Religiöse Bildung – das ist so eine Sache bei einem mehrfachen Sitzenbleiber ohne Abitur, der freilich zigfacher Ehrendoktor mehrerer Universitäten weltweit geworden ist (in Bonn sogar zweimal) und Ehrenprofessor seiner Vaterstadt Lübeck ebenso wie der Princeton University war. Und so darf ich Sie auf fünf Teile vorbereiten, die uns durch das erzählerische Werk führen sollen, vom Roman „Buddenbrooks“ aus dem Jahr 1901 bis zur Legende vom Sünder-Papst Gregorius im Roman „Der Erwählte“, erschienen ein halbes Jahrhundert später, 1951. Am besten beginnen wir wenige Schritte von hier am Wirtshaus Seerose, wo im Jahr 2003 auf Initiative des Thomas-Mann-Forums München eine Gedenktafel angebracht wurde.
I.
Die Tafel weist darauf hin, dass der damals 25-jährige junge Autor Thomas Mann im Sommer 1900, nach dreijähriger Arbeit, seinen Roman „Buddenbrooks. Verfall einer Familie“ hier, im dritten Stock des Hauses Feilitzschstraße 5 (heute 32), beendet hat. Um die Tafel graphisch etwas interessanter zu gestalten, haben der Künstler Joachim Jung und ich uns überlegt, die ersten drei gesprochenen Worte des Romans, „Was ist das“ und die letzten drei gesprochenen Worte „Es ist so“ in der Handschrift Thomas Manns abzubilden. Das hatte gute Gründe. Thomas Mann selbst hat in einem frühen Notizbuch festgelegt, dass sein Roman mit „Was ist das“ beginnen und mit „Es ist so“ enden sollte, dass also diese sechs Wörter die Kompositionsklammer der „Buddenbrooks“ bilden sollten. Nun aber sind, wie zu zeigen ist, dieser Anfang und dieser Schluss des Romans besonders stark religiös bestimmt, ja, haben direkt mit religiöser Bildung zu tun!
Die erste Seite des Romans, dessen Handschrift im Zweiten Weltkrieg in München verbrannt ist, hat sich als Fragment einer frühen Fassung erhalten. Wir sehen das, was Thomas Mann im Notizbuch als „Anfang“ festgelegt hat: „‘Was ist das. – Was – ist das …‘“. Wir platzen als Leser mitten in ein Examen hinein. Im Jahr 1835 sitzt die achtjährige Antonie Buddenbrook, genannt Tony, auf den Knien ihres Großvaters und stammelt „Was ist das“. Es gibt kein Fragezeichen, dafür zwei Gedankenstriche und drei Punkte: Die Kleine scheitert, sie kommt raus, weiß nicht mehr weiter. Und ihr Großvater macht sich über sie lustig: „Je, den Düwel ook, c’est la question, ma très chère demoiselle.“ Im plattdeutschen Dialekt beschwört er den Teufel und überlässt im Französisch der höheren Stände die Frage seinem lieben Fräulein.
Aus der Bredouille des Versagens hilft Tony ihre Mutter heraus, die dem Töchterchen vorsagt „Tony (…) ich glaube daß mich Gott – “, und da weiß Tony weiter, wiederholt nochmal „Was ist das“, spricht darauf langsam „Ich glaube, daß mich Gott“, kommt wieder hinein und setzt „während ihr Gesicht sich aufklärte, rasch hinzu: ‚ – geschaffen hat samt allen Kreaturen‘, war plötzlich auf glatte Bahn geraten und schnurrte nun, glückstrahlend und unaufhaltsam, den ganzen Artikel daher, getreu dem Katechismus, wie er soeben, Anno 1835, unter Genehmigung eines hohen und wohlweisen Senates, neu revidiert herausgegeben war.“
Wir Leser werden ebenfalls „aufgeklärt“ – Tonys Frage „Was ist das?“ bezieht sich im Kleinen Katechismus Dr. Martin Luthers mit seinen „erläuternden Sprüchen“ nach dem ersten Hauptstück mit den zehn Geboten auf das zweite Hauptstück „Das christliche Glaubensbekenntnis“ und da auf den ersten Artikel „Von der Schöpfung“, der beginnt: „Ich glaube an Gott den Vater, allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erden.“
Dieser Artikel wird nun aber nicht nur nicht zitiert, er kommt, wie die Handschrift deutlich zeigt, überhaupt nicht vor. „Buddenbrooks“ beginnen mit einem Nicht-Text, mit einem Nicht-Zitat, und wenn es nicht so schrecklich neumodisch klänge, müsste man hier von einer Dekonstruktion sprechen, denn was liegt hier anderes vor als eine Zerlegung oder Auflösung? Wir könnten auch sagen, dass der nicht gesprochene oder nicht zitierte erste Glaubensartikel zur unsichtbaren Vor-Geschichte der Erzählung gehört, dass der Anfang gar kein richtiger Anfang ist im Sinne des „Es war einmal“, sondern eben ein unmittelbarer Einstieg in ein Gespräch oder, wie hier, in ein religiöses Examen.
Tony „schnurrte nun (…) den ganzen Artikel daher“, also ohne tieferes Verständnis dafür. Und ihr Großvater mokiert sich über den Passus, dass Gott „Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Äcker, Vieh und alle Güter“ gegeben habe und fragt als Geschäftsmann seine Enkelin, „wieviel sie für den Sack Weizen nähme, und [erbietet] sich, Geschäfte mit ihr zu machen“. Johann Buddenbrook erweist sich hier als „objektiver Rationalist“ und entspricht damit dem für das Haus Buddenbrook zuständigen Pastor Wunderlich, der für das „Tatchristentum“ steht. Doch der auswendig gelernte Katechismus-Text und der Spott, mit dem der Großvater die Glaubenslehre kommentiert, sind – zusammen mit dem im Dialekt versteckten „Düwel“ oder Teufel – zugleich die ersten Zeichen des Verfalls dieser Familie.
Schon der Eingang zu „Buddenbrooks“ ist also eine Lehrstunde in religiöser Bildung. Wir könnten uns nun auf die komischen Jerusalemabende im Hause Buddenbrook einlassen, mit ihren „ausgedehnten Morgen- und Abendandachten“, oder die Rollen der verschiedenen Pastoren durch die vier Generationen referieren, vom Tatchristentum des Pastor Wunderlich, über die Doppelmoral des Pastor Kölling und der raffgierigen „Reisepastoren“ bis zum eitlen Schauspieler-Pastor Pringsheim. Zuletzt erlebt der kleine Hanno Buddenbrook das Christentum im Religionsunterricht des Oberlehrers Ballerstedt nur noch als perversen preußischen Schuldrill, bei dem sich die „religiöse Unterweisung auf das sture Abhören biblischer Vieh-Statistiken aus dem Buche Hiob“ beschränkt und der Schuldirektor als „der liebe Gott“ Angst und Schrecken verbreitet.
Doch es gibt ja noch die Schlussformel, das „Es ist so“! Am „Schluß des Romans“, wie es im Notizbuch heißt, versammeln sich im leeren Haus „acht Damen (…) schwarz gekleidet“, also in Trauer, und nehmen Abschied. Das Gespräch kommt am Ende auf die vielen Verstorbenen der Familie, und es stellt sich die Frage, oder besser: die Frage aller Fragen: ob man sich im Jenseits wiedersieht. Tony, der das Leben, wie sie immer wieder betont, so arg mitgespielt hat, ist skeptisch, und meint „Wenn es so wäre…“, wieder mit drei Punkten ins Unbestimmte hinein, wie zu Beginn des Romans bei der Frage „Was ist das?“.
Da kommt am Tisch die Lehrerin Therese, genannt Sesemi Weichbrodt „in die Höhe, so hoch sie nur konnte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, reckte den Hals, pochte auf die Platte, und die Haube zitterte auf ihrem Kopfe. ‚Es ist so!‘ sagte sie mit ihrer ganzen Kraft und blickte alle herausfordernd an.“ Ob Eschatologie oder Auferstehung, das ist keine Frage: „Es ist so“ – Sesemi Weichbrodt weiß, dass man sich im Jenseits wiedersieht. „Was ist das?“ – das war die Katechismus-Frage zum ersten Glaubenssatz. Das „Es ist so“ schließt die Klammer des Romans zur Jenseits-Vergewisserung und variiert zugleich das Schlusswort der kathechetischen Erläuterung: „Das ist gewißlich wahr.“
Die drei letzten Worte der Sesemi Weichbrodt sind aber nicht das Schlusswort des Romans. Das lautet: „Sie stand da, eine Siegerin in dem guten Streite, den sie während der Zeit ihres Lebens gegen die Anfechtungen von seiten ihrer Lehrerinnenvernunft geführt hatte, bucklig, winzig und bebend vor Überzeugung, eine kleine, strafende, begeisterte Prophetin“. „Prophetin“ lautet also das letzte Wort des Romans, und damit beginnt bei Thomas Mann ein sonderbarer Prophetenreigen.
II.
Der nächste ‚Prophet‘ im Werk Thomas Manns ist der Held Lobgott Piepsam in der Groteske „Der Weg zum Friedhof“. Der ärgert sich über einen falsch fahrenden Radfahrer und pervertiert in einer apokalyptischen Wutrede das Bild- und Textprogramm des damals neuen Münchner Nordfriedhofs; und so ist es kein Wunder, dass Lobgott, oder besser Schmähgott Piepsam seine Rede nicht überlebt. Ausführlich habe ich die Groteske in dem Buch über Das Rätsel der Sphingen vom Nordfriedhof behandelt.
Auf Lobgott Piebsam folgt im Prophetenreigen Thomas Manns der fanatische Savonarola-Imitator Hieronymus in der Novelle vom Schwert Gottes, „Gladius Dei“. Der regt sich in einer Kunsthandlung am Odeonsplatz über ein (in seinen Augen) gotteslästerliches Madonnenbild auf und wird rausgeschmissen. Ist der Himmel am Anfang dieser Novelle mit den berühmten Eingangsworten „München leuchtete“ noch seidenblau gewesen, so hat er sich am Ende in einen schwefelgelben Gewitterhimmel verwandelt, und Hieronymus sieht darin über der Feldherrnhalle „ein breites Feuerschwert stehen“, das „Gladius Dei“, das diese gottlose Kunst vernichten soll, und „mit einem versteckten und krampfigen Schütteln seiner hinabhängenden Faust“ murmelt er, dass das „cito et velociter“, bald und schnell, geschehen solle!
Die Novelle ist ein Nebenwerk zu Thomas Manns einzigem Theaterstück, „Fiorenza“, das 1492 im Florenz der Medici spielt. Darin ist der echte florentinische Bußprediger Girolamo Savonarola der Gegenspieler des sterbenden Lorenzo de‘ Medici, genannt der Prächtige. Savonarola, heimlich verliebt in Lorenzos Frau, die schöne Fiore, gilt als „Prophet“, und ist, nach seiner eigenen Aussage, zugleich Künstler und Heiliger. Vor allem aber ist Savonarola ein Fanatiker, dessen Predigten sich gegen den Luxus Lorenzos, gegen die Schönheit der Fiore und gegen alles richtet, was nicht seiner Ideologie entspricht. Er endet im Feuer.
Ihm gesellt sich in der Novelle „Beim Propheten“ ein weiterer Fanatiker hinzu. In einer Dachkammer der Schwabinger Destouchesstraße werden „Proklamationen“ eines gewissen Daniel vorgelesen (mit dem der Schwabinger ‚Kosmiker‘ Ludwig Derleth gemeint ist). Der religiöse Fanatismus, der die Welt erobern will und sich als ein „fieberhaftes und gereiztes Ich“ im „Größenwahn“ versteigt, wirkt wie eine Synthese aus Lobgott Piepsam und Hieronymus:
„Es waren Predigten, Gleichnisse, Thesen, Gesetze, Visionen, Prophezeiungen und tagesbefehlartige Aufrufe, die in einem Stilgemisch aus Psalter- und Offenbarungston mit militärisch-strategischen sowie philosophisch-kritischen Fachausdrücken in bunter und unabsehbarer Reihe einander folgten. Ein fieberhaftes und furchtbar gereiztes Ich reckte sich im einsamen Größenwahn hervor und bedrohte die Welt mit einem Schwall von gewaltsamen Worten. Christus imperator maximus war sein Name, und er warb todbereite Truppen zur Unterwerfung des Erdballs (…). ‚Soldaten!’ schloß er, am äußersten Ende seiner Kraft, mit versagender Donnerstimme: ‚Ich überliefere euch zur Plünderung – die Welt!’“
Wieder so ein merkwürdiger religiöser Fanatiker. Hieronymus hatte seinen Vernichtungswunsch in „Gladius Dei“ „mit einem versteckten und krampfigen Schütteln seiner hinabhängenden Faust“ vor sich hingemurmelt, und nun hören wir diese „versagende Donnerstimme“ seines Schwabinger Propheten-Kollegen.
Von den Zuhörern in der Schwabinger Dachkammer äußert sich niemand zu diesen religiösen Verstiegenheiten mit ihrem präfaschistischen Tenor. Das geschieht erst in Thomas Manns Exil-Roman „Doktor Faustus“, wo es zu einer Reprise der Szene „Beim Propheten“ kommt.
In Kapitel 34 „(Fortsetzung)“ diskutiert nach dem Ersten Weltkrieg in München ein Kreis Intellektueller und Künstler die verhängnisvolle politische Strategie aus Gewalt, Diktatur und Verdummung und heißt sie lachend gut. Mit „Daniel Zur Höhe“ taucht dort der einst sowohl lokal in der Schwabinger Dachkammer als auch thematisch ‚verstiegene’ Dichter der Proklamationen, der schon erwähnte Ludwig Derleth, wieder auf.
Diese Wahnwitzsätze werden nun „einem lyrisch-rhetorischen Ausdruck schwelgerischen Terrorismus’“ zugeordnet. Für den Erzähler des Romans, den Gymnasialprofessor Serenus Zeitblom, sind sie ein unverantwortlicher Scherz, „der steilste ästhetische Unfug“, der ihm je vorgekommen sei. Es war lange Zeit unvorstellbar, dass dieser Unfug je ernst genommen und blutige Realität werden könnte. Dabei reicht er als religiös motivierter Terrorismus bis in unsere Tage.
III.
Doch zurück zum Thema, zur religiösen Bildung. Sie steht bei Thomas Mann immer ein wenig in Frage, besonders stark im Roman „Der Zauberberg“ (1924). Zwei Pädagogen, der westliche Humanist Lodovico Settembrini und der östliche Jesuit Leo Naphta, stehen im Wettstreit um die Gunst der Vettern Hans Castorp und Joachim Ziemßen. Lodovico Settembrini vertritt den Humanismus und den sozialen Lebensdienst, Leo Naphta dagegen Inquisition und Krieg, ist für Gehorsam und die Todesstrafe, propagiert den „Gottesstaat“, besser noch – nach der „bürgerlich-kapitalistischen Verrottung“ – den „kommunistischen Gottesstaat“, die „Weltherrschaft des Übernatürlichen“.
Leo Naphtas Thesen „Vom Gottesstaat und von übler Erlösung“, wie der Abschnitt im Sechsten Kapitel des „Zauberberg“ überschrieben ist, gehören heute zum „Tugendkatalog des internationalen Terrorismus“. Das hat der deutsch-amerikanische Germanist Frederick Lubich in einem Beitrag für die FAZ kurz nach dem 11. September 2001 anschaulich belegt. Religion als Voraussetzung oder gar Begründung für Terror und Vernichtungsideologie, die Perversion des Glaubens, der Friedensbotschaft und der Nächstenliebe – das Thema ist heute aktueller denn je und wäre wert, einmal in einer eigenen Tagung diskutiert zu werden.
„Was aber ist denn das Religiöse?“ So fragt Thomas Mann in seinem Beitrag für den Band „Dichterglaube. Stimmen religiösen Erlebens“ (Berlin 1931). Thomas Manns Antwort ist aufschlussreich: „Der Gedanke an den Tod“, das sei das Religiöse. Er sah seinen Vater sterben, er wisse, dass er selbst sterben werde, und dieser Gedanke sei ihm „der vertrauteste“. Der Gedanke stehe hinter allem, was er „denke und schreibe, und die Neigung, alle Dinge in seinem Licht und Zeichen zu sehen“, habe auch zum „Ergebnissatz“ seines letzten Romans „Der Zauberberg“ geführt.
Dieser Satz lautet: „Der Mensch soll um der Liebe und Güte willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“. Was heißt das? Er ist die Synthese aus der romantischen „Sympathie mit dem Tode“ und dem praktischen „Lebensdienst“. Eines ist ohne das andere nicht denkbar, nicht lebbar. Es ist, so Thomas Mann, der „Gegensatz des Religiösen und des Ethischen“, der Welt des Glaubens und der „Welt der Pflichten“ und damit, weiter Thomas Mann, sein „persönlichstes geistiges Erlebnis“.
Das führt auch zu Thomas Manns Definition des „Glaubens“ und auch „Gottes“. Gott, was ist das? Ist es das Weltall im Einstein’schen Sinn? Oder ist es die Herrscherinstanz, der wir unterworfen sind? Wie auch immer, der Mensch „in seiner Zweiheit aus Natur und Geist (…) ist das große Geheimnis, und das religiöse Problem ist das humane Problem, die Frage des Menschen nach sich selbst“.
Alles ein wenig rätselhaft, aber wie sollte das auch anders sein? Am Ende dieser Stellungnahme zum Religiösen meint Thomas Mann, der „Zauberberg“ sei beinahe schon „ein religiöses Buch“. Und kommt zwangsläufig darauf, dass das „Religions- und Mythengeschichtliche“ derzeit den „Gegenstand“ eben desjenigen neuen Romans bilde, an dem er gerade schreibe. Gemeint ist der am Ende, nach 16 Jahren Schreibzeit, vierteilige Roman „Joseph und seine Brüder“, worin die religiöse Bildung der Hauptfigur im zweiten Band, „Der junge Joseph“ (1934) eine große Rolle spielt.
IV.
„Der junge Joseph“ ist 17 Jahre alt, als ihn der alte Eliezer, von dem es heißt, „er gleiche dem Abram von Angesicht“, in „die Wissenschaften“ einführt oder besser: Ihm Gottes Schöpfung bis ins Kleinste nahebringt. Joseph erfährt „im Schatten des Unterweisungsbaumes“, warum Gott den Menschen erst „‘als letztes nach allem Gewächs und Getier‘“ geschaffen habe. „Dann mußte Joseph antworten: ‚Am allerletzten schuf Gott den Menschen erstens, damit niemand sagen könne, er habe mitgewirkt bei den Werken, zum zweiten um des Menschen Demütigung willen, damit er sich sage: ‚Die Schmeißfliege ging mir voran‘, und drittens, damit er sich alsbald zum Mahle setzen könnte, als der Gast, für den alle Vorbereitungen getroffen.‘ / Hierauf erwiderte Eliezer zufrieden: ‚Du sagst es‘, und Joseph lachte.“
Eliezer bringt Joseph die göttliche Weltordnung in den Zahlenverhältnissen bei, zeigt ihm, wo sich „Sein Finger“ zeige, und wie gut es sei, „das Notwendige einzusehen und Gottes Gemütsart dabei zu durchdringen“. Hier schon, also bevor wir Leser im folgenden Zweiten Hauptstück erfahren, „Wie Abraham Gott entdeckt“, zeigt Eliezer auf, wie Gott „dem Menschen olâm ins Herz gegeben, nämlich die Fähigkeit, die Äonen zu denken und sich damit in gewissem Sinne ebenfalls zu ihrem Meister aufzuschwingen“. Joseph schreibt das alles auf, nutzt dafür „die Gottesschrift (…), die Schrift des Gesetzes, der Lehre und der Mären“, erhebt sich dadurch aber, ganz im Sinne seines Vaters und dessen willkürlicher „Erberwählung“, über seine Brüder und sät schon früh hochmütig Zwietracht.
Josephs religiöse Bildung hat mit seiner Auserwähltheit zu tun. Zum einen erscheint es seinem Vater „nützlich und wünschenswert (…), daß der Gesegnete auch ein Studierter sei“, um seinen Brüdern darin voraus zu sein. Der zweite Grund hat direkt mit Josephs Persönlichkeit zu tun, mit seinem Wesen, das zwischen Ekstase und „prophetische(m) Krampf“, mit seiner Neigung zu Träumen und Visionen pathologisch gefährdet ist.
Um Josephs „Seelenheil und religiöse Gesundheit“ zu sichern, um zu vermeiden, dass er einer dieser „Orakellaller“ werde, die als „heilige Narren, Geiferer, Gottbesessene“ durch die Lande ziehen, um „in schäumendem Zustande wahrzusagen“, um Joseph also vor dieser Narrheit zu bewahren, in der „der Gottesverstand in die Brüche ging und geiler Taumel an seine Stelle trat“, lässt Jaakob seinen Sohn „in genaue Zucht“ nehmen. Der Höhepunkt der Unterweisung ist dann erreicht, als Eliezer dem Joseph Abraham vorstellt als den Mann, „der Gott entdeckt hatte“.
Der Abschnitt ist ein Kernstück im Roman „Der junge Joseph“. Die Unterweisung Josephs ist zugleich ein Rückblick in die ältesten Zeiten der Vergangenheit, oder besser, der gegenseitigen Bewusstwerdung von Mensch und Gott in der Zeit des Mythos. Dabei ist das kein linearer Rückblick auf den Ursprung des religiösen Denkens, vielmehr ist die Schilderung „Wie Abraham Gott entdeckte“ derart auf Joseph und sein Welt- und Gottesverständnis ausgerichtet, dass er, Joseph, der Hochmütige, der „Träumer von Träumen“, wie ihn seine Brüder schimpfen, der Bevorzugte und besonders Gebildete, dass er, gerade er, und vielleicht sogar nur er verstehen kann und soll, wie es sich mit dieser Gottesentdeckung verhalten hat. Denn Hochmut und Auserwähltheit – sie waren erstaunlicherweise gegenseitig vorhanden, bei Gott sowohl als auch bei Abraham, der „fast hoffärtig und überhitzt“ sich dieser großen Aufgabe gestellt hatte.
Die „List Gottes“, so der erzählende Eliezer, „die List Gottes“ sei es gewesen, „in Abiram sich zu verherrlichen und sich durch ihn einen Namen zu machen“. Im Gegenzug hatte „Abraham Gott entdeckt aus Drang zum Höchsten, hatte ihn lehrend weiter ausgeformt und hervorgedacht und allen Beteiligten eine große Wohltat damit erwiesen: dem Gotte, sich selbst und denen, deren Seelen er lehrend gewann.“ Abrahams Leistung bestand darin, den Polytheismus zum Monotheismus gewandelt zu haben. Er „hatte die Mächte versammelt zur Macht und sie den Herrn genannt“ und darauf gezielt, dass „immer nur Er, der Letzthöchste, (…) allein des Menschen rechter Gott sein konnte und der unfehlbar war für des Menschen Notschrei und Lobgesang“. Doch das Verhältnis von Gott und Abraham war gegenseitig und existentiell, eines war undenkbar ohne das andere, und vom Kreatürlichen aus gesehen war Abraham sogar „Gottes Vater“. Was hieß das nun wieder?
Es hieß: „Gottes gewaltige Eigenschaften waren zwar etwas sachlich Gegebenes außer Abraham, zugleich aber waren sie auch in ihm und von ihm“. Gott war alles, war Segen und Fluch, war „wohlwollendes Schweigen“, war „nicht das Gute, sondern das Ganze. Und er war heilig! Heilig nicht vor Güte, sondern vor Lebendigkeit und Überlebendigkeit, heilig vor Majestät und Schrecklichkeit, unheimlich, gefährlich und tödlich“ – alles in allem war das die gegenseitige existenzielle Bestimmung: „Gott war da, und Abraham wandelte vor ihm, in der Seele geheiligt durch seine Außennähe.“ Der Abstand schuf Nähe, „denn Abraham war nur ein Mensch, ein Erdenkloß, aber verbunden mit Ihm durch die Erkenntnis und geheiligt durch Gottes erhabenes Du[sein]- und Da-sein“. Das war die Voraussetzung für den Bundesschluss ebenso wie für den Bundesbruch.
Dabei gab es von Gott selbst, so Eliezer weiter, nichts zu „erzählen“; die Erzählung der Genesis, vom ersten Menschenpaar und des Sündenfalls am Baum der Erkenntnis bis zum Weltuntergang am Jüngsten Tag hatten keinen anderen Zweck, als Gott zu preisen, ihn, der alles war, er, „Herr der Vernichtung, Herr des Erstehens“. Was Abraham aber mit diesem Herrn vorhatte als dem „Gott der Zukunft“, und „ob und bis zu welchem Punkte etwa Wesensgleichheit bestehe zwischen diesem Adon und Abrahams Herrn“, das bleibt am Ende als Frage derart offen, dass sich Gott selbst, durch Eliezer, in die Unterweisung einschaltet und als Fazit Abrahams Gotteserkenntnis an ihn salbungsvoll zurückgibt: „Gott aber hatte seine Fingerspitzen geküßt und zum heimlichen Ärger der Engel gerufen: ‚Es ist unglaublich, wie weitgehend dieser Erdenkloß mich erkennt! Fange ich nicht an, mir durch ihn einen Namen zu machen? Wahrhaftig, ich will ihn salben!‘“
Ein Mehr an religiöser Bildung ist nicht möglich, könnte man meinen, in diesem mit viel Hintersinn und einer Prise Humor vorgetragenen Gott-Entdeckungs-Geschichte. Doch es gibt ein Mehr – Joseph setzt das Gottes-Spiel fort mit seinem Bruder Benjamin im Adonis-Hain. Er gibt seine religiöse Bildung an das Brüderchen weiter, und konnotiert darin auch schon das Leben und Sterben sowie die Auferstehung Jesu Christi. Der Mythos lebt, oder, um es mit dem Wort aus diesen Kapiteln zu sagen, „die Sphäre rollt“, das Gottes-Spiel setzt die Gottes-Geschichte fort, es ist alles gesagt, Joseph ist der Bevorzugte, aber nicht der Erwählte, er wird zweimal symbolisch sterben müssen, um zweimal zu neuen, höheren Aufgaben auferstehen zu können. Und es gibt noch ein zweites Mehr, wenn Jaakob der „Sucherin“ Thamar an „einem Wurzelstrange des Unterweisungsbaums“ die religiöse Welt erklärt.
Untergang und Erhöhung, zweifache Hadesfahrt und zweifacher Triumph über den Tod – diese Geschichte der extremen Gegensätze beruht nicht zuletzt auf Lug und Trug, kurzum auf Täuschung. Und so behält sich der Erzähler buchstäblich bis zum letzten Satz vor, Abrahams Gottes-Entdeckung als das zu bezeichnen, was sie nun eben nicht nur für den biblischen Ahnherrn, sondern eben auch für den Erzähler der vier Romane gewesen ist, „die schöne Geschichte und Gotteserfindung von Joseph und seinen Brüdern“. Mit dem letzten Wort reduziert der Erzähler die vier Romane auf das Sprachspiel, das hier gespielt wurde, in aller Genauigkeit und Treue, aber eben doch als Spiel der Worte „Entdeckung“ und „Erfindung“.
V.
Das mythische Erzählen der Joseph-Romane wendet Thomas Mann auch in der Moses-Novelle „Das Gesetz“ an, die als Nachspiel zu den Joseph-Romanen zu verstehen ist. Die Novelle bringt uns die biblische Figur des Moses ebenso realistisch nahe, wie das bei Joseph der Fall war.
Auf ähnliche Weise wird im nächsten Roman die mittelalterliche Figur des „Doktor Faustus“ aus dem Volksbuch von 1600 zu einem modernen Mann, zu dem Komponisten Adrian Leverkühn, der sich auf ebenso fatale Weise dem Teufel verschreibt, wie parallel dazu sein Land, Deutschland, sich dem „Führer“ verschrieben hat und nur wenige Jahre nach ihm, der 1940 stirbt, im Mai 1945 ebenfalls untergeht.
Der Schüler des Jahrgangs 1885 studiert erst Theologie in Halle, wechselt dann zur Musik und wird ein Vorreiter der Neuen Musik der Zwanziger Jahre. Der Roman hat insgesamt 47 Kapitel. Für uns relevant sind die Kapitel 11 bis 15, in denen der Erzähler, Leverkühns Schulfreund, der Pädagoge Serenus Zeitblom, Leverkühns Theologie-Studium in Halle als Beobachter begleitet. Der Stundenplan des Theologie-Studenten mit dem „Schwergewicht“ anfangs „auf den exegetischen und historischen Fächern, also auf Bibelwissenschaft, Kirchen- und Dogmengeschichte, Konfessionskunde“, führt Adrian Leverkühn gleich zur Kritik an der „liberalen Theologie“, die er „ein hölzernes Eisen“ nennt, eine „contradictio in adjecto“, da deren „wissenschaftliche Überlegenheit“ nur verdecke, dass „ihre theologische Position (…) schwach“ sei, „denn ihrem Moralismus und Humanismus mangle die Einsicht in den dämonischen Charakter der menschlichen Existenz“. Was soll das wieder heißen?
Erste Klärung schafft eine Diskussion im Seminar des Privatdozenten Schleppfuß. Die Theologie neige „ihrer Natur nach (…) jederzeit dazu (…), zur Dämonologie zu werden“. Und worauf läuft das hinaus? „Natürlich spielte die dialektische Verbundenheit des Bösen mit dem Heiligen und Guten eine bedeutende Rolle in der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes angesichts des Vorhandenseins des Bösen in der Welt (…). Das Böse trug bei zur Vollkommenheit des Universums (…), darum ließ Gott es zu, denn er war vollkommen und mußte darum das Vollkommene wollen“.
Das Böse ist der springende Punkt – dem Theologiestudenten Leverkühn geht es weitaus weniger um den Gottesbeweis als vielmehr um den Teufelsbeweis, und das Medium dafür wird für ihn die Musik werden. Später wird Leverkühn gestehen, sein „Luthertum“ sehe „in Theologie und Musik benachbarte, nahe verwandte Sphären“, wobei die Musik, nahe den „Alchimisten und Schwarzkünstlern“, immer der Inbegriff gewesen sei der „Abtrünnigkeit, nicht vom Glauben, das war gar nicht möglich, sondern im Glauben; Abtrünnigkeit ist ein Akt des Glaubens, und alles ist und geschieht in Gott, besonders auch der Abfall von ihm“.
Der „Doktor Faustus“ ist somit die direkte Gegenfigur zum Gottsucher, oder besser Gott-Entdecker, wenn nicht gar Gott-Erfinder Abraham! Doch der „Doktor Faustus“ erhält selbst noch einmal eine Gegenfigur in der Hauptfigur von Thomas Manns letztem Roman „Der Erwählte“.
Erzählt der „Doktor Faustus“ von Erhöhung und Sturz, so „Der Erwählte“ von Sünde und Erhöhung! Hier gibt es keine spitzfindigen theologischen Diskussionen mehr, die Rolle der Religion ist klar definiert. Auch hier gibt es einen Erzähler, das ist Clemens der Ire, ein Benediktinermönch, der die Geschichte des Sünder-Papstes Gregorius aufschreibt. Zur Religion hat er, zusammen mit seinem Auftraggeber, eine klare feste Meinung: „Mit unserem Abte Kilian bin ich der wohlgeprüften Ansicht, daß die Religion Jesu und die Pflege antiker Studien Hand in Hand gehen müssen in Bekämpfung der Roheit“.
Bildung dient zur Verteidigung des Christentums. Und die Gnade ist das Äquivalent zur Sünde. Dabei durchwaltet den Roman, von der Sprache bis in die kleinsten Details, ein, wie Thomas Mann 1950 selbst erklärt hat, „religiöse(r) Humor“, der zum Bestandteil der Gnade gehört. Thomas Mann teilt mit: „Zwar würde ich mir nie den Namen eines homo religiosus anmaßen und gebe zu, daß in den Josephgeschichten das Christentum relativiert und ins Welt-Mythische aufgelöst ist. Dennoch fühle ich mich, schon in der Nachfolge Goethes und Nietzsches, durchaus als protestantischer Christ (…). In der späten modernen Nachformung der viel erzählten Gregorius-Legende ist das Thema von Sünde, Buße und Erwählung wieder ganz in verschämten Scherz gehüllt.“
Verschämter Scherz – das ist weitaus mehr als die viel zitierte Ironie Thomas Manns. Angesprochen wird vielmehr ein Grundzug der Humanität, der heimliche Humor, mit dem alles, was die religiöse Bildung im Erzählwerk Thomas Manns betrifft, besehen und bedacht werden sollte.
Daher überrascht es auch nicht, auch zu diesem Thema direkte oder indirekte Beziehungen im Werk Thomas Manns finden zu können. Ein gutes Beispiel dafür ist das Ende des „Erwählten“. Es ist ein doppeltes Ende. Zunächst läuft das Leben der Figuren aus, die sündigen Hauptfiguren erreichen ein hohes Alter, Sibylla stirbt mit achtzig Jahren, Gregorius, ihr „Brudersohn, der Papst“, wird neunzig – ihre Kinder und Kindeskinder leben fröhlich weiter: „Wie lange aber, so gilbten auch sie, wie das Laub eines Sommers, und düngten den Boden, darauf neue Sterbliche grünten und gilbten. Die Welt ist endlich und ewig nur in Gottes Ruhm.“ Das ist das eine Ende.
Das andere ist im vorletzten Absatz der Dank des Erzählers Clemens an die Leser für ihre „Aufmerksamkeit“. Man möge aus der Geschichte keine „falsche Moral“ ziehen und es dem Frevler vielleicht sogar nachmachen wollen. Eine Buße wie die, „siebzehn Jahre auf einem Steine“ hinzuzubringen und danach „die Siechen mehr als zwanzig Jahre lang“ zu baden, sei kein „Spaß“. Aber „klug“ sei es, „im Sünder den Erwählten zu ahnen“, und klug sei das „auch für den Sünder selbst. “ Und im letzten Absatz bittet der Erzähler zum „Lohn für Warnung und Rat“ seine Leser noch um eine „Gefälligkeit“, sie mögen ihn „einschließen“ in ihr „Gebet“, auf „daß wir alle uns einst mit ihnen, von denen ich sagte, im Paradiese wiedersehen“.
Der Wunsch, man möge sich einander „im Paradiese wiedersehen“, steht, wie die kommentierte Ausgabe des „Erwählten“ feststellt, „in genauer Gegensatzanalogie zum Schlussgebet“ des Erzählers Serenus Zeitblom am Ende des „Doktor Faustus“: „‘Gott sei euerer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland.‘“ Übersehen wird dabei allerdings, dass Clemens‘ Wunsch in einer echten Analogie noch viel weiter zurückreicht.
So ewig Gottes Ruhm ist, so gewiss ist für Clemens die Jenseitsgewissheit. Und die kennen wir doch schon aus dem energischen Auftritt der Lehrerin Sesemi Weichbrodt als „kleine, strafende Prophetin“ am Ende von „Buddenbrooks“ mit ihrem „Es ist so!“.
Unser Fazit könnte somit lauten: In „Buddenbrooks“ spiegelt das Verhältnis zur Religion zwischen „Was ist das“ und „Es ist so“ den „Verfall einer Familie“. Die Propheten im Werk Thomas Manns, von Sesemi Weichbrodt über Lobgott Piepsam, Savonarola bis Daniel zur Höhe sind als Vorläufer religiöser Fanatiker unserer Tage anzusehen, erst recht angesichts der Thesen Leo Naphtas im „Zauberberg“. Gustav von Aschenbachs Schutzpatron, der Heilige Sebastian, lässt sich im „Tod in Venedig“, wie auch in der Figur des Hundes „Bauschan“ erkennen. Eine Summe all dieser Aspekte bildet die Mythos-Diskussion in den „Joseph“-Romanen, mit einem Gottes-Beweis, der alle Transzendenz in den Menschen selbst verlegt: Die Gottes-Findung ist nichts anderes als die Gottes-Erfindung. Am Ende bilden der Teufelspakt im „Doktor Faustus“ und der Sündenfall des „Erwählten“ die Gegensätze in der Frage, wie es um die Gnade bestellt sein kann.