Was ist der „Westen“?

Auch eine Diskussion zum "Abendland"

Im Rahmen der Veranstaltung "Was ist der Westen?", 23.10.2017

Florian Schuller: Professor Bavaj, Sie wurden in der alten Krönungsstadt der Kaiser geboren, in Aachen, und sind jetzt Professor für Neuere Geschichte an der University of St. Andrews in Schottland. Ist „Europe“ auch in Schottland nur der Kontinent, oder hat sich da etwas geändert?

 

Riccardo Bavaj: Ja, ich bin in der glücklichen Lage, in Schottland zu lehren und nicht in England, geschweige denn in diversen Hochburgen des Brexit und der Leave Campaigns. Insofern habe ich es ganz gut. Auf der anderen Seite, wenn ich eine Anekdote erzählen darf: Auch in St. Andrews gibt es ein Forschungsseminar, das habe ich, als ich anfing, zwei Jahre lang organisiert. Ich hatte den wahrscheinlich etwas unglücklichen Einfall, es thematisch einzugrenzen auf „modern Europe“. Dann bekam ich von Kollegen, Spezialisten für britische Geschichte, eine böse E-Mail, was mir denn einfiele, würde man jetzt nur noch über Deutschland und Frankreich und Italien diskutieren, aber nicht mehr über britische Geschichte. Dieser Gedanke war mir erst einmal fremd, weil ich Großbritannien intuitiv immer zu Europa gezählt hatte.

Insofern gibt es trotz eines starken Votums für „Remain“ auch in Schottland ein insulares Sonderbewusstsein, so dass man immer von „Großbritannien und Europa“ spricht, wobei das „und“ nicht unbedingt eine Brücke bedeutet, sondern teilweise den „Channel“, also die Trennung.

 

Florian Schuller: Prof. Karlheinz Ruhstorfer. Sie sind ein Urbayer, wurden promoviert mit einer Arbeit über Ignatius von Loyola und haben sich habilitiert über das Thema der Konversionen. Jetzt sind Sie im Nebenjob Vorsitzender der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie. Eine Konversion fordert ja immer einerseits starke Charaktere und braucht andererseits so etwas wie Bekehrungserlebnisse. Hatten Sie in Ihrer Lebensgeschichte auch ein europäisches Bekehrungserlebnis?

 

Karlheinz Ruhstorfer: Ja, das war eine Art Fremdheitserfahrung. Ich habe bis vor zwei Monaten in Dresden gelebt. Wir sind 2013 dorthin gekommen, und ein Jahr später zogen plötzlich 20.000 erregte Bürgerinnen und Bürger durch die Stadt und wollten das Abendland verteidigen. Das war für mich ein Auslöser, auf das Thema Europa zu sprechen zu kommen und mich zu fragen, was es denn mit diesem vielleicht sogar auch theologischen Begriff des Abendlands auf sich hat.

 

Florian Schuller: Professor Schildt, Sie wurden promoviert mit einer Arbeit über das Ende der Weimarer Republik, haben sich habilitiert über die 1950er Jahre in der Bundesrepublik und sind jetzt Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Was Sie anscheinend vor allem interessiert, sind Umbruchzeiten: Weimarer Zeit, Ende Drittes Reich und die1950er Jahre. Was bricht für Sie im Moment um, welche Umbruchszeit für Europa steht gerade an?

 

Axel Schildt: Das ist eine schwierige Frage, speziell für Historiker, wir sind ja eigentlich eher immer rückwärtsgewandte Prognostiker …

 

Florian Schuller: … und für Sie als Mensch?

 

Axel Schildt: … Für mich als politischer Mensch sind die Gefühle sehr ambivalent. Einerseits habe ich starke negative Gefühle, weil vieles von dem, was wir noch vor zehn oder 15 Jahren für selbstverständlich gehalten hatten, im Augenblick erodiert, und das betrifft natürlich den positiven, emphatischen Bezug auf Europa als Möglichkeit einer demokratischen und übernationalen Ordnung, die über Jahrzehnte aufgebaut wurde. Ich hege dennoch die Hoffnung, dass eben die Länge dieses Weges nach dem Zweiten Weltkrieg einige Potentiale bereit hält, um damit besser umzugehen als mit den Anfechtungen nach dem Ersten Weltkrieg, als es diese lange Zeit demokratischer Entwicklung nicht gegeben hatte.

Die drei Begriffe, um die es also geht – Westen, Abendland und Europa – will ich zunächst nur ganz kurz umschreiben, um dann in einem zweiten Schritt die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg etwas genauer anzusehen.

Zunächst: Der Westen ist natürlich in unserem „mental mapping“ nicht strikt ein geographischer Raum, aber doch verbunden mit geographischen Vorstellungen, und zugleich mit der Vorstellung von Werten. Lange Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er verbunden mit der europäischen Aufklärung und dem amerikanischen Liberalismus, sozusagen weltlichen Werten. Abgekürzt, der Westen ist eigentlich das Abendland ohne Religion.

Denn das Abendland kann man sich gar nicht vorstellen ohne religiösen Hintergrund. Das war eigentlich immer allen klar, und deswegen ist auch die Pegida-Geschichte so absurd. Aber dieses Abendland ist wiederum natürlich geographisch verbunden mit Kerneuropa. Da kann zum Teil der Ärmelkanal breiter sein als der Atlantik, aber zumindest am Anfang hieß das auch ohne USA.

Und das dritte: Europa meinte im Kern immer Westeuropa, mindestens bis 1990. Es bedeutete auch immer die Abgrenzung von Russland, eine kulturelle Grenze, die sich durch Mittelosteuropa zieht. Etwas ganz anderes ist der geographische Begriff „Europa bis zum Ural“.

In einem zweiten Schritt will ich anhand der Zeitgeschichte diese drei Begriffe noch etwas konkretisieren. „Abendland“ steht nach dem Zweiten Weltkrieg für Rechristianisierung, eine abendländische Gedankenwelt, die kommen müsste, nachdem der Nationalsozialismus als Kumulation der Abkehr der Menschen von der Religion, des gesamten Säkularisierungsprozesses der Moderne verstanden wurde. „Rechristianisierung“ wurde also ein Kampfbegriff gegen die seelenlose Weltlichkeit sowohl aus Detroit wie aus Moskau. Allerdings hatten auch die Nationalsozialisten die Abendlandbegrifflichkeit weidlich benutzt: Hitler zum Beispiel in seinem Tagesbefehl nach der Niederlage bei Stalingrad, wo er sagt, die Sechste Armee habe das Abendland bis zur letzten Patrone verteidigt; dann hat der Begriff „Abendland“ während der Jahre 1943 bis 1945 die SS-Propaganda grundiert. Das wiederum erklärt, warum nach 1945 der Abendlandbegriff in der Bevölkerung so unglaublich populär war. Aber natürlich hat er auch andere Wurzeln.

Dazu gehörte die Vorstellung einer supranationalen, katholisch geprägten Gemeinschaft christlicher Völker. Dazu zählten Deutschland, also Westdeutschland, Frankreich, Italien, aber auch die Staaten der iberischen Halbinsel, obwohl sie Diktaturen waren, weil sie eben vorgemacht hatten, wie man den bolschewistischen Feind besiegen kann. Das ist die Ideologie noch der 1950er Jahre, und Konrad Adenauer hat immer ungefähr diesen Raum gesehen, wenn er vom Abendland gesprochen hat. Für ihn ging es um die Werte der abendländischen Gemeinschaft, und die USA waren die Beschützer dieser Werte, gehörten aber selbst nicht dazu. Das wiederum hat interessanterweise dazu geführt, dass sich viele durchaus vom Nationalismus abwenden konnten; denn diese Abendland-Ideologie ist supranational und gegen den Nationalismus gerichtet. Sie hat es Teilen des deutschen Bildungsbürgertums, die erzkonservativ waren, ermöglicht, diesen Weg mitzugehen. Und dann ist etwas völlig anderes entstanden; Adenauer hätte sich im Grabe herumgedreht, wenn er es gesehen hätte.

Zugleich gab es eine am Anfang noch minoritäre Fraktion, die statt „Abendland“ eher „Westen“ sagten. Natürlich sind das idealtypische Unterscheidungen; die gehen zum Teil durchaus bei den Zeitgenossen durcheinander. Aber die „Westler“ wollten kein Abendland, sondern eine moderne Gesellschaft, liberal, demokratisch usw., und haben sehr stark in Richtung der USA geblickt.

Mit meinen Forschungen hatte ich angefangen in den 1980er Jahren. Damals kannte kein Mensch den Begriff „Abendland“. Ich wollte natürlich an die Quellen heran und habe zum Beispiel mit dem Diözesanarchiv in Eichstätt korrespondiert. Ich war denen wohl unheimlich; die haben mir auf Briefe nicht geantwortet. Ich bin dann selber hingefahren, und als sie gesehen hatten, dass da nicht der Teufel aus dem Norden kommt, waren sie sehr freundlich zu mir. Es war sicher das Misstrauen darüber, dass ein Mensch aus Hamburg sich für das Abendland interessiert.

 

Karlheinz Ruhstorfer: Der Theologe ist immer zuständig fürs Große und Ganze und hat ein langes Gedächtnis. Deshalb möchte ich zurückgehen auf eine erste Verwendung der Terminologie „Westen“, die auch verquickt ist mit der Terminologie „Europa“. Und zwar taucht im Griechenland der Perserkriege zum ersten Mal das Bewusstsein auf, dass man zwei Sphären unterscheiden muss, den Osten, wo die Sonne aufgeht, und den Westen, wo sie untergeht. In Griechenland identifiziert man sich mit dem Westen. Der wird damals schon mit bestimmten Werten aufgeladen, nämlich mit dem Wert der Freiheit, abgegrenzt zur orientalischen Despotie.

Verstehen Sie mich nicht falsch; nicht, dass ich glaube, die im Osten waren böse, und die im Westen gut, die Griechen irgendwie in unserem Sinn Demokraten. Das war das ideologische Selbstverständnis der Griechen, das schon relativ schnell gekoppelt wurde mit einem Erdteilbegriff. Es gab Afrika, Asien und eben Europa.

Es gibt eine zweite Quelle: den Kirchenvater Augustinus. In seinen „Confessiones“ ist der neue Begriff des Westens gekoppelt an die lateinische Hälfte des Römischen Reichs. Hier tritt das Individuum in neuer Weise hervor, wie es bis dato kaum der Fall war, dass nämlich jemand über sich in dieser Weise ausführlich schreibt. Es ist etwas Zweites daran gekoppelt, die Geschichtlichkeit, die bei Augustinus in „De civitate Dei“ eine ganz große Rolle spielt. Und noch etwas. Bei Augustinus gibt es auch schon – jetzt kommen wir ins theologische „hardcore“-Geschäft, in die Trinitätslehre – die Vorstellung, dass der Heilige Geist vom Vater und vom Sohn ausgeht. Das wird dann der Knackpunkt, an dem die Einheit der Christenheit zwischen Ost und West, zwischen Orthodoxie und der lateinisch-katholischen, der römischen Hälfte, im Hochmittelalter zerbrechen wird.

Kurz nach Augustinus geschieht in der lateinischen Reichshälfte eine Trennung zwischen der religiösen bzw. der kirchlichen und der politischen Sphäre. Jetzt gibt es einen signifikanten historischen Unterschied zwischen Ost und West, weil nämlich der westliche Teil des Römischen Reichs politisch untergeht. Der Staat geht unter, und die Kirche übernimmt manche von dessen Funktionen. Im Osten bleibt die Kirche weitgehend abhängig vom Kaisertum bis zum Untergang des Byzantinischen Reichs. Bestimmte Strukturmomente haben sich erhalten, die in gewisser Weise in Russland auch heute noch das Verhältnis von Staat und Kirche bestimmen, das eben ein anderes ist als das im Westen, wie es sich dann vor allem im Hochmittelalter ausdifferenziert.

Das ist jetzt sehr allgemein gesprochen und man müsste noch viel feiner unterscheiden und kritischer beleuchten, als ich das jetzt kann. Aber es sei trotzdem gesagt, dass die Zwei-Schwerter-Lehre, die Trennung zwischen Kaiser und Papst, etwas ist, das sich im Hochmittelalter deutlich ausbildet, auch wenn der Papst versucht, den Kaiser zu unterwerfen und vice versa. Diese Versuche scheitern immer. Es bildet sich relativ schnell eine Zwei-Reiche- oder Zwei-Zuständigkeiten-Lehre aus, die dann für die weitere Zeit konstitutiv wird.

Und etwas Weiteres ist sehr wichtig. Im Spätmittelalter entsteht die Neuzeit: in Erfurt bei Meister Eckhart und darüber hinaus bei Johannes Duns Scotus oder Wilhelm von Ockham, also bei deutschen und englischen Theologen. Es entsteht das Bewusstsein, dass Gott sich durch Freiheit auszeichnet – das ist die „via moderna“ bei Occam -, und dass der Mensch das Göttliche in sich trägt – das ist die mystische Schiene.

Diese beiden Schienen sind wichtig für das Verständnis der Reformation. Bei Martin Luther kommen sie zusammen, und es zerbricht die alte Selbstverständlichkeit, dass die Sphären der Vernunft und der Natur der Gnade untergeordnet sind. Es emanzipieren sich die Sphären der Natur und des Poetischen; das Individuum tritt hervor und steht in Unmittelbarkeit zu Gott – ein Prinzip, das die weitere Geschichte bestimmt. Hegel wird einmal sagen, dass die Reformation eine Voraussetzung für die Revolution sei. Jedenfalls entsteht eine Geschichte, und zu der muss man noch eine Ausprägung der Reformation dazu nehmen, nämlich den Calvinismus.

Denn der Calvinismus – das kann man bei Max Weber und Ernst Troeltsch nachlesen – ist diejenige Form des Christentums, in der sich die neuzeitliche Demokratie ausbildet. Das heißt, die Demokratie, wie wir sie verstehen, geht weniger auf die Griechen zurück; bei den entsprechenden Theoretikern taucht sie zwar schon auf, aber erst im Calvinismus entsteht das Bewusstsein, dass das Individuum und die Ansammlung der Individuen die eigentliche Quelle der Autorität und der Souveränität sind. Das führt dann in England zuerst einmal zu einer Krise zwischen der Amtskirche und den Dissidenten. Diese gehen dann nach Amerika und gründen das erste neuzeitlich-demokratische Gemeinwesen, das für die weitere Geschichte des Westens fundamental wird. In England kommt es zu entsprechenden Sonderregeln und damit zu einer entsprechenden eigenen Ausprägung.

Zusammenfassend würde ich den Westen jene Sphäre nennen, die auf dem Boden der lateinischen Christenheit gewachsen ist und die beiden neuzeitlichen Konfessionen, den Katholizismus und die verschiedenen Formen des Protestantismus, umfasst.

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Riccardo Bavaj: Mein Zugang zum Thema ist ein begriffsgeschichtlicher, und ich möchte zwei Aspekte herausgreifen: Erstens die Mehrdimensionalität des Begriffs des „Westens“ und zweitens seine Funktion; denn es gab durchaus Phasen intensiverer Diskussion über den Westen und solche, in denen weniger davon die Rede war. Das liegt mit Sicherheit auch an der spezifischen Nützlichkeit des Begriffs. Die Frage ist also die nach den Erfolgsbedingungen einer Idee.

Zum Aspekt der Mehrdimensionalität des Begriffs vom Westen würde ich gerne zwei Dimensionen herausgreifen. Beide sind interessanterweise eben schon angeklungen und stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Die erste Dimension ist die einer universalistisch gedachten offenen Entwicklungskategorie, häufig normativ definiert anhand eines Clusters aus Menschenrechten, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und einem parlamentarischem Regierungssystem. Dieses Ideen-Cluster wird in der Regel historisch verortet in den sogenannten atlantischen Revolutionen Ende des 18. Jahrhunderts von 1776 und 1789. Daneben allerdings funktioniert diese offene Entwicklungskategorie des Westens auch auf Ebenen des technischen Fortschritts sowie der wirtschaftlichen Entwicklung kapitalistischer Art, allerdings auch auf der Ebene des soziokulturellen Wandels – so zum Beispiel, wenn etwa von westlichem Lebensstil oder westlicher Lebensweise die Rede ist.

Entscheidend ist die Annahme, dass im Prinzip jede Region der Erde sich solche politischen Werte oder kulturellen Normen oder kapitalistischen Wirtschaftsweisen aneignen kann, und zwar durch einen Prozess, der üblicherweise als Westernisierung oder Verwestlichung bezeichnet wird – teilweise auch allgemeiner gewendet als Modernisierung. Der Westen wird hier also gedacht als universalisierbare Kategorie.

Die zweite Dimension steht dem entgegen, steht allerdings auch in einem korrespondierenden Verhältnis dazu. Das ist ein räumlich deutlich begrenzter Begriff; man kann auch von einem Container-Raumbegriff sprechen, einem statischen, starren Begriff, der es einem erlaubt, relativ klare geographische Trennlinien zu ziehen. Warum ist dieses Container-Raumkonzept statisch? Weil es sich an Kategorien orientiert, die weit weniger universalisierbar und stattdessen häufig religionsgeschichtlich fundiert sind.

Es gibt hier unterschiedliche Arten und Formen der geographischen Grenzziehung. Ich möchte eine herausgreifen, wobei ich darüber gar nicht so viele Worte verlieren muss, weil Herr Ruhstorfer das schon angesprochen hat. Es ist die Vorstellung eines historischen Westens, des Okzidents, auch Abendland genannt, als der Teil Europas, der vom lateinischen Christentum geprägt ist und dort endet, wo die Dominanz byzantinisch-orthodoxer Prägung beginnt. Wenn man sich die heutige Landkarte vor Augen führt, würde ein solcher Okzident ostmitteleuropäische Staaten wie Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn dazuzählen, aber gleichzeitig orthodox geprägte Staaten wie Rumänien, Bulgarien, Griechenland und vor allem natürlich, das klang bei Herrn Schildt schon an, Russland ausschließen.

Das leitet über zu meinem zweiten Aspekt: die Funktion des Begriffs vom Westen. Der Westen ist nicht nur eine Chiffre für politische Werte, kulturelle Normen und religionsgeschichtliche Vorstellungen, sondern immer auch ein effektives rhetorisches Mittel zur politischen Mobilisierung und Formierung nationaler Identitäten. Das hat damit zu tun, dass der Westen ein Raumbegriff ist. Raumbegriffe wie Westen, Okzident oder Abendland funktionieren auf ähnliche Weise; sie schaffen Orientierung durch räumliche Homogenisierung. Sie reduzieren allein durch ihre Rede Komplexität, und diese Komplexitätsreduktion lässt die innere Heterogenität, die ja unbestreitbar im Westen oder im Abendland da ist, verblassen. Dadurch erlaubt er es, Identität und Orientierung zu schaffen. Diese Funktion erklärt auch, warum ein solcher Begriff vor allem dann en vogue ist, wenn Debatten geführt werden zur politischen Selbstverortung oder zur nationalen Selbstversicherung, die häufig auch über Selbstverortungen auf mentalen Landkarten funktionieren. Herr Schildt hat ja das „mental mapping“ bzw. die Selbstverortungen, die über mentale Landkarten funktionieren, bereits angesprochen.

Dadurch wächst dem Begriff des Westens eine spezifische Leistungsfähigkeit zu – insbesondere dann, wenn man sich inneren oder äußeren Bedrohungen ausgesetzt fühlt. Solche Bedrohungen werden vor allem in internationalen Krisensituationen, Konflikten oder Kriegen gefühlt. Wenn man sich die Begriffsgeschichte des Westens der vergangenen 200 Jahre anschaut, wird klar, warum er etwa zur Zeit des Krimkrieges 1853 bis 1856 oder besonders im Ersten Weltkrieg mit der Unterscheidung zwischen deutscher Kultur und westlicher Zivilisation virulent wird. Er taucht dann im Kalten Krieg, aber auch in jüngerer Zeit vermehrt auf: etwa dann, als die Krim 2014 durch Russland annektiert wurde oder während der Ukraine-Krise, die noch nicht vorbei ist. Solche internationalen Konfliktsituationen, die im Übrigen auch dazu führten, dass aus G 8 wieder G 7 wurde, lassen eine Ost-West-Logik aufleben, die zur Zeit des Kalten Krieges herrschte, aber historisch deutlich weiter zurückreichende Wurzeln hat, nämlich bis ins 19. Jahrhundert.

Bei Herrn Schildt klang schon an, dass das zentrale Antonym, also der zentrale Gegenbegriff zum Westen, häufig Russland war. Das muss nicht immer das zentrale Antonym sein; ich habe schon den Ersten Weltkrieg genannt. Seit dem 11. September 2001 ist ganz zentral der militante Islam oder Islamismus als asymmetrischer Gegenbegriff, wie das der Begriffshistoriker Reinhart Koselleck mal beschrieben hat, als „counterpart“ zum Westen hinzugetreten. Die Ironie ist, dass durch solche Gegenbegriffe die Erfolgsbedingungen für den Begriff des Westens erst geschaffen werden.

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Florian Schuller: Professor Bavaj, wenn ich Sie vorhin recht verstanden habe, hatten Sie als These formuliert, der Begriff „Westen“ verfüge über zwei Inhalte, die nichts miteinander zu tun hätten. Entweder universalisierbare Modernisierung, die in Ouagadougou genauso möglich wäre wie in Neuseeland, oder eben klar räumlich oder geographisch verstanden. Da kann man dann überlegen: früher hat etwa Nordafrika zum Römischen Reich gehört; oder eben die theodosianische Reichsteilung, die sich ja immer noch durch Europa zieht. Kann wirklich der Westen oder Europa so allgemein für Modernisierung stehen, oder haben nicht doch räumliche Grenzen auch eine gewisse Berechtigung?

 

Axel Schildt: Ich war für beide Beiträge sehr dankbar. Natürlich ist es richtig, dass es sehr viel längere Traditionen gibt. Ich habe als Zeithistoriker eher den Drang, rasch aufs 20. Jahrhundert zu kommen, aber das Oströmische Schisma und was dann an Entwicklungen folgte, spielt heute tatsächlich immer noch eine Rolle. Das zweite: Diese Begriffe haben zweifellos auch geographische Konnotationen, sind nicht einfach in einem Hirn für irgendwelche Chiffren von Werten entstanden, aber damit historisch eng verknüpft. Insofern ist der Beitrag von Herrn Bavaj wichtig gewesen, um begriffliche Konjunkturen zu verstehen. Wir müssen ja verstehen, warum über Jahrzehnte einer dieser Begriffe überhaupt gar nicht auftaucht oder warum vor 50 Jahren eine Diskussion überhaupt nicht hätte stattfinden können, wo nicht auch noch der Begriff des Reichs genannt worden wäre als weiterer komplementärer Begriff. Also, wir haben diese drei Begriffe: Westen, Abendland und Europa, und mit denen will man etwas ausdrücken; sonst bräuchte man sie ja nicht zu unterscheiden.

Wenn ich wieder zu den letzten Jahrzehnten zurückkehren darf: Ich habe nur versucht zu sagen, dass es zwei Vorstellungen – auch generationell und von anderen Faktoren bestimmt – gab, die einerseits das Abendland und andererseits den Westen betont haben. Heute spielt diese Unterscheidung keine wesentliche Rolle mehr, weil ich nicht sehe, dass das Abendland tatsächlich eine Revitalisierung seiner Bedeutung bekäme, wie es sie vor 50 oder 60 Jahren gehabt hat. Die Bezugnahme auf das Abendland als Gegenbegriff gegen islamistische Überfremdung halte ich für ein völlig neues Phänomen, das wir unter anderen Auspizien zu befragen hätten. Da taugen die alten Gegensätze nicht mehr viel.

 

Florian Schuller: Räumliches Verständnis hat natürlich auch etwas mit Geschichte zu tun; denn im Raum, den ich definiere, ist etwas passiert und passiert jetzt etwas.

 

Axel Schildt: Noch einmal: Es hat früher eine sehr feste Vorstellung von dem gegeben, was passiert war. Ich möchte nur ein Beispiel nennen, das jedem Bildungsbürger bekannt ist, nämlich Ernst Jünger. Ernst Jünger, „Der Gordische Knoten“, 1953 mit großem Erfolg veröffentlicht, hatte nur den einen Gedanken, das, was alle sagten, als Gegensatz festzustellen, nämlich die westliche individuelle Willensfreiheit gegen die östliche schicksalhafte zwangskollektive Existenz, und zu erklären, es habe seit tausend Jahren zwischen beiden einen Krieg gegeben. Und den könnten wir eben nur durch eine Weltregierung beenden, die dann die Amerikaner übernehmen sollen. Das war der Gedanke 1953 – wahnsinnige Popularität. Ich weiß nicht, ob deshalb später Herr Kohl dort hingepilgert ist.

 

Florian Schuller: 1953 wäre noch ein bisschen früh gewesen für Helmut Kohl.

 

Karlheinz Ruhstorfer: Nachdem viel über die lokale, äußere und räumliche Unterscheidung gesprochen wurde und welche Rolle sie für bestimmte Identitätsbildungen gerade in Krisensituationen spielte, will ich doch nochmal die inhaltliche Seite betonen. Hier sehe ich mehrere Brüche, bin aber gleichzeitig sensibel dafür, dass die immer gekoppelt sind an eine konkrete Trägerschaft.

Das erste: In der Aufklärung und der Folgezeit wird – um 1800 herum – etwas entdeckt, das zunächst gar nicht an einen bestimmten Kulturraum wie Europa gebunden ist: die Menschheit. Der Gedanke wird dann auch christologisch oder pneumatologisch durchdekliniert und ist häufig noch gekoppelt an verschiedene Formen des Christentums, so wie etwa in Amerika; in Frankreich allerdings nicht, was sicherlich mit der Form des Katholizismus dort zusammenhängt.

Mit dieser Thematik engstens verbunden ist die Frage nach der Universalisierbarkeit bestimmter Ideen, nämlich der Freiheit, der Gleichheit, der Rationalität und damit der Funktion von Menschenrechten, die unveräußerlich und universal jedem Menschen – gleich welcher Religion, gleich welcher Kultur – gegeben sind.

In der Folgezeit gibt es einen Riesenbruch, der auch nur in der europäisch-abendländischen Kultur vorkommt, nämlich die radikale Säkularisierung bzw. die Entdeckung der „gottlosen“ Welt, so dass also die religiöse Dimension völlig eingeklammert wird. Ich nenne nur eine Idee, die dann exportiert wird, nämlich den Marxismus. Dieser ist auch ein Produkt dieser europäisch-abendländisch-westlichen Geschichte, das dann etwa in China oder Russland Weltgeschichte macht, auch wenn es im Kalten Krieg dem Osten zugeschlagen wird. Es entstehen also Ideen, die per Definition nicht mehr gebunden sind an irgendwelche regionalen Basen und damit vom Anspruch her also wirklich universal sind.

Dieser anthropologische und damit nicht mehr theologische Universalismus, wie wir ihn etwa im Marxismus haben und wie er dann die Kämpfe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägt, wird nach 1945 seinerseits problematisiert. Und nun passiert etwas in Europa bzw. im Abendland – vor allem in Frankreich, aber auch den USA,  jedoch weniger in Deutschland -, dass sich diese abendländische aufgeklärte Rationalität selber zum Problem wird. Stichwort Postmoderne: Sie zeichnet sich dadurch aus, dass das Adere nun plötzlich als der Ort des Heiligen erscheint. Das heißt: Nun ist dasjenige, was geschützt werden muss, gerade das andere oder das Verdrängte, das Heterogene oder eben das, was in der klassischen Moderne erst einmal kolonisiert worden war. Wir befinden uns jetzt in der Phase der Dekolonisierung, in der sich Europa bewusst wird, dass es mit seinen universalen Werten in England oder in Frankreich zugleich die eigenen kolonialen Interessen vertreten hat. Fontane hat einmal bezüglich der Engländer im „Stechlin“ gesagt: „Sie sagen Christus und meinen Kattun“. Die reine Idealität war nie ganz rein, sondern immer auch an Wirtschafts- und weltmachtpolitische Interessen gekoppelt. Das wird nun thematisiert.

Zugleich wird in die Krise geführt, was für unseren Kontext höchst bedeutsam ist, nämlich die Frage, ob es überhaupt universalisierbare Rechte bzw. so etwas wie Menschenrechte gibt oder ob das nicht doch ein europäisches bzw. ein abendländisches Problem oder besser: ein kolonialistisches Exportprodukt bleibt. Das ist die Problemlage, vor der wir heute stehen.

 

Florian Schuller: Die Hochschätzung des Anderen als des eigentlich zu Schützenden kann natürlich auch ein Indiz dafür sein, dass man nicht weiß, was man selber hat, und was selber zu schützen wäre.

 

Riccardo Bavaj: Zur Klarstellung zwischen den beiden Konzepten universalistisch gedachter Begriff und räumlich begrenzter Container-Raumbegriff: Mit „Spannungsverhältnis“ hatte ich nicht gemeint, dass sie sich per se gegenseitig ausschließen; aber es kommt ganz darauf an, wie man den Begriff des historischen Westens, also Okzidents oder Abendlandes, ideologisch auflädt und politisch füllt. Wenn man das macht, wie das beispielsweise Heinrich August Winkler in der Tradition von Eugen Rosenstock-Huessy und Otto Hintze tut, dann ist das eine sehr liberale Auslegung des Mittelalters, wo dann in der Tat der Parlamentarismus schon angelegt ist durch die Teilung zwischen weltlicher und geistlicher bzw. zwischen fürstlicher und ständischer Gewalt …

 

Florian Schuller: … mit der Magna Charta 1215 …

 

Riccardo Bavaj: … genau da fängt es schon an. Man könnte das dann weiter ziehen mit „Habeas Corpus“ und „Bill of Rights“ usw. und könnte damit versuchen, eine Genese des modernen Parlamentarismus und der Gewaltenteilung zu entwickeln. Nun hat Herr Schildt ja bereits das Gegenkonzept des christlichen Abendlandes angesprochen. Wenn man damit an das Mittelalter herangeht, fällt es deutlich schwerer, eine solche Genealogie zu konstruieren, und dann kommt man in der Tat zu einer Gegenüberstellung dichotomischer Natur: entweder ist man Abendländer oder Westler – es gibt kein Drittes dazwischen.

Ein Kommentar zur Postmoderne: Diese führt uns zur Problematik bestimmter Begriffskonjunkturen des Westens. Es ist schon interessant, dass im Kielwasser von Jean-François Lyotards Deklaration von 1979, die großen Erzählungen seien beendet, dass dort der Gedanke des Mythos im Sinne einer legitimitätsstiftenden, erhebenden großen Erzählung des Westens starke Kratzer erfahren hat, gepaart durch eine – Herr Ruhstorfer hat es schon gesagt – postkoloniale Kritik. Die Besonderheit der deutschen Diskussion: Nach der Wiedervereinigung hatten manche Historiker, die von der Sonderweg-Thematik her kamen, gesagt, dass Deutschland jetzt zur Gänze im Westen angekommen sei. Allerdings war zur gleichen Zeit der Westen in Frage gestellt worden als erkenntnistheoretisches Konstrukt, als kulturelle Norm und als politisches Gebilde, so dass andere Kollegen der Zunft fragten – sowohl in Deutschland als auch jenseits -, wo man denn nun eigentlich sei, wenn man „im Westen“ angekommen war. Das war die spezifische Situation, als im Jahr 2000 Heinrich August Winklers Buch „Der lange Weg nach Westen“ veröffentlicht wurde.

 

Florian Schuller: Sie haben gesagt, es gebe keine radikale Dichotomie zwischen universalistischem Verständnis und Container-Verständnis. Hängt beides aber nicht doch enger zusammen: ein universalistisches Verständnis des Westens und dessen konkrete Geschichte in einem konkreten Umfeld? Anders gefragt: War es reiner Zufall, dass Rationalität und Universalität im sogenannten Westen gedacht wurden?

 

Axel Schildt: Historiker kennen ja keine Zufälle, sondern nur Kontingenz. Unter bestimmten Rahmenbedingungen kann Unterschiedliches passieren und unterschiedliche Folgen haben. Ihre weise Regie hat es so geführt, dass wir zunächst gesagt haben, wir müssen die Komplexität reduzieren. Jetzt wird es langsam komplexer. Denn der Augenblick, als es um 1800 losgeht mit der Entdeckung der Welt, auch der Welt ohne Gott, ist genau die Geburtsstunde der modernen Begrifflichkeit des Abendlandes – ich nenne Novalis, Gebrüder Schlegel usw. –, also der katholischen Romantik in Verbindung mit einer Reihe religiöser Konversionen zum Katholizismus. Insofern müssen wir die Sache dialektisch ansehen. Das eine fordert dann immer gleich das andere heraus.

Ein Zweites: die Postmoderne. Auch bei ihr als Diskursphänomen haben wir zwei Versionen, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Die eine ist die radikalisierende Überwindung der Moderne und die andere so etwas wie eine katholische Postmoderne. Romano Guardini, gewissermaßen der Hausgeist hier, klingt beim Überholen der Moderne fast wie Walter Ulbrichts „Überholen ohne einzuholen“…

 

Florian Schuller: … oh, das ist eine wilde Parallele, die Sie ziehen …

 

Axel Schildt: … nein, nur der Begriff des „Überholens ohne einzuholen“ ist mehrfach schon in der Geschichte gefallen, …

 

Florian Schuller: … jetzt hat es gerade gerumpelt in St. Ludwig im Grab …

 

Axel Schildt: … ich hoffe nicht. Es gibt schlicht und ergreifend auch diesen Impetus, mit der Moderne fertig zu werden. Das wollte ich nur sagen, und deswegen ist der Begriff der Postmoderne unglaublich schwierig; das leitet dann direkt über zu dem, was Herr Bavaj ausführte.

Wenn man Winkler nimmt – also der Westen als westliche Wertewelt, in der wir endlich glücklich angekommen sind – dann übersieht man die Komplexität dessen, was historisch der Westen war. Der war eben nie nur Liberalismus, Modernisierung und demokratischer Fortschritt. Ich bin da selber mit betroffen gewesen bei den entsprechenden Streitigkeiten. Ich hatte ein Jahr vor Winkler den Fehler gemacht, ein Buch zu veröffentlichen mit dem Titel „Ankunft im Westen“, und bin seither immer im Einklang mit Winkler zitiert worden, obwohl ich mit seiner Fassung gar nichts zu tun habe. Vielmehr ging es mir immer darum, dass ich sehen wollte, ob wir rückblickend für die 1950er und 1960er Jahre tatsächlich von einem Prozess der Verwestlichung oder „Westernization“ sprechen können. Und das können wir.

Deswegen bin ich ja aufs Abendland gekommen als einen Gegenbegriff: Das heißt nicht, dass alles, was mit Verwestlichung verbunden war, etwas mit Demokratie per se zu tun hätte. Das ist ein anderer Prozess. Man sollte als Historiker eben auch so demütig sein, zu sagen, ich weiß nicht, wie es weitergeht. Ich hätte mir auch nicht vom Jahre 2000 aus vorstellen können, wo wir heute stehen. Dazu hätte mir die Phantasie gefehlt …

 

Florian Schuller: … im Negativen wohl …

 

Axel Schildt: … insbesondere im Negativen, leider ja.

 

Karlheinz Ruhstorfer: Wenn ich jetzt noch einmal zeitlich stärker gliedere, prägt den Westen zunächst eine Phase, die ich tendenziell eher Neuzeit nenne als Moderne. Die Neuzeit kennt durchaus ein starkes metaphysisches bzw. ein durch und durch theologisches Denken. Zum Beispiel Immanuel Kant: Der hat einen ganz starken Begriff von Wahrheit, vom Ich, auch von absolutem Wissen – trotz allem Kritizismus; er hat einen massiven Begriff von Freiheit, der universal und absolut gilt. „Was ist der Mensch?“ – das ist seine Frage. Gott gilt als regulative Idee, und er vertieft sein System bis zur Religionsschrift. Es bleibt Christentum, und das Ganze entwickelt sich noch weiter bei Hegel und Fichte – auch Schelling sei genannt – in Richtung einer hochtheologischen Reflexion auf das Höchste im Menschen, das zugleich göttlich ist und eben deshalb christologisch oder geist- bzw. trinitäts-theologisch – bei Hegel etwa – verstanden werden muss.

Radikal unterschieden davon ist ein anderer Begriff von Modernität, nämlich der nach Feuerbach. Hier geht es um die Weltlichkeit der Welt; es gibt keine Theologie mehr. Das heißt, wenn Sie Ihren historischen Wissenschaftsbegriff entfalten, dann ist das ein nachmetaphysischer Begriff. Durch den Wegfall des Gottesbegriffs fällt nun aber etwas weg, nämlich der Begriff der Versöhnung. Der Satz „Es ist gut“ wird unglaubwürdig, und zwar hauptsächlich in der abendländisch-westlichen Kultur, zum Teil aber auch in Russland. Dostojewskij wäre etwa ein Beispiel für die Wahrnehmung des modernen westlichen Atheismus aus östlicher Perspektive.

Durch den Wegfall des Gottesbegriffs und der Versöhnung erfahre ich nun in der Welt ein Fremdsein, eine Enteignung des Menschen in seinem Wesentlichen. Es gehört also mit zu dieser europäischen Geschichte, dass weltgeschichtlich einmalig und erstmalig ein Bewusstsein von Kontingenz entsteht. Gleichzeitig entsteht das Bewusstsein, dass diese unversöhnte Welt einer Versöhnung bedarf, und daraus entstehen die Ideologien des 19. Jahrhunderts, vor allem der Marxismus, der Kommunismus in verschiedensten Ausprägungen und dann – in einer ganz anderen Weise, eher auf Nietzsche und auch auf verschiedene Formen von Darwinismus zurückgehend – die Faschismen, wo nun auch Eschatologie und Macht sowie andere Versionen von Versöhnung und Aufhebung der Entfremdung betrieben werden.

Was wir in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehen, sind genau diese weltgeschichtlichen Kämpfe, von denen die politischen und militärischen nur eine der beiden Seiten darstellen. Es ist wichtig, diese Art von Modernität zu unterscheiden von einer metaphysischen. Sie hat ihren Tiefpunkt im Holocaust und der Erfahrung, dass Totalitarismus oder identitäres Denken zu definieren beginnt, wer ein Mensch ist und wer keiner, und zwar technisch-naturwissenschaftlich-industriell durchexerziert, so dass eine bisher unbekannte Homogenisierung im Dritten Reich sowie in der Sowjetunion nicht logische Konsequenz war. Auf dieser Basis entsteht, was ich Postmoderne nennen würde – und da habe ich eben einen anderen Begriff.

 

Florian Schuller: Das heißt, dass „Westen“, wenn man ihn vom 19. Jahrhundert her sieht, beides beinhaltet: sowohl den Glauben, den Sie bei Kant – im Gegensatz zu mir – ganz stark gesehen haben, als auch die Gottlosigkeit?

 

Karlheinz Ruhstorfer: Bei Kant muss Gott postuliert werden, damit Versöhnung hergestellt wird, und, ganz simpel gesagt, die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden. Das heißt, er hat noch das eschatologische Moment der Transzendenz, das dann wegfällt, was wiederum heißt, dass es keine Versöhnung gibt. Entweder wir beseitigen, dass Kinder zwölf Stunden in den Fabriken arbeiten müssen – Marx –, oder wir beseitigen es eben nicht. Wir müssen jetzt die Welt ändern, und zwar mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln. Mit den Naturwissenschaften, die nicht mehr theologisch eingebunden sind, mit den Geschichtswissenschaften und all den anderen neuen Wissensformen, die im nachmetaphysischen 19. Jahrhundert entstehen, müssen wir die neue Welt schaffen.

 

Florian Schuller: Aber das hat sich nur im Westen so entwickeln können?

 

Karlheinz Ruhstorfer: Richtig.

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Montag, 12.01.2026
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Ein russischer Aufruf gegen den Krieg in der Ukraine
Akademiegespräch am Mittag mit Prof. Dr. Kristina Stoeckl und Dr. Johannes Oeldemann
Mittwoch, 14.01.2026
Reinhardhauke
Das Buch Hiob II
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 19.01.2026
Reinhardhauke
Das Buch Hiob III
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 26.01.2026
Ordo-socialis-Preis 2025 an Sylvie Goulard
Dienstag, 27.01.2026
Akademiegespräch am Mittag mit Abt Dr. Johannes Eckert OSB und Sr. Dr. Katharina Ganz OSF
Mittwoch, 28.01.2026
Ministerie van Buitenlandse Zaken/Wikimedia Commons
Menschenrechte verteidigen
… nach dem Seitenwechsel der USA
Mittwoch, 28.01.2026
Reinhardhauke
Das Buch Hiob IV
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 02.02.2026