Von allen großen Menschen, deren Abbild in früheren Zeiten in Stein gemeißelt oder in Bronze gegossen auf Denkmalsockel gestellt oder deren Porträts Künstler auf Leinwänden zur Vorstellung brachten, hat Napoleon am wenigsten menschliche Züge. Obwohl sein Leben vorzüglich dokumentiert ist, seine immense Korrespondenz mustergültig ediert vorliegt, zahlreiche Zeitgenossen und Weggefährten ihn in ihren Memoiren geschildert haben, erschließt sich einem sein menschliches Wesen so gut wie nicht. Freunde oder Freundschaften sind von ihm nicht bekannt und sein Verhältnis zu Frauen war von Misogynie geprägt. Frauen galten ihm nicht als vollwertige, geschweige dem Mann gleichberechtigte Wesen, sondern nur als Gebärmaschinen, die ihm möglichst viele Soldaten für seine Kriege liefern sollten.
War Napoleon also ein Unmensch? Die Frage muss man verneinen, denn ihm fehlte auch das menschliche Gefühl, das einen solchen kennzeichnet: der Hass. Ihn plagte auch kein Wahn. Weder war er ein Glaubenskämpfer, ein Fanatiker, noch gar ein Revolutionär oder Freiheitskämpfer. Er verachtete Theologien wie Ideologien. Mit der Kirche suchte er sich nur zu arrangieren, weil diese mit ihrer Macht über die Seelen ein Konkurrent war. Für die Seelen hatte er kein Interesse, wohl aber für die Menschen. Die Beherrschung der Menschen war für ihn die Voraussetzung dafür, die Macht mit jener unwiderstehlichen Effizienz auszuüben, deren Mittel ihm von der Revolution bereitgestellt worden waren. Diese Mittel waren nicht neue Waffen, neue Technologien, wie man heute sagen würde, sondern neue Menschen.
I.
Als die Französische Revolution durch eine Koalition der alten Mächte Europas bedroht wurde, deren Heere in Frankreich einfielen, um die dortigen Umstürzler zu züchtigen und dem König wieder sein angestammtes Recht zu verschaffen, wurden sie zurückgeschlagen von der Armee der Levée en masse, einem Heer, das dank der allgemeinen Wehrpflicht aufgestellt worden war. Die von der Revolution verkündete Wehrpflicht verschaffte den Soldaten etwas, was sie zuvor nicht hatten und auch den Soldaten ihrer Gegner abging: Ehre. Das Empfinden dieser Ehre speiste sich aus dem Erlebnis, die Errungenschaften der Revolution und Frankreichs zu verteidigen. Es war eine Armee aus freien Menschen, die für die Freiheit bereit waren, ihr Leben, ihre körperliche Unversehrtheit in die Schanze zu schlagen. Verbunden damit war noch eine andere Errungenschaft, die ihnen ebenfalls die Revolution gebracht hatte: Das Erlebnis der Gleichheit, dass jeder gleichviel gilt, ob Bauer oder Bäcker, Schuster oder Tagelöhner. Als Soldaten der Revolution teilten sie sich alle in das Versprechen, dass ein jeder von ihnen den Marschallstab im Tornister trage.
Das verlieh den Revolutionssoldaten ein Selbstbewusstsein, die Einsicht in die je eigene Bedeutung, die den Revolutionsarmeen eine ganz neue, unerhörte Kohärenz und damit von vorneherein auch eine Überlegenheit über ihre Gegner verschaffte. Deren Armeen waren mit eiserner Disziplin mühsam zusammengehaltene und durch öden Drill abgerichtete Verbände, die wegen ihrer notorischen Unzuverlässigkeit immer nur zu großen Massen zusammengeballt geführt wurden und dementsprechend unbeweglich waren. Ihre Offiziere waren so gut wie ausnahmslos Adelige, die auf die einfachen Soldaten mit Verachtung herabblickten, sie für uniformiertes Gesindel hielten, das jede Gelegenheit zu desertieren, zu marodieren und zu plündern nutzen würde. Ihre Befehlshaber waren ausschließlich Angehörige des höheren und höchsten Adels, von Gicht wie von Dünkel geplagte alte, verknöcherte Männer, die ihren Rang oft genug nur ihrer Herkunft, aber nicht ihren Fähigkeiten verdankten.
Die Unterschiede sind größer gar nicht denkbar: Einerseits eine junge, hochmotivierte Truppe, die für ihr Land, für die Ideale von Freiheit und Gleichheit einstand, Soldaten die kämpften, weil sie Chance hatten, in die Offiziersränge aufzusteigen, die also hochmotiviert waren und andererseits zwar waffenstarrende Verbände, die aber nur unter der permanenten Androhung furchtbarer Strafen in einen Kampf zogen, dessen Sinn und Zweck sich ihnen nicht erschloss. Die Soldaten der Revolution waren Napoleons wichtigste Waffe, die er stets dadurch zu schärfen verstand, dass er ihre Motivation stärkte. Das gelang ihm umso besser, als er selbst ein Soldat der Revolution war, er das lebendige Beispiel dafür vorstellte, dass man mit Können und Geschick in die höchsten Ränge gelangen konnte.
Im Alter von 27 Jahren wurde er 1796 Oberbefehlshaber der französischen Armee, die in Italien gegen Österreich operieren sollte. Trotz seines Ranges blieb Bonaparte, wie er bis zu seiner Selbstkrönung als Kaiser 1804 hieß, ein soldiers soldier, wie man sagt, einer, der die Nähe zur Truppe nicht mied, sondern diese suchte, der mit und unter seinen Soldaten lebte und ihre Entbehrungen teilte, der ihre Sprache sprach, sich ihren Nöten und Hoffnungen gegenüber offen zeigte, ohne jedoch Disziplinlosigkeit zu tolerieren. Er war der Chef, der begeisterte und diese Begeisterung trug mit dazu bei, dass er mit seiner Kriegführung binnen kurzer Zeit beispiellose Erfolge errang, es ihm gelang, mit seinen nach Ausrüstung und Zahl unterlegenen Truppen die stets viel größeren und lange Zeit auch besser gerüsteten Verbände des Gegners zu schlagen und diesen schließlich zu einem Friedensschluss zu zwingen.
Diese Erfolge waren natürlich auch seiner überlegenen Strategie und Taktik geschuldet, deren wichtigste Voraussetzung die hohe Motivation seiner Truppen war, die natürlich durch die Erfolge, die sie unter seiner Führung errangen, enorm gesteigert wurde. Das verschaffte der Italienarmee binnen kürzester Zeit einen Esprit de Corps, der ihr eine unwiderstehliche Siegesgewissheit verlieh, die Bonaparte mit großem Geschick propagandistisch für sich zu nutzen verstand, indem er pausenlos Siegesmeldungen, in denen die Soldaten und Einheiten, die sich besonders hervorgetan hatten, namentlich genannt wurden, nach Paris schickte. Diesen Nachrichten folgten zum Beweis die Fahnen, die man beim Gegner erobert hatte.
Das war geschickte Propaganda. Dazu gehörten auch die beiden Zeitungen, die von der Italienarmee veröffentlicht und die nicht nur auf dem Kriegsschauplatz, sondern auch in Paris vertrieben wurden. Dazu gehörten ferner auch Kupferstiche, mit denen von Bonaparte engagierte Künstler über herausragende Heldentaten wie etwa den Sturm über die Brücke von Lodi oder über die von Arcole oder den Einzug der französischen Truppen in Mailand im Bild berichteten. Diese Stiche ließen sich in vergleichsweise großen Stückzahlen herstellen und zu geringem Preis in ganz Frankreich von Kolporteuren verhökern.
Schließlich geizte er auch nicht mit Belobigungen und Beförderungen, vor allem aber, und das war keineswegs der geringste Grund, warum ihm die Truppe blindlings ergeben war, zahlte er wenigstens die Hälfte von deren Sold in klingender Münze aus, während sich die französischen Revolutionssoldaten sonst mit den fast wertlosen Assignaten, dem Papiergeld der Revolution, begnügen mussten, als dessen Sicherheit der wegen Überangebots an rapidem Wertverlust leidende Verkauf von enteignetem Kirchengut diente. Solche Großzügigkeit kostete Bonaparte nichts, denn seine Feldzüge in Italien gehörten zu den wenigen militärischen Unternehmungen, die wesentlich mehr an Geld abwarfen, als sie vernichteten. Die Armee lebte aus dem Land, ernährte sich im Belpaese gewissermaßen vom Belpaese.
Außerdem mussten die jeweils revolutionär befreiten, also die eroberten Gebiete und Städte saftige Kontributionen zahlen, die dann durch regelmäßige Steuerleistungen abgelöst wurden, deren Erträge zu einem erheblichen Teil nach Frankreich flossen und die Pariser Regierung, das Direktorium, vor dem ihm ständig drohenden Bankrott bewahrten. Seine Fortüne, die fortgesetzten militärischen Erfolge wie dieser nicht abreißende Geldstrom aus dem reichen Italien machten Bonaparte schnell zu einer wichtigen und vor allem unersetzlichen Figur auf dem politischen Schachbrett der Revolution.
II.
Mit all dem, mit seinen militärischen Erfolgen, die er mit dem von ihm erzwungenen Friedensschluss von Campo Formio vom Oktober 1797 krönte, wie den finanziellen Zuwendungen, von denen das Revolutionsregime in hohem Maße abhängig war, stellte sich Bonaparte Wechsel auf die eigene Zukunft aus, die er mit dem Putsch vom 18. Brumaire, dem 9. November 1799 einlöste, der ihm zunächst als Erster Consul und dann vier Jahre später als Kaiser Napoleon die Macht in Frankreich verschaffte. Allein die von ihm bis dahin erbrachte Leistung als Glücksritter der Revolution, die in den ersten vier Jahren nach seinem Putsch ihre Fortsetzung darin fand, dass er mit allen Mächten, die gegen die Revolution Krieg geführt hatten, Frieden schloss und er zum weiteren seine enorme Energie daranwandte, das von der Revolution aufgewühlte Frankreich zu beruhigen und dem Land eine innere Ordnung zu verschaffen, die bis heute Bestand hat, hätte natürlich vollauf genügt, sich seiner Person und seines Wirkens noch heute zu erinnern. Jedoch, damit ließ er es nicht bewenden …
Nicht mit Bonaparte, sondern mit Napoleon stellt sich indes die Frage, was er uns heute noch bedeuten kann. Als Napoleon, als Kaiser also, glich er sich dem in Europa damals herrschenden politischen Standard an, der als Staatsform nur die Monarchie kannte. Diese „Normalisierung“ besiegelte gleichsam das von Bonaparte nach seinem Putsch gemachte Versprechen, die Revolution sei beendet. Die Revolution hatte König und Monarchie in Frankreich beseitigt und wurde nun ihrerseits zwölf Jahre später durch Kaiser und Kaiserreich verdrängt. Das aber war nur eine Änderung der Firma: Napoleon war nicht Kaiser von Gottes Gnaden, sondern von Gnaden der Revolution. Das hat Napoleon auch nie versucht, zu verleugnen, auch wenn er mit seiner Herrschaft der Revolution viel von ihrem verführerischen Glanz nahm und er von der revolutionären Trias, die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verhieß, allein die Gleichheit zur Regel seines Handelns machte.
Das Postulat der Gleichheit, das Gleichheit vor dem Gesetz meinte und damit eo ipso auch die prinzipielle Chancengleichheit implizierte, zu dem sich Napoleon auch als Kaiser bekannte, war für sich genommen noch immer revolutionär genug, um im monarchischen, im ständisch verzopften Europa, in dem die Ungleichheit das geltende gesellschaftliche Ordnungsprinzip war, die Menschen mit Angst oder Hoffnung zu erfüllen.
Lassen wir die Erörterung der Anlässe beiseite, die 1805 zum Ausbruch der von der Geschichtswissenschaft sogenannten „Napoleonischen Kriege“ führten, die bis 1815 in Europa tobten und die alte Ordnung des Kontinents zerstörten. Ein Grund, der in diesem Zusammenhang nie genannt wird, ist vielleicht der, dass den frisch gekrönten Kaiser das Empfinden plagte, sich als Staatsmann zu verlieren, als den er sich seit dem Putsch von 1799 bewiesen hatte. Er war Soldat, Feldherr und als solcher sehr erfolgreich gewesen. Allein diese Gewissheit musste ihn dazu verlocken, auf dieser Bahn, mit den neuen Möglichkeiten und gestützt auf das Potential eines großen Staates, der, wie ihm bewusst war, in vieler Hinsicht viel effizienter und besser organisiert war als die anderen Staaten, entschlossen voranzumarschieren.
Die Drei-Kaiser-Schlacht von Austerlitz am 2. Dezember 1805, dem ersten Jahrestag seiner Kaiserkrönung, in der die Franzosen unter Führung Napoleons die von ihren gekrönten Häuptern befehligten Armeen von Russland und Österreich vernichtend schlugen, musste ihm als der Beweis für die Richtigkeit seines Entschlusses erscheinen. Schon mit Austerlitz war er der Herrscher Europas. Österreich sah sich zu einem Frieden genötigt, der es dazu zwang, das Deutsche Reich mit seinem karnevalsbunten Zaunkönigtümern sowie die Schweiz und Italien ganz dem Einfluss und der Gestaltungsmacht des französischen Kaisers zu überlassen. Der hatte, nicht zuletzt dank seiner zuvor in Italien gemachten einschlägigen Erfahrungen, die Routine wie die Blaupause die deutsche Staatenwelt nach seinen Vorstellungen zu ordnen.
III.
Wäre Napoleon mehr Staatsmann als Feldherr und Eroberer gewesen, dann hätte sich ihm jetzt die einmalige Chance geboten, Deutschland und Italien in einer staatlichen Ordnung zu vereinen, deren Bestandsgarantie Frankreich als der Führungsmacht des Kontinents zugefallen wäre. Derlei lag ihm jedoch sehr fern, denn er gab der Verlockung nach, weiter zu siegen, weiter zu erobern. Das verriet in schöner Deutlichkeit Napoleons Proklamation vom 27. Dezember 1805, mit der die Absetzung der über das Königreich Neapel herrschenden Bourbonen angekündigt und die von einer umgehend in Marsch gesetzten französischen Armee vollzogen wurde. Die Rechtfertigung, an der es ihm nie mangelte, war diesfalls, dass das Königreich Neapel die gegenüber Frankreich eingegangene Neutralitätsverpflichtung verletzt habe.
Neapel lieferte Napoleon den willkommenen Vorwand, die einmal begonnene Expansion fortzusetzen: Die Französische Revolution, als deren Vollstrecker und Vollender er sich verstand, hatte mit Ausnahme des französischen noch keinen anderen europäischen Thron umgestürzt. Neapel bot Napoleon jetzt die willkommene Gelegenheit einer Doppelpremiere, die das Muster für die von ihm beabsichtigte politische Neuordnung Europas lieferte: Die Bourbonen wurden ihres Thrones beraubt, auf dem Napoleons ältester Bruder Joseph als gekrönter Herrscher installiert wurde. Diesem Vorbild folgend wurde eine durch Machtdelegation an weitere Familienmitglieder des Bonaparte-Clans übertragene Herrschaft in anderen von ihm eroberten Ländern die Regel.
Da nach Napoleons Überzeugung der Friede nur eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sei, folgte die von ihm angestrebte politische Neuordnung Europas vor allem auch der Maßgabe, dass die neue Staatenwelt ganz der Fuchtel Frankreichs unterstand, wurden ihr Kontributionen und Steuern oder Quoten für die Bereitstellung von Soldaten und Kriegsmaterial diktiert. Das bestimmte auch Napoleons Handeln in Deutschland, auch wenn hier die Neuordnung der Staatenwelt von dem in Italien bewährten Schema abwich. Das änderte aber nichts am Prinzip seines Agierens, das hinter der potemkinschen Fassade des von ihm gestifteten Rheinbunds genau das gleiche war.
Der Rheinbund war ein Diktat Napoleons, mit dem am 17. Juli 1806 die Fürsten der 16 Gründerstaaten des Rheinbunds zum Beitritt zu diesem Bund gezwungen wurden. Im Falle einer Weigerung wurde ihnen die Mediatisierung, die entschädigungslose Enteignung ihrer Macht und Herrlichkeit angedroht. Mit ihrer Mitgliedschaft im Rheinbund vollzogen dessen Genossen ihre Entmündigung. Sie war der Preis, den die Herrscher für ihre Unabhängigkeit von Kaiser und Reich wie für die Souveränität innerhalb ihres Herrschaftsgebiets entrichten mussten. Mit dem bis 1808 erfolgenden Beitritt der mit Ausnahme von Preußen und Österreich restlichen 23 deutschen Staaten zum Rheinbund wurde endgültig die von Napoleon verfolgte Machtlogik offenbar: Der Rheinbund, als dessen Schirmherr Napoleon fungierte, sollte ihm als Instrument dienen, Deutschland politisch wie militärisch zu beherrschen. Der Rheinbund war insofern nichts anderes als der Prototyp des von uns noch lebhaft erinnerten Systems des Warschauer Pakts.
Auch wenn jeder Vergleich hinkt, so macht dieser dennoch darauf aufmerksam, dass auch der Rheinbund eine Allianz vorstellte, in der die beiden Kontrahenten, Frankreich und die Bundesfürsten, höchst ungleich verteilte Lasten zu schultern hatten. Napoleon verschaffte sich mit dem Rheinbund die alleinige Verfügung über die Außenpolitik, die Soldaten und schließlich auch die Ressourcen seiner Mitgliedstaaten. Das nahm diese gleichsam in Geiselhaft und machte sie in ihrem Wohl und Wehe allein von der weiteren Fortüne und dem guten Willen Napoleons abhängig. Das war nichts anderes als ein Regime blanker Willkür, das nur deshalb erstaunlich wenig Schaden anrichtete, weil es nur von kurzer Dauer war, denn schon nach der Leipziger Völkerschlacht im Oktober 1813 war der Rheinbund in völliger Auflösung begriffen.
IV.
Im Lichte der Fragestellung meiner Ausführungen, was uns Napoleon zweihundert Jahre nach seinem Tod noch bedeuten kann, will ich auf zwei Hypotheken aufmerksam machen, die aus der Praxis des Rheinbunds herrühren und die zwar versteckte, aber gleichwohl fatale Spätfolgen hatten. Die eine dieser Hypotheken lässt sich mit der Bestimmung der Bundesakte identifizieren, die eine Mediatisierung, also eine Beseitigung aller Herrschaftsprivilegien von Reichsrittern, Grafen, Herzögen und Fürsten unterhalb der Ebene der über die einzelnen Staaten weiterhin herrschenden Fürstenhäuser vorsah. Der gesamte niedere und mittlere Adel wurde damit in Bausch und Bogen zu – allerdings privilegierten – Untertanen. Damit ist gemeint, dass der mediatisierte Adel alle Besitz-, Herrschafts- und Feudalrechte behalten durfte, sofern diese nicht einen wesentlichen Bestandteil der Souveränität darstellten.
Das zeigt, dass Napoleon keinerlei Interesse daran hatte, die gesellschaftlichen Errungenschaften der Revolution zu exportieren. Ihm war es nur darum zu tun, sich die reibungslose Unterstützung seiner Vasallen zu sichern. Auch wenn damit die politische Geographie Deutschlands erheblich vereinfacht, die staatlichen Verwaltungen vereinheitlicht und die in Jahrhunderten verfilzten Herrschaftsstrukturen aufgebrochen und entrümpelt wurden, entsprach das alles keineswegs den eigentlichen Absichten Napoleons. Alle diese Veränderungen, die sich fraglos als Fortschritt oder Modernisierung qualifizieren lassen, waren lediglich unbeabsichtigte Nebenfolgen eines Handelns, das allein darauf aus war, die deutschen Vasallen-Fürsten optimal zu befähigen, Napoleon wirksam und willig zu unterstützen.
Im Lichte späterer Erfahrungen muss man jedoch die Konzessionen, die dabei für den mediatisierten Adel in Deutschland abfielen, sehr kritisch beurteilen, denn damit wurde eine Schicht konserviert, die wegen ihrer durch nichts mehr gerechtfertigten gesellschaftlichen Ausnahmestellung mancherorts und das noch bis heute das Milieu in ländlichen Gebieten und kleinen Städten Deutschlands dominiert. Wer das als eine lediglich folkloristische Arabeske ansieht, verkennt, dass die Nachkommen dieses Adels nach dem Ende der Monarchie in Deutschland 1918 alles andere als musterhafte Demokraten wurden. Das kann man in gewisser Weise sogar verstehen, aber dabei sollte man auch nicht übersehen, dass viele dieser Adeligen in hellen Scharen Hitler zuliefen, den sie womöglich für einen Wiedergänger Napoleons hielten. Entscheidend ist, dass die Akklamation des Adels für Hitler dessen Reputation in weiten Teilen der Gesellschaft erheblich verbesserte.
Zum weiteren muss man feststellen, dass die um ihr revolutionäres Erbe weitgehend amputierte Modernisierung der deutschen Verhältnisse, die Napoleon immer gutgeschrieben wird, einen wesentlichen Beitrag dazu leistete, im weiteren Verlauf der Geschichte eine organische Nationalstaatsbildung in Deutschland und Italien nicht, wie oft angenommen, zu beschleunigen, sondern diese zu verzögern, wenn nicht geradezu zu vereiteln. Zu diesem Schluss nötigt die Feststellung, dass ausgerechnet Italien und Deutschland, die beiden Nationen, die am nachdrücklichsten der napoleonischen „Modernisierung“ ausgesetzt waren, auch die waren, die im 20. Jahrhundert Faschismus und Nationalsozialismus hervorbrachten.
Diese These steht, ich weiß, in einem nicht vermittelbaren Widerspruch zu den vorgeblich segensvollen Modernisierungen, die Napoleons Herrschaft in Deutschland bewirkt habe. Als Beweis wird immer auf den Code Napoleon, den angeblich in Rechtsnormen gegossenen Revolutionsfortschritt, verwiesen. Tatsächlich wurde dieses Gesetzbuch vollumfänglich lediglich in den von Frankreich annektierten linksrheinischen Gebieten sowie in den beiden Großherzogtümern Baden und Berg eingeführt, die beide aus unterschiedlichen Gründen mit Frankreich besonders eng verbunden waren. In den beiden Großherzogtümern wurde die vorgeblich modernisierende Wirkung des Code aber dadurch beschnitten, dass dessen eigentumsrechtliche Bestimmungen einen wesentlichen Beitrag dazu leisteten, die alten feudalrechtlichen Privilegien des Adels zu konservieren und in Eigentumstitel zu verwandeln, da diese hier im Unterschied zu den linksrheinischen Gebieten Deutschlands nicht beseitigt worden waren.
Ein weiterer hartnäckig sich behauptender Wahn besagt, der Rheinbund sei zumindest der Versuch einer Antwort auf die deutsche Frage gewesen, die sich mit der Zerstörung des Alten Reichs gestellt habe. Der Rheinbund, so wird argumentiert, sei eine Präfiguration eines dritten Deutschland gewesen, das die Bedingung der Möglichkeit vorgestellt habe, dass sich die deutschen Klein- und Mittelstaaten in einer föderalen Ordnung organisierten, die ihnen ihre Unabhängigkeit von den beiden deutschen Großmächten Preußen und Österreich garantiert hätte. Das jedoch war ein Traum, dessen Verwirklichung der real existierende Rheinbund vereitelte, denn dieser war nie als eine sich selbst organisierende und verwaltende föderale Entität angelegt.
Geltung und Wirksamkeit des Rheinbunds wurde allein durch die von Frankreich ausgeübte Kontrolle der einzelnen Mitglieder des Bundes definiert, die selbst nur eine auf die Gestaltung ihrer inneren Ordnung beschränkte Handlungsfähigkeit hatten, deren Souveränität und Unabhängigkeit ansonsten nur pompöse Kulisse war. Insofern liefert die häufig zitierte Paraphrase des Johannes-Evangeliums, die Thomas Nipperdey seiner Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert voranstellte, „Im Anfang war Napoleon“, allenfalls nur eine Pointe für die damalige Genese eines modernen Verwaltungsstaats zum Beispiel in Bayern.
Tatsächlich muss man es bedauern, dass Napoleon nie die Absicht hatte, Deutschland zu revolutionieren. Was sein Tun bestimmte, war lediglich auf effiziente Kontrolle und Ausnutzung der Ressourcen abgestellt. Das bedingte, dass die Rheinbundstaaten zwangsweise gewisse Modernisierungsfortschritte erlebten, die zumeist nach 1815 aber wieder rückgängig gemacht wurden. Gleichwohl aber hatten diese Staaten einige wenige Errungenschaften wie auch den durch Napoleon fassonierten Geist der Revolution erlebt. Das war eine Erfahrung, die den beiden deutschen Großstaaten Preußen und Österreich völlig abging. Bei diesen beschied sich Napoleon damit, sie lediglich zu unterwerfen, sie in ihrem territorialen Umfang zu beschneiden und sie durch exorbitante Kontributionen zu schwächen, ihnen aber nicht einmal in dosierter Form revolutionäre Neuerungen zuzumuten.
Das sollte sich als fatal erweisen, denn beide Staaten machten nun in gewisser Weise ihrerseits Revolution. Preußen insbesondere, das Napoleon im Unterschied zu Österreich, besonders gründlich zu ruinieren suchte und das sich aus schierer Existenznot zu Reformen aufraffte, die sich am Beispiel der Französischen Revolution orientierten. Im Bündnis mit dem heillos reaktionären Russland, mit dessen Eroberung Napoleon eklatant gescheitert war, begehrten Preußen und Österreich gegen die Herrschaft Frankreichs auf und erreichten so mit den alten Armeen, deren Führer sich manches an den erfolgreichen Kampagnen des Gegners abgeschaut hatten, die Befreiung Deutschlands. Der Sieg über Napoleon war die Voraussetzung für die Neuordnung Europas. Dieser Erfolg hatte indes den Preis, dass die Deutschen ihre nationale Freiheit nur unter Verzicht auf die politische Freiheit erlangten.
V.
Was also kann uns Napoleon zweihundert Jahre nach seinem Tod noch bedeuten? Als Eroberer, als Feldherr war er zweifellos ein Genie, aber gleichzeitig war er völlig unfähig, stabile und legitime politische Systeme zu schaffen. Auch davon, dass er nennenswerte Fortschritte gebracht habe, kann in der Bilanz keine Rede sein. Nach seiner Herrschaft, nach seinen Kriegen standen Frankreich und Europa in materieller wie auch zivilisatorischer Hinsicht schlechter da als zuvor. Mit welcher anderen historischen Täterpersönlichkeit, die ihres Wirkens wegen erinnert wird, ließe er sich also vergleichen? Mit Hitler? Mit Stalin? Von beiden unterschied sich Napoleon dadurch, dass seine Herrschaft immer auf der Anerkennung der Gleichheit aller vor dem Gesetz basiert war und er auch die Menschenrechte respektierte.
Ja, gewiss, er hat, was ihm heute in Frankreich vor allem zum Vorwurf gemacht wird, die Sklaverei, die von der Revolution abgeschafft worden war, wieder eingeführt. Er tat dies auf Druck der einflussreichen Pflanzer-Lobby auf den französischen Karibikinseln, deren Reichtum sich den Zuckerrohrplantagen, dem Kaffee oder Kakaoanbau und der Arbeitskraft der Sklaven verdankte. Dem Kreis dieser Plantagenbesitzer entstammte übrigens seine erste Frau, Josephine, die zumindest anfänglich deshalb großen Einfluss auf ihn ausübte, weil sie ihm das vermittelte, was ihm fehlte, er aber jetzt in seiner Position als führender französischer Staatsmann dringend brauchte: die social graces, den gesellschaftlichen Benimm, den Eklat des Auftretens.
Das war das eine; ein anderes war, dass Zucker, Kaffee und Kakao Genussmittel waren, auf die breite Bevölkerungsschichten nicht mehr verzichten mochten. Für einen Politiker, dem die Zustimmung der meisten das Geschäft enorm erleichtert, auch wenn er kein Wahlamt bekleidet, hatte die Befriedigung dieser Wünsche große Bedeutung. Das hatte damals wie heute Geltung: Deutschland nimmt aus wirtschaftlichen Interessen auf China heutzutage eine Rücksicht, die nach moralischen Rücksichten oder mit dem Respekt der Menschen- und Freiheitsrechte kaum vertretbar erscheint.
Keine Minderheit wurde von Napoleon, nur weil sie eine Minderheit war, verfolgt, auch keine Glaubensrichtung. In seinem Herrschaftsgebiet sorgte er etwa für die Emanzipation der Juden, die in der deutschen Staatenwelt Bürger zweiter Klasse waren. Heinrich Heine hat ihm das mit nimmerwelker Begeisterung gedankt.
Sich selber hat Napoleon einmal mit Jesus Christus in Beziehung gesetzt. Gegenüber einem seiner Begleiter im Exil von Sankt Helena, dem General Bertrand, sagte er am 12. Juni 1816: „Der Glaube garantiert uns die Existenz Jesu, für die uns die historischen Beweise aber fehlen. Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus ist der Einzige, der ihn überhaupt erwähnt. (…) Er sagt nur: Jesus Christus trat in Erscheinung und wurde gekreuzigt. (…) Die Evangelisten berichten von keinem Geschehen, für das sich ein Nachweis beibringen lässt. (…) Die Evangelien enthalten nichts anderes als eine schöne Moral und wenig Fakten“.
Diese Äußerung hat ein anderer seiner Begleiter, Emmanuel de Las Cases, im Mémorial de Sainte-Hélène ausführlich beherzigt. Der Mémorial bediente sich der Lebensgeschichte Napoleons als Stoff, den Las Cases nicht nur neu zuschnitt, sondern ihn auch durch seither gemachte Erfahrungen und gewandelte Erwartungen anreicherte. Damit gelang es ihm, das vermeintliche Protokoll von Gesprächen mit dem Verbannten, also dessen Vermächtnis, so zu stilisieren und redaktionell zu bearbeiten, dass es sich den bei Erscheinen des Werks 1823 in Frankreich und Europa gängigen Ansichten der öffentlichen Meinung einspiegeln ließ. Mit anderen Worten: Der Mémorial ist keineswegs, wie gern geglaubt, eine Kompilation authentischer Äußerungen Napoleons, sondern das Buch dokumentiert sogar von ihm angeblich geäußerte Anschauungen, die seinem nachweisbaren Handeln oft völlig widersprechen. Dafür jedoch stehen diese vermeintlichen Aussagen Napoleons im Einklang mit dem damals im nachnapoleonischen Europa vorherrschenden liberalen Zeitgeist. Deshalb machten sie in der Zeit, als der Mémorial erschien, solche Sensation und das Buch, das in die wichtigsten Sprachen übersetzt wurde, zu einem internationalen Bestseller.
Der Mémorial de Sainte-Helène von Las Cases hat durch seine breite Rezeption, die bis heute schier unverändert in Frankreich anhält, einen enormen Beitrag geleistet, Mythos und Legende Napoleons zu formen. Der französische Kunsthistoriker Elie Faure veröffentlichte zu dessen 100. Todestag 1921 ein Buch über Napoleon, das den Mémorial ganz im Sinne jener Äußerung ausbuchstabierte, die Napoleon gegenüber Bertrand getan hatte. Faure porträtierte Napoleon als einen Künstler und Dichter des Handelns und formulierte die kühne Behauptung, dass man ihn am besten mit Christus vergleichen könne. Dafür sprächen zahlreiche Ähnlichkeiten, die beide hätten.
Christus litt und starb auf Golgotha wie Napoleon, der dieses Schicksal auf Sankt Helena erlebte. Die Apostel verbreiteten die Botschaft Christi, so wie dies außer Las Cases auch drei weitere seiner Begleiter taten, die schon Heinrich Heine deshalb als „Evangelisten“ bezeichnete. Ganz wie Christus war auch Napoleon ein Heiland, ein Retter. Christus war Gottes Sohn und Mensch, Napoleon, ein Mensch mit göttlichen Zügen. Christus stand von den Toten auf, ganz so, wie es auch Napoleon beschieden war. Und so weiter. Lassen wir es damit genug sein. Faures Buch wurde damals sofort ins Deutsche übersetzt. Die deutsche Ausgabe wurde übrigens mit einer seltsamen Invocatio in Majuskeln geschmückt, die ich Ihnen nicht vorenthalten will. Sie lautet:
Was also kann uns Napoleon 200 Jahre nach seinem Tod noch bedeuten? Seine Geschichte wird wie die der Ilias immer wieder neu erzählt und immer neue Generationen in ihren Bann schlagen. Aber, was können wir von Napoleon lernen außer einigen Banalitäten und Binsenweisheiten wie die, dass Stolz und Arroganz unweigerlich zum Absturz führen. Oder dass ein gewisses Maß an Demut im öffentlichen wie privaten Leben immer angeraten ist. Oder dass militärische Lösungen internationaler Konflikte mehr und größere Probleme verursachen als lösen. Wahrscheinlich gründet die Faszination Napoleons darin, dass jede Generation in seinem Bild einen Spiegel sieht, der ihr die wahren Sehnsüchte, die sie umtreiben, vor Augen stellt.
Heutzutage könnte man als Ursache der Faszination seinen radikalen Individualismus vermuten, der ihn dazu anstiftete, zu siegen, zu erobern, sich absolute Macht zu erwerben, weil er schamlos wie kein anderer danach strebte, sich immerwährenden Ruhm zu erwerben. Das, so mein Fazit, ist ihm gelungen, weshalb wir noch heute, zweihundert Jahre nach seinem Ableben, uns seiner erinnern, ihn bewundern oder über ihn streiten.