung jedoch konsequent war, wird schließlich in einem dritten Schritt zu prüfen sein.
Aktuelle Zugänge oder was man unter Bildung verstehen kann
Für Niklas Luhmann und Eberhard Schorr ist Bildung der ‚Gottesbegriff‘ der Pädagogik, d. h. es handelt sich ihrer Ansicht nach um eine Begrifflichkeit, die genau über das richtige Verhältnis von Ungenauigkeit und Klarheit verfüge, wodurch einerseits die Abgrenzung eines ungefähr bestimmbaren Diskursfeldes möglich wird, das sich jedoch zugleich an seinen Rändern auflöse (Michaela Vogt/Till Neuhaus). Dies schaffe Anknüpfungsmöglichkeiten aus unterschiedlichen Richtungen, was sich nicht nur in synchron geführten Debatten, sondern gerade auch in diachronen Entwicklungen zeige – zu beobachten etwa im Vergleich des Bildungsverständnisses von Meister Eckhart und Wilhelm von Humboldt. Auch wenn sie unterschiedlichen Denkwelten angehörten, ging es doch beiden – wie noch deutlich werden wird – um Veränderungsprozesse des Menschen durch Bildung. Gleichzeitig sind andere Aspekte ihrer jeweiligen Auffassungen über Bildung ganz unterschiedlich. Vor diesem Hintergrund macht es nicht nur Sinn, sondern ist es auch erhellend, den Wandel von Bildung historisch zu untersuchen. Gerade die Schwierigkeit einer exakten Definition von Bildung oder gar der von Theodor W. Adorno geäußerte Zweifel daran, ob sie überhaupt existiert bzw. wie man sie als Phänomen greifen könne, machen Bildung daher zum pädagogischen ‚Gottesbegriff‘ schlechthin.
Insofern Versuche, Bildung begrifflich eindeutig zu definieren, immer wieder auf Schwierigkeiten stoßen, hat der Bildungshistoriker Christian Rittelmeyer den Vorschlag gemacht, Bildung weniger als Begriff denn als ‚Orientierungsmuster‘ zu bezeichnen. Variierend dazu spricht er auch von Bildung als einer ‚Bedeutungslandschaft‘ und bezeichnet sie als pädagogisches ‚Energiezentrum‘, das das Nachdenken und Handeln pädagogisch verantwortlicher Personen antreiben könne. Aufklärung und Humanität stellten Motive dar, die mit diesem Bedeutungsfeld stabil verbunden wären und so dem pädagogischen Denken und Handeln eine gewisse Richtung weisen würden.
Nicht vergessen werden darf, dass Bildung ein spezifisch deutschsprachiger Begriff ist und somit auf eine besondere Weise des pädagogischen Denkens und Handelns verweist. Zugleich ist Bildung der im deutschen Sprachraum vorrangig benutzte pädagogische Terminus. Wird Bildung etwa im Englischen mit ‚education‘ übersetzt, dann geht ein gewisser Bedeutungsgehalt verloren, was aber nicht heißt, dass Bildung und Erziehung überhaupt nichts miteinander zu tun hätten.
Kern von Bildung sind Selbstbestimmung und Freiheit der Person, was auf die Konturierung des Begriffs in der Aufklärung zurückverweist. Im Kontext dieses Verständnisses wird klar, weshalb sich der Erziehungswissenschaftler Jürgen Rekus gegenüber den Begriffen Kompetenz und Bildungsstandards, die sich im pädagogischen Kontext seit rund 20 Jahren durchgesetzt haben, kritisch positioniert hat. Insbesondere die Rede von Bildungsstandards sei problematisch, so Rekus, weil es sich dabei um extern gesetzte Maßstäbe handle, die man erfüllen müsse, um als kompetent oder tauglich für die Gesellschaft zu gelten. Bildung zeichne sich seiner Auffassung jedoch gerade dadurch aus, dass sich der Einzelne seine Standards selbst setze. Demgegenüber stellten Bildungsstandards und Kompetenzen von außen gesetzte Normen (z. B. Fachlehrpläne) dar, deren Grad der Realisierung gemessen werden solle, weshalb man von Outputorientierung spreche.
Deutlich wird das Verständnis von Bildung, wenn man es in Beziehung zu anderen zentralen pädagogischen Begriffen wie der Sozialisation, dem Lernen und insbesondere der Erziehung setzt. Während die Sozialisation, so Winfried Böhm, vor allem die Integration von Kindern in familiäre, gesellschaftliche oder religiöse Zusammenhänge durch Mitleben und Mitvollziehen meint, geht es beim Lernen traditionell um die Speicherung von Sinnesdaten, wobei nicht etwa nur Vokabeln, sondern auch Verhalten erlernt werden kann. Menschen lernen „durch Konditionierung, durch Imitation, durch Aneignung, durch Erinnerung und Erfahrung (…) innerhalb institutioneller Rahmenbedingungen wie auch in alltäglichen Situationen.“ (Eva Borst) Dabei ist mit Eva Borst festzuhalten, dass Lernprozesse an konkrete Herausforderungen geknüpft sind und nicht immer voll bewusst ablaufen. Bei der Erziehung steht die intentionale Weitergabe von Wissen oder Normen im Zentrum, d. h. dass hier Eltern, Schule, Pfarrgemeinde oder andere Institutionen den Adressatinnen und Adressaten bewusst Inhalte und Verhaltensweisen weitergeben möchten. Auch wenn hier zunächst das Motiv der Reproduktion überwiegt, zielt Erziehung ebenfalls auf Freiheit als Ziel, d. h. auf das eigenständige Denken und Handeln eines Menschen.
So wichtig diese begrifflichen Differenzierungen sind, so klar ist aber auch, dass Bildung auf allen diesen pädagogischen Vorgängen aufbaut. Ohne Sozialisation, Lernen und Erziehung ist auch Bildung nicht möglich, wodurch ein spezifischer Akzent gesetzt wird. Dieser besteht in der Ermöglichung einer spezifischen Perspektive auf die Welt: „Allerdings bringt Bildung eine andere Beziehung zur Welt hervor als dies Erziehung jemals vermag, denn Bildung versetzt das Individuum in die Lage, über das bisher für selbstverständlich Gehaltene nachzudenken und es in Zweifel zu ziehen. Mit anderen Worten: Bildung stellt die Bedingung der Möglichkeit dar, die durch Erziehung noch affirmierten gesellschaftlichen Verhältnisse einer kritischen Analyse zu unterziehen. Erziehung ist demzufolge zwar Bedingung von Bildung, diese wird jedoch nicht von ihr bestimmt.“ (Eva Borst)
Sicherlich ist die Definition von Borst bestimmten Vorannahmen geschuldet, z. B. werden die Aspekte der Rationalität und Reflexivität hier stark betont. Hier scheint einerseits die Aufklärung hindurch, deren Rekurs auf die Vernunft für die Entfaltung des Bildungsbegriffs zentral war. Doch verweist diese Sicht andererseits auch auf den Neuhumanismus, dessen Moment der Distanzname des Menschen von der Welt etwa für Wilhelm von Humboldt bedeutend gewesen ist.
So nachvollziehbar und richtig diese normative Sicht von Bildung als persönliches Freiheitsgeschehen ist, so ergänzungsbedürftig scheint dieses Verständnis zu sein, denn die im Bildungsprozess erfolgende Verknüpfung von Subjekt und Gesellschaft führt letztlich zu einem Set an individuellen Fähigkeiten und stellt darin zugleich eine gesellschaftlich relevante Ressource dar. Genau darauf zielt letztlich das Bildungssystem seit Humboldt, wie Heinz-Elmar Tenorth – für viele vielleicht überraschend – betont hat.
Der Bildungsbegriff im Wandel – historische Bohrungen
Der historische Blick auf Bildung steht vor einem Problem, denn es gibt zwar ein religiös gefülltes Verständnis von Bildung seit der mittelalterlichen deutschen Mystik, aber erst im 18. Jahrhundert wird der Bildungsbegriff im pädagogischen Denken heimisch (Rebekka Horlacher). Wenn im Folgenden Beispiele aus dem 16. und 17. Jahrhundert präsentiert werden, in denen ein Wandel von einer primär religiösen zu einer stärker säkularen Pädagogik anfanghaft greifbar wird, dann müsste hier korrekterweise wohl von Erziehung gesprochen werden – obgleich mitunter vielleicht schon Merkmale des später konturierten Bildungsbegriffs aufscheinen mögen. Dieser Aspekt ist auch interessant im Zusammenhang mit der Entstehung der Pädagogik als Disziplin durch ihre Emanzipation aus der Theologie im Laufe des 18. Jahrhunderts, bei der die Verbindung mit dem damals aktuellen Begriff der Bildung sowie seinem Freiheits- und Vernunftverständnis es vielleicht ermöglichen sollte, sich von der älteren, religiös geprägten Erziehung abzugrenzen. Wenn dem so war, dann geschah dies jedoch nicht mit letzter Konsequenz, denn der Erziehungsbegriff blieb – zumindest im Hinblick auf die breite Masse des Volkes – weiterhin bedeutsam (Heinz-Elmar Tenorth). Es scheint, als ob sich diese Abgrenzung in der späteren historischen Bildungsforschung wiederholt, insofern diese ihren Fokus auf die Pädagogik seit der Moderne legt, um damit zugleich den emanzipatorischen Charakter von Bildung zu betonen. Demgegenüber muss jedoch klar gesagt werden, dass dieses emanzipatorische Motiv deutlich älter ist und etwa in der Vorstellung vom Menschen als Bildhauer seiner selbst in Humanismus und Renaissance bereits präsent war, worin zumindest ein sprachlicher Bezug zum Begriff der Bildung liegt (Andreas Dörpinghaus/Ina K. Uphoff). Die folgenden, allerdings nur exemplarischen Bohrungen in der Geschichte des Bildungsbegriffs sollen dessen entscheidende Wandlungen aufzeigen.
Meister Eckhart: Bei Meister Eckhart kommt der Begriff der Bildung im Zusammenhang mit dem Motiv der Gottesebenbildlichkeit ins Spiel. Deren Realisierung ist insbesondere das Ziel der christlichen Mystik. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Prägung von Bildung entsprechend der Imago-dei-Idee im Rahmen der ‚negativen Theologie‘. Der Urheber dieses Bildungsprozesses ist Gott, und die von ihm initiierte Bewegung des Menschen zu ihm hin geschieht durch eine Loslösung des Menschen von seinem geschöpflichen Wirken. Dies betrifft auch das menschliche Streben nach Gott selbst, insofern auch die aktive Suche nach Gott als „geschöpfliche Aussage“ und „insofern er in Bildern und Werken erkannt wird“ (Dietmar Mieth), belanglos wird. Gottesebenbildlichkeit realisiert sich als Prozess des Loslassens und führt im Menschen zu „Ledigkeit, Armut, Gelassenheit und Abgeschiedenheit“ (Dietmar Mieth). Das klar religiös strukturierte Bildungsverständnis bei Eckhart ist als Loslassen zu verstehen.
Die pädagogische Forschung zu Meister Eckhart hat neuerdings noch auf zwei weitere wichtige Aspekte hingewiesen. Einmal auf den Aspekt der Personenwürde, die im Gedanken der Gottesebenbildlichkeit liegt und die später im Humanismus wichtig wurde. Zum Zweiten wurde auf die Bedeutung der christlichen Lehre für den Bildungsprozess hingewiesen, worauf die Predigttätigkeit Eckharts verweist. D. h. der theologischen Auseinandersetzung kam auch eine bildende Funktion zu – verbunden mit einem kritischen Potential, denn Eckhart interpretierte die Glaubenslehre und bezog sie, wie in der Mystik üblich, auf sich bzw. das Individuum (Michaela Vogt/Till Neuhaus). Im Humanismus der Renaissance-Zeit sollten genau diese, von Eckhart stark hervorgehobenen Motive – Gottesebenbildlichkeit und Würde des Menschen und das damit verbundene Potential – erneut starkgemacht werden. Nun auch mit einer deutlicheren Verschiebung der Aktivität auf den Menschen selbst, der etwa von Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) als ‚Bildhauer‘ und ‚Dichter‘ seiner selbst bezeichnet wurde (Andreas Dörpinghaus/Ina Katharina Uphoff). Im Folgenden soll der Humanismus in den Blick genommen werden, wobei exemplarisch auf Erasmus von Rotterdam sowie das Kolleg von Annecy in Savoyen eingegangen wird.
Humanismus I: Erasmus von Rotterdam: Erasmus von Rotterdam (1466–1536) war als Theologe, Philosoph und theoretischer Pädagoge literarisch äußerst produktiv und entfaltete eine Pädagogik des Subjekts, die auf diese Weise erst wieder in der Aufklärung gedacht wurde. Von besonderer Bedeutung ist, dass der Theologe Erasmus die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen erstmals anthropologisch begründet hat. In seiner Schrift über die frühzeitige Geistesbildung der Kinder von 1529 hat er festgehalten: „Menschen, das glaube mir, werden nicht geboren, sondern gebildet.“ Bereits für Erasmus war der Vernunftgebrauch des Menschen ein entscheidendes Ziel seines Bildungsganges, wozu pädagogisch angeregt werden musste. Wie Karl-Heinz Dammer herausgestellt hat, fokussierte er dabei in pädagogischer Hinsicht drei zentrale Aspekte: Der Educandus solle erstens lernen, auf Leitbilder zu verzichten. Dies erinnert an Kants spätere Definition von Aufklärung, sich ohne Hilfe anderer Menschen seines eigenen Verstandes bedienen zu können. Er betont zweitens die Bedeutung der Erfahrung, wobei er hier nicht den Empirismus, sondern den zwischenmenschlichen Umgang meinte. Damit im Zusammenhang steht auch der dritte Leitgedanke: Die Bedeutung des Dialogs, d. h. der Austausch von Argumenten und das Kennenlernen anderer Perspektiven.
In praktischer Hinsicht verwies Erasmus die Erziehung auf fünf Aufgaben. Auch hier wird die anthropologische Ausrichtung seiner Pädagogik deutlich, ohne den christlichen Glauben aufzugeben: 1. Erziehung in der christlichen Frömmigkeit; 2. Unterweisung in den sieben freien Künsten – nach Dörpinghaus Kennzeichen einer sogenannten kanonischen materialen Bildung bis zur Moderne; 3. Vorbereitung auf eine selbständige Lebensführung; 4. Vermittlung von angemessenen Umgangsformen; 5. Unterricht in den Realien, z. B. Geografie, Naturkunde oder Landwirtschaft im Hinblick auf das menschliche Wirken in der Gemeinschaft (Karl-Heinz Dammer).
Humanismus II: Das Kolleg von Annecy: Die Schule der savoyischen Stadt Annecy unterstand seit dem 14. Jahrhundert dem städtischen Magistrat und verfügte über zwei Zweige: Die Elementarklassen, die der Alphabetisierung und sittlichen Erziehung aller Kinder dienten, sowie die Grammatikklassen, die lediglich von den Kindern der gehobenen Schichten besucht wurden und in denen v.a. der Lateinunterricht im Zentrum stand. Da die antike Literatur nicht zuletzt moralische Pflichten und Tugenden transportiert hat, diente der Sprach- und Grammatikunterricht auch der sittlichen Erziehung. Es gab auch eine religiöse Erziehung, die jedoch der sittlichen nachgeordnet war. Der französische Bildungshistoriker Serge Tomamichel hat die von ihm untersuchte Schule als humanistisch bezeichnet – nicht zuletzt auch deshalb, weil im Grammatikunterricht der spätantike ‚Donatus minor‘ Verwendung fand, dessen Satzbeispiele auf pagane Texte referierten. Durch eine Stiftung des ehemaligen Schülers Eustache Chapuys (1491/1492–1556), Diplomat im Dienst des römisch-deutschen Kaisers Karl V., kam es zu einer Neuausrichtung der Schule. Das Kolleg befand sich nun nicht nur in einer neuen komfortablen ökonomischen Lage, sondern erlangte 1556 auch einen autonomen Status, insofern es nicht mehr durch den Magistrat, sondern einen Verwaltungsrat geleitet wurde. Dieser bestand aus vier Vertretern der Stadt und zwei Geistlichen.
Wie Tomamichel herausgestellt hat, war die Schule humanistisch-säkular ausgerichtet, wodurch den Absolventen ganz unterschiedliche Berufskarrieren offenstanden. Dennoch spielte der christliche Glaube nach wie vor eine wichtige Rolle. Doch das Kolleg diente vor allem der Bürgerschaft von Annecy. Der säkulare Charakter der Schule kann nach Tomamichel an vier Motiven deutlich gemacht werden: Die Leitung erfolgte erstens durch einen weltlich dominierten Verwaltungsrat, das Lehrpersonal bestand zweitens mehrheitlich aus Laien, die verheiratet waren und außerhalb des Schulkomplexes lebten, der Unterricht beruhte drittens auf humanistischen Grundlagen, man las z. B. Texte von Cato oder Cicero. Die Texte wurden ohne religiöse Vorbehalte oder kirchliche ‚Reinigungen‘ evtl. häretischer Abschnitte gelesen. Zu den wichtigsten Fächern zählte die Rhetorik. Zu den weltlichen Texten traten ergänzend auch christliche Texte, und auch die Praxis der Frömmigkeit wurde gepflegt. Natürlich war der christliche Glaube Teil des Schullebens, aber er war nicht sein letzter Zweck. Das Erziehungsideal stellte viertens der ‚uomo universale‘ dar, d. h. der vollständige Mensch, der sich aktiv politisch, wirtschaftlich, gesellig und religiös betätigen konnte.
Diese Entwicklung und Blüte des Kollegs als autonomer und säkular orientierter Schule brach mit der Konfessionalisierung der Schule ab. Dies geschah zunächst im Kontext der ‚Gegenreformation‘, wodurch dem katholischen Glauben mehr Raum am Kolleg gegeben wurde, was 1596 in neuen pädagogischen Vorschriften festgehalten wurde. Katholische Frömmigkeit wurde nun, so Tomamichel, zur zentralen Dimension von Erziehung am Kolleg.
Schließlich nahm auch der in Annecy residierende Genfer Bischof Franz von Sales (1567–1622) starken Einfluss auf die Schule. Sie sollte vor allem der Gewinnung neuer Priester dienen. Daher sorgte er für eine konsequente religiöse Strukturierung des Schullebens. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten übergab man die Schule 1614 in die Trägerschaft des Barnabiten-Ordens, womit die Schule ihren säkular-autonomen Charakter endgültig verlor. Die hier gezeichnete Entwicklung ist ein Beispiel für die Konfessionalisierung der höheren Schulen, die sowohl für den Protestantismus als auch für den Katholizismus ab dem späteren 16. Jahrhundert festgestellt werden kann, während sich die höheren Schulen davor sowohl in den protestantischen als auch in den katholischen Gebieten am Humanismus und an der ‚devotia moderna‘ orientierten und damit, wie Rudolf W. Keck resümiert, auf die gleichen Konzepte referiert hätten. Somit verschiebt sich mit der Konfessionalisierung der höheren Schulen der Fokus von Unterricht und Erziehung: „Lag dem Humanismus und seinen Nachwirkungen im 16. Jahrhundert die Wissenschaftlichkeit und kontextuale Genauigkeit der Interpretation der Glaubenssätze am Herzen, so gilt nun die Aufmerksamkeit der durch Kontrolle feststellbaren und herstellbaren Glaubensverlässlichkeit.“ (Rudolf W. Keck) Damit brach eine potentielle Entwicklung einer frühen, stärker anthropologisch orientierten Pädagogik ab, die erst in der Aufklärung wieder Fahrt aufnehmen sollte und die mit den Begriffen der Bildung und Bildsamkeit eng verbunden war.
Wie Dietrich Benner festgehalten hat, meint Bildsamkeit seit Jean-Jacques Rousseau jene Vorstellung, wonach der Mensch zwar ohne spezifische Anlagen geboren wird, doch zugleich dazu in der Lage ist, etwas aus sich zu machen. Er müsse nur dazu angeregt werden. Während Rousseau dieses Phänomen als perfectibilité bezeichnete, sprachen etwa Johann Blumenbach oder Gottfried Herder eher naturphilosophisch vom Bildungstrieb, dessen Sitz für Herder die Seele sei. Vor diesem Hintergrund konstituiert sich Bildung als material-formaler Unterricht, bei dem der Bildungstrieb, d. h. die natürlich mitgegebenen kindlichen Kräfte, durch Inhalte erweckt werden müssen. Damit wurde – ähnlich wie schon im Humanismus – ein Versuch unternommen, den Menschen aus sich selbst heraus zu erklären, und zwar ihn „als ein Wesen zu begreifen, das einen inneren, dabei individuellen Entwicklungsprozess durchläuft“. Es kann festgehalten werden: „(…) insofern waren die Menschen auch zu einer Selbsterkenntnis imstande, die es ihnen erlaubte, sich selbst und unabhängig von Gottes Gnaden als intelligente Subjekte mit eigenen Rechten zu repräsentieren. (…) Bildung hieß nun nicht mehr Einbildung Gottes in die Seele, sondern Formung der dem Individuum innewohnenden Kräfte mit dem Ziel seiner Vervollkommnung im Diesseits, die notwendig auch eine Vervollkommnung der ganzen Gattung miteinschloss.“ (Eva Borst) Vordergründig ist damit der Bildungsbegriff säkularisiert. Die folgenden historischen Bohrungen in Aufklärung und Neuhumanismus möchten dies jedoch in Frage stellen.
Aufklärung: Jean-Jaques Rousseau: In Rousseaus berühmter, 1762 erschienenen, erziehungsphilosophischer Schrift ‚Émile‘, die auch für den deutschsprachigen pädagogischen Diskurs bestimmend war, zeigt sich auf den ersten Blick so etwas wie eine ‚anthropologische Wende‘ in der Erziehung, insofern hier der Mensch – von der Erbsünde befreit – als im Zentrum stehend verstanden wird. Deutlich wird dies bereits im ersten Satz des ‚Èmile‘: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen der Menschen.“ Und kurz darauf fährt er fort: „Der natürliche Mensch ruht in sich. Er ist eine Einheit und ein Ganzes; er bezieht sich nur auf sich oder seinesgleichen.“ (Jean-Jaques Rousseau) Damit hat Rousseau eine entscheidende, pädagogisch relevante Dichotomie eröffnet: Es gibt die moralisch gute Natur und es gibt den sogenannten Gesellschaftszustand, der durch Verdorbenheit gekennzeichnet ist. Dadurch, dass Rousseau das Kind der Natur zuordnet, stellt er es, wie Fritz Osterwalder gezeigt hat, auch in ihre gute moralische Ordnung hinein und macht das Kind zu einem Ausdruck eben dieser guten Natur.
Erziehung versteht sich hier als Bewahrung der Ganzheit und moralischen Qualität des Kindes und als naturgemäße Entfaltung seiner Kräfte. Dazu sind, pädagogisch betrachtet, zwei Voraussetzungen notwendig: Zum einen der Erzieher, zum anderen die Umgebung. Die Anforderung an den Erzieher ist hoch, insofern er selbst eine Person sein muss, die in der absolut guten Naturordnung erzogen und in ihr verblieben ist. D. h. er selbst repräsentiert die moralische Güte der Natur im Erziehungsprozess und hilft dabei, dass „das ewige Gesetz des Guten im erzogenen Kind rein zur Geltung“ (Fritz Osterwalder) kommt.
Angesichts einer moralisch verdorbenen Gesellschaft muss ein schwaches und auf andere Personen angewiesenes Kind fernab ihres Einflusses, d. h. in ländlicher Abgeschiedenheit, erzogen werden. Einzige Bezugsperson ist der Erzieher – doch auch dieser tritt hinter eine von ihm arrangierte Umgebung zurück. Somit ist das Kind auf sich selbst und damit auf die gute Naturordnung verwiesen. In ihm wirkt die gute Selbstliebe, die sich u. a. dadurch entfaltet, dass sie nicht den Vergleich mit anderen kennt – ist doch das Sich Vergleichen mit anderen für Rousseau der Ursprung des Bösen.
Dieses pädagogische Setting führt sowohl zu einer großen Machtfülle des Erziehers als auch zu einer hohen Verantwortung, denn: Wofür in der christlichen Bildung die Gnade Gottes zuständig war, muss jetzt der menschliche Erzieher geradestehen: „Die absolute Güte steht jetzt zur unmittelbaren Disposition der Erziehung, beziehungsweise des Erziehers, die Güte des Zöglings steht in unmittelbar pädagogischer Verantwortung in radikaler Abgrenzung zu jeder gesellschaftlichen Praxis.“ (Fritz Osterwalder) Auch wenn es bei Rousseau zunächst zu einer ‚Säkularisierung‘ von Bildung durch die Ablehnung der Erbsünde kommt, installiert er doch mit dem göttlichen Prinzip in der Natur, das ganz konkret im Kind erscheint, eine neue Form pädagogischer ‚Sakralität‘.
Neuhumanismus: Wilhelm von Humboldt: In der modernen deutschsprachigen pädagogischen Diskussion gilt Humboldts Bildungsverständnis als normativ, wobei man, so Tenorth, nicht vergessen dürfe, dass Bildung von ihm einerseits „esoterisch und philosophisch“, andererseits aber auch ganz praktisch verstanden wurde. Zu denken wäre hier an die Gründung der Berliner Universität, die sowohl auf eine allgemeine Menschenbildung als auch auf eine akademische Ausbildung künftiger Staats- und Kirchendiener zielen sollte. Hier soll nun die philosophische Seite im Vordergrund stehen, in der deutlich wird, wie Humboldts Hinwendung zum Menschen und zur Welt sakral gefasst wird. Es sind vor allem die Aspekte der ‚Vermittlung‘, der ‚Einheit‘, der ‚Seele‘ und der ‚Freiheit von der Welt‘, an denen diese neue religiöse Fassung von Bildung deutlich wird – nicht zuletzt im Vergleich mit Meister Eckharts explizit religiösem Verständnis. Geht es bei Eckhart um die ‚Vermittlung‘ zwischen Menschlichem und Göttlichem, so meint Bildung bei Humboldt die Verknüpfung zwischen Ich und Welt. Auch der Gedanke der ‚Einheit‘ durchzieht beide Konzepte – doch ist es bei Humboldt nicht die Einheit von Gott und Mensch. Einheit von Bildung zeigt sich bei ihm an der die Einzeldisziplinen integrierenden Wissenschaft sowie an der wahren Humanität als Bildungsziel. Die zweckfreie Rückbindung (religio) des Menschen an die Welt stärkt und nährt schließlich die ‚Seele‘, so wie auch der Gottesdienst frei von Zwecken ist und gerade dadurch die Seele erbauen soll. Humboldt schreibt über die allgemeine Menschenbildung: „Jede Beschäftigung vermag den Menschen zu adeln (…). Nur auf die Art, wie sie betrieben wird, kommt es an; und hier lässt sich wohl als allgemeine Regel annehmen, dass sie heilsame Wirkung äussert, so lange sie selbst, und die darauf verwandte Energie vorzüglich die Seele füllt“ (Wilhelm von Humboldt).
An die Stelle der göttlichen Offenbarung bei Eckhart tritt bei Humboldt der Geist, der Objektivität und Einheit von Bildung angesichts der Vielfältigkeit der Menschen, aber auch die richtigen Werte und Empfindungen ermöglichen soll. Sein Sitz ist im Inneren des Menschen – dem eigentlichen Ort des Bildungsprozesses, wie Humboldt betont (Wilfried Sühl-Strohmenger). Schließlich ist Bildung für Humboldt der Modus, durch den der Mensch seine Endlichkeit zu überwinden vermag, worin man eine Analogie zu Eckharts Divinisierung des Menschen sehen könnte. Humboldt stellt in seinem Werk über die Sprache fest: „Da diese Endlichkeit nicht in der That aufgehoben werden kann, so muß sie es in der Idee; da es nicht auf göttliche Weise geschehen kann, muß es auf menschliche. Des Menschen Wesen aber ist es, sich zu erkennen in einem Andern; daraus entspringt sein Bedürfnis und seine Liebe. (…) Dahin aber zu gelangen, ist die Sprache das einzige (…) menschliche (…) Mittel“.
Resümee: Die bleibend religiöse Struktur des pädagogischen Feldes
Die exemplarischen Bohrungen im historischen Massiv des Bildungsbegriffs haben gezeigt, dass seine Wandlungsprozesse von Diskontinuitäten wie von Kontinuitäten bestimmt gewesen sind. Der Humanismus bricht ein ganz von Gott her gedachtes Bildungsgeschehen zugunsten menschlicher Eigenaktivität und menschlicher Freiheitsräume auf, ohne den christlichen Glauben aufzugeben, so dass man mit Stephanie Hellekamps von Spuren einer Säkularisierung der Pädagogik vor der Aufklärungsepoche sprechen kann. In Aufklärung und Neuhumanismus setzen sich – offenbar durch das konfessionelle Zeitalter unterbrochen – einerseits diese rationalisierenden Bestrebungen im pädagogischen Feld fort, doch wird andererseits mit Bildung offenbar ein Überschuss an Möglichkeiten aufgerufen, der nicht anders als in sakraler Sprache kommuniziert werden kann – sei es bei Rousseau als moralisch gute Natur und Perfektibilität oder bei Humboldt als Höchstform von Humanität. Beide Autoren weisen damit über anthropologisch gegebene Grenzen hinaus oder dehnen diese zumindest deutlich aus. Bildung zeigt sich somit als wirklicher Gottesbegriff – nicht nur wegen seiner Bedeutungsoffenheit, sondern vor allem aufgrund der mit ihm verbundenen Perspektiven der Hoffnung und Fülle. Somit geht die Säkularisierung des Bildungsbegriffs seit der Aufklärung mit neuen sakralen Mustern einher – womöglich weit stärker als im Humanismus, insofern dort menschlicher und göttlicher Handlungsspielraum vielleicht eher als je eigene, sich aber gegenseitig ergänzende Bereiche gedacht werden konnten, während Bildung nun als säkular-sakrales Amalgam erscheint. Dass Bildung und Pädagogik nach der Aufklärung über einen bleibenden theologischen Subtext verfügen, kann aber eigentlich nicht verwundern, wenn man zum einen bedenkt, wie lange das Bildungswesen in kirchlicher Verantwortung war und dass zum anderen christlicher Glaube und Theologie „mächtige Pädagogikgeneratoren“ (Lothar Kuld) darstellten, insofern sie pädagogische Akteurinnen und Akteure beeinflusst und angeregt haben.
Während Rousseaus Erzieher nach wie vor in der pädagogischen Diskussion weiterwirkt – und zwar im Ideal der Lehrperson als derjenigen Instanz, die für die optimale Entfaltung der guten Potentiale von Schülerinnen und Schülern verantwortlich ist –, geriet der mit Humboldt assoziierte Bildungsbegriff seit Pisa in den 2000er Jahren in Bedrängnis. Zu ineffektiv, zu elitär und zu schwerfällig für eine sich ständig wandelnde und heterogene Gesellschaft, lautete die Kritik. Doch funktioniert der ‚God-Term‘ Bildung nach wie vor aufgrund seiner inhaltlich labilen wie sakralen Struktur: Als Bezugspunkt auch der Kompetenzorientierung, als in der Gesellschaft affirmativ verankertes semantisches Hoffnungs- und Kampfmotiv im Hinblick auf die ideale Schule und die Ermöglichung einer guten Zukunft für alle. Angesichts globaler und multipler Krisenwahrnehmungen steigern sich diese Erwartungen und Bildung mutiert zum eschatologischen Schlagwort, mit dem man den Schulen nicht weniger als die Aufgabe, die Welt zu retten, zuweist (z. B. ‚nachhaltige Bildung‘). Die inhaltliche Offenheit von Bildung und die Angewiesenheit des pädagogischen Diskurses auf eine Semantik, an die möglichst viele Akteurinnen und Akteure anknüpfen können, wird wohl die bleibende Attraktivität dieses Begriffes auch in Zukunft sichern. Genauso wie die sakrale Aufladung dieses pädagogischen ‚God-Terms‘, der die Bewahrung und Entfaltung der natürlichen Güte des Einzelnen sowie die (moralische) Besserung von Mensch und Welt zu verheißen scheint.