Zu den Paradoxien suizidalen Erlebens und Handelns

Psychoanalytische Perspektiven

Im Rahmen der Veranstaltung "Suizid Prävention", 15.11.2019

Präambel

 

Sich selbst ein Ende zu setzen, ist eine ungeheuerliche Tat. Man spricht nicht gern über Selbsttötungen. Sie sind unheimlich, angsteinflößend und verschlagen einem nicht selten die Sprache. Und doch ist vielen wenigstens der Gedanke an ein eigenmächtiges Ende vertraut, wie es bereits Albert Camus bemerkte ­­­– und er geht ihnen nahe.

Über den Suizid nachzudenken, bedeutet einen Versuch der Annäherung an subjektive Beweggründe und gesellschaftliche Voraussetzungen, die eine solche Tat ermöglichen bzw. nicht verhindern können. Diskurse über den Suizid reflektieren nicht nur ex negativo auf unhintergehbare Voraussetzungen für ein lebenswertes Leben, sondern auch auf anthropologische Bedingungen der Subjektwerdung, die sich um Anerkennung, Akzeptiertsein, Gesehenwerden und Geliebtwerden zentrieren und damit zugleich die Relevanz der individuellen Biographie in den Blick rücken.

In diesem Sinne sind Diskurse lebenswichtig, und genau dazu haben uns die Kolleginnen und Kollegen der Arche eingeladen, um diesen Raum zur Reflektion, anlässlich des beachtlichen 50-jährigen Bestehens der Arche, zu öffnen.

 

Einführung

 

Ich möchte zu Beginn kurz an Sigmund Freud erinnern, der in uns, Psychoanalytikern und psychodynamischen Suizidologen, auch aufgrund seines bedeutenden Werkes Trauer und Melancholie von 1917 auf sehr lebendige und unhintergehbare Weise nachwirkt. Wir denken dabei vielleicht nur selten an seinen Tod, der ein Suizid, genauer ein assistierter Suizid war. Freud erkrankte 1923, im Alter von 67 Jahren an Gaumen- und Mundhöhlenkrebs. In den 15 Jahren seiner schweren Erkrankung musste er 350 Mal seinen Chirurgen konsultieren und zahlreiche Operationen über sich ergehen lassen. Bereits 1924 schrieb Freud zermürbt: „Das Richtige wäre, Arbeit und Verpflichtungen aufzugeben, und in einem stillen Winkel auf das natürliche Ende zu warten.“

Freuds eigener selbstbestimmter Tod verweist ganz unmittelbar auf zwei zentrale Aspekte, die den suizidologischen Diskurs von der Antike bis zur Gegenwart durchziehen. Denn die schulenübergreifenden, philosophischen Kernfragen sind: 1. ob es vernünftig sein könne, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen und 2. ob die Selbsttötung moralisch erlaubt sei. Zum anderen schwingt in diesem Argument die den Diskurs grundierende normative Unterscheidung mit, als gäbe es den hohen, respektablen, gut begründeten Suizid, der uns im Falle Freuds sofort überzeugt, und die niedere, lächerliche Selbsttötung, wenn wir, im Sprung zur Gegenwart, zum Beispiel an den Suizidversuch einer 42-jährigen Patientin von mir denken, als Reaktion auf die Todesnachricht von Michael Jackson.

Es hat in allen bekannten Kulturen und Epochen, von der Antike bis zur Gegenwart, Formen des Suizids gegeben, und er zieht sich bis heute durch alle Gesellschaftsformen, und sozialen Schichten, er betrifft beide Geschlechter, gleichwohl mit einer Vielzahl divergierender Ursachen und intrapsychischer Konfliktkonstellationen, unterschiedlichster Ausführungsmuster, Motive und Tötungsmittel, die vom Idiosynkratischen bis zum Stereotyp reichen. Vor dem Suizid, eine nur dem Menschen eigene Möglichkeit des Handelns, vor suizidalen Phantasien, Gedanken und Erlebensweisen, ist keiner gefeit. Den meisten, wenn nicht gar allen Menschen, ist der Gedanke an ein eigenmächtiges Ende, insbesondere aus der verstörenden Phase der Adoleszenz, durchaus vertraut.

Der Prominente, der als schön, reich und glücklich klischiert wird, kann ebenso betroffen sein, wie der Arbeitslose, Kranke oder schlicht Unglückliche. Die relativ niedrige Suizidrate in Kriegs- und Krisengebieten, im Vergleich zu jener in der westlichen Wohlstandswelt, unterläuft die traditionelle Unterscheidung von guten/echten Gründen einerseits sowie von schlechten/hysterischen andererseits. Die markante Differenz indes liegt zwischen denen, die ihr eigenmächtiges Ende nur phantasieren und jenen, die diese Phantasien und Gedanken in Handlungen, sei es Suizid oder Suizidversuch, umsetzen.

Trotz des empirisch belegten enormen Ausmaßes von Suizidalität und Suiziden auch in Deutschland, begegnet uns kehrseitig eine eklatante Tabuisierung dieser autodestruktiven Praktiken. Die Tabuisierung des Suizids erschließt sich historisch vordergründig aus seiner religiösen und politischen Ächtung, gleichsam aus den klassischen Quellen des Tabus. Aber nicht minder bedeutsam ist die Unheimlichkeit des Suizids, eine Konnotation, die sich wie unbemerkt in die Diskurse eingeschlichen hat, und die sich als wohl wichtigster Grund für seine Ächtung und Tabuisierung erweist.

Denn quer zum Selbstoptimierungs- und Perfektionierungsstreben in der Spätmoderne, ist der Suizid immer assoziiert mit Verzweiflung, Not, Unglück und anderen Seelenzuständen, die in unserer Jagd nach Glück und Zufriedenheit kontraideal sind. Und der Suizid ist, aus welcher Seelenverfassung heraus auch immer geschehen – wie kein anderer Tod – stets eine Anklage, nicht nur an die Welt, sondern an die Angehörigen (vor allem an die Eltern, die ja längst „innere Objekte“ geworden sind), die Hinterbliebenen, die mit dem Suizidanten irgendwie Verbundenen. Der Suizid induziert im Anderen stets einen Schock und hinterlässt eine kaum zu tilgende Spur von Schuld, Scham, Wut, Ohnmacht und Verzweiflung.

Ähnliches gilt für die professionellen Kontexte: Denn auch wenn der Suizid der Tod in der Psychiatrie ist, wird er aus Angst vor Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft, die einen Kunstfehler nachweisen könnte, und aus Angst vor Reputationsverlust innerhalb der Fachcommunity eher verhüllt als eingestanden. Dies hat zur Folge, dass suizidale Patienten, insbesondere dann, wenn sie ihre Phantasien und Erlebensweisen offen kommunizieren, es ungleich schwerer haben, einen ambulanten Therapieplatz zu finden. Es ist die Angst vor dem Suizid als einer omnipotenten Geste, die gerade dem mit Suizidalen arbeitenden Therapeuten schonungslos vergegenwärtigt, dass all seine Anstrengungen den Tod durch Suizid nicht verhindern können. Gerade deshalb sind Einrichtungen wie die Arche von unschätzbarem Wert in der so dünn besiedelten Versorgungslandschaft von Suizidalen.

Die psychotherapeutische Arbeit mit Suizidalen stellt alle professionellen Behandler vor große Herausforderungen und ist stets mit vielschichtigen Ängsten und Skepsis bis hin zu radikaler Abwehr behaftet. Die Angst, einen Patienten durch Suizid zu verlieren, ist eklatant, und auch im Wissen um die eigene Professionalität kaum zu beschwichtigen. Antizipierte Schuld und Scham, korrespondierende Affekte des Suizidalen, wirken auch in professionellen Psychotherapeuten und befördern den zuweilen unhintergehbaren Vorbehalt, sich auf die Behandlung von Suizidalen einzulassen. Schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass bei aller klinischen Erfahrung und Sorgfalt in der Diagnostik, Indikation und Behandlung, es nicht immer verhindert werden kann, dass sich ein Patient am Ende doch suizidiert. Die schweren Schuldgefühle und Versagensängste, die sich einstellen, können so quälend sein, dass sie schließlich abgespalten und verleugnet werden. Die Verleugnungen des Suizids eines eigenen Patienten gehen sogar so weit, dass sich Klinikärzte immer dann nicht mehr an den Namen eines Patienten erinnern konnten, wenn sich dieser stationär oder kurz nach Entlassung suizidiert hatte.

 

Suizidalität aus psychoanalytischer Perspektive

 

Mit Sigmund Freuds Konzeptualisierungen eines dynamischen Unbewussten und der Implementierung einer psychoanalytischen Krankheitslehre, die auch den Suizid einschloss, wurde ein Paradigmenwechsel eingeläutet, der den Verstehens- und Erklärungszugang zu suizidalen Phänomenen radikal veränderte. Denn Freud postulierte bereits 1896 im Rahmen der entlang der Hysterie entwickelten Verdrängungslehre, dass ein aktueller Anlass nur dann traumatisch wirke, wenn dieser eine verdrängte, unbewusste Konfliktthematik aktualisiere. Damit führte er eine zentrale Unterscheidung zwischen äußerem Anlass und der unbewussten Konfliktthematik ein. Der äußere Anlass, und mag dieser auch noch so geringfügig erscheinen, erhält also erst durch diese unbewusste Vernetzung seine ungeheure Wirkkraft. Mit diesem Theorem unterlief Freud die bis dahin philosophisch grundierte, normativ-konventionelle Argumentation von guten und schlechten Gründen sowie die Überbetonung des Intentionalen und der Marginalisierung unbewusster Motive für den Suizid. Kurz: Von nun an sprechen wir nicht mehr von objektivierbar guten oder schlechten‹Gründen, sondern diese sind immer schon individuell biographisch kontextualisiert und multideterminiert. Sie reinszenieren sich oftmals mit aller Heftigkeit und Wucht oder chronifiziert, stumm und diffus im therapeutischen Geschehen.

In der zeitgenössischen Psychoanalyse gilt somit als essenzielle Erkenntnis, dass die Dimension des Unbewussten sowie individuelle psychische Dispositionen und das Konzept der Übertragung und Gegenübertragung mit seinen vielschichtigen technischen und therapeutischen Implikationen unverzichtbar für das Verständnis suizidaler Dynamiken und die psychotherapeutische Behandlung suizidaler Patienten ist. Die psychodynamischen Konzeptionen halten inzwischen ein ausgefeiltes Interpretations- und Technikreservoir des suizidalen Erlebens und Handelns bereit, das einerseits ermöglicht, das Ausmaß des Destruktiven zu dechriffieren und in der Patient-Therapeut-Beziehung konstruktiv nutzbar wie aushaltbar zu machen, und das andererseits und gerade auf diese Weise seine präventive Wirkung entfaltet.

Zugespitzt ließe sich vorerst folgern, dass sich in der Suizidalität ein zentraler Kernkonflikt der Subjektwerdung im Sinne einer anthropologischen Konstante potenziert und verdichtet, der ein Leben lang um existenzielle Abhängigkeit vom Anderen, Fusions- und Abgrenzungswünsche, Anerkennung und deren Versagung, Separation und Autonomie, Trennung und Getrenntheit, dem Oszillieren zwischen der paranoid-schizoiden und depressiven Position, Integration und Desintegration, letztlich um die so schwer auszubalancierende Nähe-Distanz-Regulation kreist.

 

Suizidalität und das Beziehungsparadigma

 

  1. Im psychotherapeutischen Kontext erlebten wir uns nicht bzw. selten eingezwängt in das Dilemma zwischen Anmaßung und Verpflichtung, abgesehen vom klinischen Kontext seinerzeit im Therapie-Zentrum für Suizidgefährdete am Universitätsklinikum in Hamburg, in dem wir eine Behandlungsverpflichtung bzw. eine Verpflichtung zur diagnostischen Abklärung hatten. Viel maßgeblicher indes sind unsere Erfahrungen, dass Patienten, die um Hilfe nachsuchen, zutiefst ambivalent sind und gerade deshalb noch etwas wollen. Das heißt, häufig geht es gar nicht darum zu sterben, sondern nicht zu wissen, wie man weiterleben kann.
  2. Darin also liegt unsere Chance, nämlich eine Beziehung, ein Arbeitsbündnis herzustellen, das zu allererst darauf abzielt, etwas von der suizidalen Krise zu verstehen, nicht aber die Suizidalität wie einen Virus zum Beispiel medikamentös wegzumachen oder gar qua Vertrag zu unterbinden. Wir haben zwanzig Jahre lang ambulant mit Suizidalen ohne Suizidvertrag oder Suizidpakt gearbeitet, und dies sehr erfolgreich, in dem Sinne, dass sich nicht überdurchschnittlich viele Patienten während der Behandlung suizidiert haben, wie so manch ein Supervisor es prognostiziert hatte. Diese Haltung war insbesondere wichtig und notwendig in der Behandlung mit adoleszenten Patienten, die ihre Suizidalität als potenziellen Akt der Autonomie-Rettung so hoch besetzen wie ihr Smartphone.
  3. haben wir Patientinnen und Patienten nie zu überreden versucht, sich nicht zu suizidieren, sondern ein Beziehungs- und Verstehensangebot offeriert, was etwas ganz anderes ist, als der vielfach psychiatrisch orientierte Handlungspragmatismus.

Im Folgenden möchte ich entlang unseres Behandlungskonzeptes veranschaulichen, dass das Dilemma also nicht so sehr aufgespannt ist zwischen Anmaßung und Verpflichtung, sondern in der Frage nach der potenziellen Beziehungsfähigkeit liegt.

Im Kontext der Behandlung einer suizidalen Klientel gehen wir von Anbeginn der Frage nach, in welchem Verhältnis der äußere Auslöser, das Motiv einer suizidalen Krise, zu einer unbewussten Konfliktthematik steht. Und damit eng verknüpft ist die zentrale Frage, warum ein Patient gerade jetzt, hier und heute kommt. Auch dies kann wichtige diagnostische Hinweise implizieren, weil davon auszugehen ist, dass aktuell etwas passiert sein muss, was möglicherweise zu einer weiteren Zuspitzung geführt hat. Wenn es uns gelingt, solche Zusammenhänge zu erkennen und dem Patienten auf verdaubare und dosierte Weise nahe zu bringen, dann entsteht häufig eine deutliche Spontanentlastung, die aus der unmittelbaren Erfahrung resultiert, sich selbst besser verstehen zu können und das überwältigende Erleben mit Sinnhaftigkeit aufzufüllen. In solchen Situationen ist die akute Suizidgefahr häufig deutlich gemildert, insbesondere dann, wenn zu erkennen ist, dass der Patient sich einlassen und fortgesetzt Gespräche wahrnehmen möchte sowie in der Lage ist, eine Wartezeit bis zum Folgegespräch von ein paar Tagen bis zu einer Woche zu tolerieren und auszuhalten.

Die langfristige Isolation und schizoide Zurückgezogenheit hingegen kann, insbesondere bei Männern, ein prognostisch ungünstiges Zeichen sein, aber von hoher Relevanz ist zugleich die intrapsychische Flexibilität der verinnerlichten Objektbeziehungen, die es gleichermaßen zu prüfen gilt. Nicht selten konnten wir beobachten, dass sich Patienten in einem Zeitraum von vier bis fünf Wochen, was in etwa fünf Gesprächen entsprach, überraschenderweise soweit regenerierten, dass sie die Behandlung vorzeitig beendeten, vielleicht auch, weil sie Angst hatten, sich weiter auf die Reise in ihr „inneres Ausland“ (Freud) einzulassen. Für andere Patienten wirkt diese Erfahrung des Verstandenwerdens in angemessenem Setting, mit Zeit und Raum, wie eine Offenbarung, die den Wunsch erzeugte zu bleiben, um mehr von sich zu verstehen. „Wenn der Patient es also aushalten kann, Patient zu sein bzw. zu werden“, wie es unser Supervisor Rolf Klüwer aus Frankfurt treffend formulierte.

In manchen Erstgesprächen wiederum sind wir zunächst mit einer agierenden, massiven Abwehr konfrontiert: Herr B., 17-jährig, wurde von seiner hoch beunruhigten Mutter zu uns geschickt: Ihr Sohn ziehe sich total zurück, gehe nicht mehr zur Schule und reagiere auf Nachfragen entweder aggressiv oder mit Rückzug. Zwar hatte der Sohn den Termin telefonisch selbst vereinbart, aber schon hier zum Ausdruck gebracht, dass er auf diesen „Psychokram null Bock habe“. Zum Erstgespräch kam er 20 Minuten verspätet. Er latschte verlangsamt in die Einrichtung, Baseballkappe tief ins Gesicht, die rutschende Jeans gab den Blick auf seine Unterhose frei, die Spuren auf seinem Sweatshirt zeigten, dass es schon lang nicht mehr gewaschen worden war. Als ich ihn aus dem Wartezimmer abholte, brauchte es eine Weile, bis er sich aus dem Sessel herausgeschält hatte, betont gelangweilt und entnervt hielt er mir die Hand zur Begrüßung hin, ohne mich anzuschauen. Im Gesprächszimmer nahm er wieder eine Lümmelhaltung an, kaute geräuschvoll Kaugummi, wandte sich dann an mich sagte: „Und nu?“ Ich sagte: „Das frage ich Sie? Wenn ich es recht verstehe, dann haben Sie keine große Lust hier zu sein, aber Sie sind dennoch gekommen, und mich würde interessieren, warum sie gekommen sind, mal unabhängig davon, dass ihre Mutter dies wollte!“ „Keine Ahnung“, sagte er, und schwieg. Ich sagte ihm, dass es gut sei, dass er hier sei, und ich mir sicher wäre, dass er sehr wohl Ahnung von sich habe, mich würde interessieren, was los sei. Allmählich taute er auf, sagte aber als erstes drohend: „Meine Selbstmordgedanken lasse ich mir von Ihnen nicht wegmachen“. „Das hatte ich auch nicht vor“, entgegnete ich ganz ruhig, „ich will lediglich verstehen, was sie dazu bringt, nicht mehr leben zu wollen“. Er musste schmunzeln, diese Antwort erstaunte ihn und ließ ein zögerliches Vertrauen entstehen. Stockend berichtete er mir, dass er sich „total scheiße“ finde, weil er ein Mädchen, das ihm Monate lang nachgelaufen sei, sehr schlecht behandelt habe. Nun hätte sie plötzlich einen anderen, und erst jetzt wisse er, dass er sie eigentlich lieben würde, das sei doch megapeinlich, und das wolle er auch keinem sagen, schon gar nicht den Kumpels.

Die zentrale Wende im Gespräch war der Moment, als ich dem Patienten, gewissermaßen seine Abwehr unterlaufend, versicherte, dass ich ihm seine Suizidalität im Sinne einer Autonomie-Rettungsphantasie durchaus lassen könnte, während er bis dahin unter dem Eindruck stand, dass alle sie ihm wegnehmen wollten. Nach zwei weiteren Gesprächen konnte sich der Patient auf eine Behandlung von einem knappen Jahr einlassen.

Die weit brisanteren Situationen sind die, wenn es uns im Erstgespräch nicht gelingt, auch nur annähernd eine tragfähige Beziehung zu installieren: etwa, wenn der Patient psychose-nah, entrückt-dissoziiert, paranoid-schizoid anmutet, oder so depressiv herabgestimmt ist, dass eine Kontaktgestaltung immer wieder kollabiert, stagniert und wie ins Leere läuft. Wenn Patienten nach ein, zwei diffusen Sätzen, die darum kreisen, wie schlecht es ihnen gehe, verstummen, in sich zusammensacken, unruhig oder starr werden. Wenn also alle Versuche, einen verstehenden Kontakt zu gestalten, scheitern. Prekär ist diese Situation insbesondere dann, wenn wir kehrseitig ein enormes Gefährdungspotenzial wahrnehmen, das manifest nicht einmal artikuliert worden sein musste.

In solchen Situationen ist es angemessen, über eine stationäre Aufnahme mit dem Patienten zu sprechen. Wenn der Patient dies ablehnt, müssen wir uns fragen, für wie akut gefährdet wir den Patienten einschätzen? Besteht die Gefahr, dass er sich gleich im Anschluss an das Gespräch suizidieren wird? Gegebenenfalls müssen wir dann eine Zwangsmaßnahme ventilieren, mit der wir im Zweifelsfalle zwar ethisch und juristisch, aber darüber hinaus keineswegs auf der sicheren Seite sind. Denn sich bedroht und verfolgt fühlende Menschen können sich auch im stationären Setting suizidieren – und sie tun dies auch nicht selten.

Oft gelingt es durchaus, auch den unerreichbaren Patienten zu einer stationären Aufnahme zu bewegen, indem man zum Beispiel eben dieses Dilemma beschreibt: Die Wahrnehmung einer großen Not und Gefährdung einerseits und der situativen Unfähigkeit, von der gebotenen Hilfe Gebrauch zu machen andererseits. Auch durch das explizite Angebot einer poststationären ambulanten Behandlung und/oder einer adäquaten Medikation kann eine vorübergehende Entlastung und Entaktualisierung erreicht werden. In so schwierigen und dilemmatösen Situationen kann es überdies angezeigt und überaus hilfreich sein, kurzfristig eine Supervision oder ein kollegiales Fachgespräch in Anspruch zu nehmen.

In ganz und gar unauflöslichen und verstrickten Situationen kann es indes unumgänglich sein, die Behandlungsbeziehung zu beenden, wenn die akute Gefahr für den Patienten (unkontrollierbare Suizidimpulse) und den Therapeuten (gravierende juristische Konsequenzen) zu groß wird und sich durch die genuine therapeutische Technik des Übertragungs-Deutens nicht mildern und klären lässt. In einem solchen Fall, dem induzierten Behandlungsabbruch, muss aber zuvorderst die Einschätzung der Suizidalität stehen. Gleichermaßen gilt aber auch, dass eine therapeutische Beziehung unter massivem Beschuss und persistierenden Bedrohungen nicht fortgeführt werden kann und nicht fortgesetzt werden muss, unabhängig davon, wie hoch das Suizidrisiko einzuschätzen ist.

„Der Grad, zwischen altruistischen Wünschen, unseren Patienten zu helfen, und Allmachtsphantasien, sie zu heilen, ist schmal. Wir müssen uns vor der illusorischen Überzeugung hüten, nur wir allein könnten einem Patienten helfen und nur unsere einzigartige Persönlichkeit könnte ihm nützen, anstatt unser Wissen und unsere Technik. Wir müssen in unseren Grenzen als Analytiker sogar zulassen, einige Patienten zu verlieren. Diese Einsicht kann uns dabei helfen, masochistische Unterwerfungsszenarien zu vermeiden, bei denen wir uns in einer blinden und größenwahnsinnigen Anstrengung selbst opfern“, so Glen Gabbard.

Die zentralen Fragen in der Eingangsphase sind also die nach der Akuität der Suizidalität, der Basis- und Differenzialdiagnostik einschließlich der Abschätzung des Regressions- und Strukturniveaus, der Verknüpfung von aktuellem Auslöser und unbewusster Konfliktthematik sowie der potenziellen Qualität des Arbeitsbündnisses.

Die Behandlungsphase

Auch während einer hinreichend guten Behandlungsbeziehung kann es erneut zu einem unterschiedlich ausgeprägten suizidalen Erleben kommen, das aber häufig eine andere Qualität besitzt als die der agierenden und stürmischen Suizidalität des Auftakts. Patienten können in Kontakt mit abgespaltenen, schweren traumatischen Erfahrungen kommen, die (vorübergehend) als unaushaltbar empfunden werden und eine Zeit der tiefgreifenden Sinnlosigkeit, Ausweglosigkeit und Agonie nach sich ziehen. Das suizidale Erleben ist dann nicht mehr am Auslöser orientiert, es wirkt diffus, nebulös, kryptisch, sprachlos, gleichsam tief eingelassen in die Struktur und innere Welt des Patienten und in der Gegenübertragung nur als Stimmung wahrnehmbar. Die Fähigkeit des Therapeuten, ein angemessenes Containment während dieser suizidalen Aufwallungen zu gewährleisten, ist unverzichtbar und die originäre Deutungsarbeit auf das Minimalste zu beschränken.

Frau K. beispielsweise musste mir über viele Stunden immer wieder die Auffindesituation ihrer in der Wohnung ermordeten Mutter erzählen. Das fünfjährige Mädchen hatte etliche Stunden vor der abgeschlossenen Schlafzimmertür verharrt, weil die Mutter ihr ein Geschenk versprochen hatte, wenn die Tochter sie länger als bis neun Uhr schlafen ließe. Schließlich wandte sie sich voller Verzweiflung an einen Nachbarn, der die Tür aufbrach. Frau K. hatte diese Szene vergessen und erst wieder erinnert, als sie an ihrem Geburtstag eine gefühlte Ewigkeit auf ihren Freund gewartet hatte, der am Ende nicht kam, weil er nach einem Nachtdienst verschlafen hatte. In suizidaler Absicht habe sie sich daraufhin ein Messer in den Hals gerammt. Ich selbst erlebte mich in diesen „Erinnerungs-Stunden“, via projektiver Identifizierung, wie eben dieses Mädchen: starr, angewurzelt auf dem Stuhl, ohnmächtig, unfähig etwas zu tun oder zusagen, außer auszuhalten.

Sehr narzisstisch strukturierte Patienten wiederum können mit dem Erreichen der depressiven Position – oder ihren Vorhöfen – in Entsetzen über die eigene Destruktivität geraten. Durch den sich vergrößernden Realitätsbezug — nicht der andere, sondere ich bin böse — kann sich das suizidale Erleben deshalb erneut zuspitzen, weil der Prozess der realistischeren Selbstreflexion zur Überprüfung der eigenen Liebes- und Beziehungsfähigkeit zwingt.

Die Abschlussphase

Vor dem Hintergrund des klinischen Wissens, dass Suizidale häufig traumatische Trennungserfahrungen gemacht haben und eine unaushaltbare Trennung oft genug der aktuelle Auslöser der suizidalen Krise ist, kommt der Einleitung des Endes der Behandlung eine eminente Bedeutung zu. In der Regel kommt es in der Endphase nicht nur zu einer Reaktualisierung schmerzhafter Affekte, quälender Trauer oder depressiver Zustände, sondern auch zu einem mehr oder weniger ausgeprägtem Acting-in oder Acting-out. Durch eine rasante Befindlichkeitsverschlechterung kann der Patient den Therapeuten zu zwingen versuchen, das Ende hinauszuzögern oder gar gänzlich davon abzusehen. Nicht selten werden manifeste Suizid-Ankündigungen formuliert, die Terminierungen fallen mit dem Tag des Behandlungsendes zusammen oder werden kurz danach festgesetzt. Der Patient kann aber auch selbst, aus Rache, Wut und Groll im Sinne einer Wendung vom Passiven ins Aktive, das vorzeitige Ende bestimmen, indem er den letzten Stunden fernbleibt und damit Besorgnis, Angst und Unruhe im nun seinerseits verlassenen Therapeuten erzeugt, um sich zumindest in absentia im Anderen zu verankern. Gelegentlich versuchen Patienten, das drohende Ende aber auch durch eine Schwangerschaft, das Eingehen neuer Liebesbeziehungen oder die überstürzte Aufnahme einer weiteren Therapie zu bewältigen.

Grundsätzlich ist es fatal, wenn Therapeuten mit der Rolle des omnipotenten Retters identifiziert sind, denn „sie handeln häufig im Sinne der bewussten oder unbewussten Annahme, sie könnten ihm (dem Patienten, B.G.) die Liebe und Fürsorge geben, die andere ihm nicht geben konnten, und seinen Wunsch zu sterben dadurch auf magische Weise in den Wunsch zu leben verwandeln“, so wieder Gabbard. Was auf diese Weise aus dem Blick gerät ist, dass der Patient dem Therapeuten projektiv die Rolle des Scharfrichters zugewiesen hat, dem er beweisen will, dass nichts was er tut, je ausreichen und gut sein wird, so Herbert Hendin bereits 1963: „Somit ist es paradoxerweise, der Arzt, der sich so sehr anstrengt, den Patienten am Leben zu halten, der ihn, unbewusst, am ehesten zu dem treibt, was ihm mittlerweile als einzige noch mögliche autonome Handlung bleibt – nämlich Selbstmord.“ Das heißt übersetzt für die Abschlussphase, dass die Lockerung des Rahmens oder die manipulativ erzwungene Rücknahme der Beendigung keineswegs eine suizidprophylaktische Wirkung entfaltet, sondern kontraproduktiv die Verfestigung einer sadomasochistischen Verclinchung sowie ein suizidales Agieren induzieren kann.

Zusammengefasst besteht das Kernziel der Behandlung Suizidaler nicht darin, suizidales Erleben und suizidale Phantasien wie einen malignen Virus ein für alle Mal auszutreiben, sondern einen inneren Raum zu schaffen, der es dem Patienten ermöglicht, mittels seiner gewonnenen selbstanalytischen Fähigkeiten über sein Empfinden nachzudenken, es auszuhalten und sinnhaft zu kontextualisieren. Allein dadurch kann der affektiv aufgeladene Handlungsdruck langfristig bezähmt und in Repräsentations- und Symbolbildungen transformiert werden.

 

Schlussbemerkung

 

Suizidalität ruft reflexhaft die Frage nach dem Warum auf und konfrontiert auch die Fernstehenden mit der Ahnung, es könne um diese Gesellschaft nicht zum Besten bestellt sein, wenn so viele Menschen bereit sind, total mit ihr zu brechen – um den Preis ihres Lebens. Die traditionell medizinisch-psychiatrische Krisenintervention war stets eher handlungsorientiert und managend am äußeren Auslöser orientiert, geleitet von der Vorstellung, durch die Veränderung äußerer Rahmen- und Lebensbedingungen suizidprophylaktisch wirksam sein zu können.

Suizidalität kann hingegen in ihren komplexen Bedeutungsfacetten psychodynamisch verstanden und behandelt werden, sofern dafür ein adäquates Behandlungskonzept und ein angemessener Zeitrahmen zur Verfügung steht.

Denn die Behandlung suizidgefährdeter Menschen braucht vor allem Zeit und einen stabilen Rahmen, wie überhaupt psychische Veränderungsprozesse nicht beliebig verdichtet oder beschleunigt werden können. Hier ist zudem die hohe Rezidivquote von signifikanter Relevanz: Jeder Dritte wiederholt einen Suizidversuch, und jeder Zehnte, der schon einmal einen Suizidversuch unternommen hat, stirbt durch einen Suizid.

In ethischen und philosophischen Diskursen wird gern mit der Sentenz von Jean Améry (1976), der vom Suizid als einem Privileg des Humanen sprach, die Selbsttötung als freie Willensentscheidung und Selbstbestimmungsrecht legitimiert. Dabei wird stets die von Améry nachgesetzte Forderung außer Acht gelassen, dass eine Gesellschaft dafür sorgen solle, dass von diesem Privileg kein Gebrauch gemacht werden müsse.

Das Problem stellt sich also anders dar und weist weit über die Frage der Selbstbestimmung hinaus: Wie sich gezeigt hat, verfügt die zeitgenössische Psychoanalyse über komplexe ätiopathogenetische Erklärungsmodelle und klinisch profunde Behandlungstechniken, die aber noch längst keine angemessene Implementierung in die psychiatrisch-psychotherapeutische stationäre wie ambulante Versorgungslandschaft gefunden haben. Während insbesondere infolge der Suizide von Prominenten der Ruf nach wirksamer Suizidprophylaxe laut wird, verebbt er rasch im Zuge der Diskussion um adäquate Behandlungsmöglichkeiten, die nämlich, wenn sie einen angemessenen und unverzichtbaren Zeitrahmen veranschlagen, im Gegensatz zur favorisierten medikamentös und krisenorientierten Intervention, als zu aufwendig und zu kostenintensiv diskreditiert werden.

Wenn wir aber die Erschütterungen, die von einem öffentlichen Suizid, dem Suizid eines Patienten oder suizidalen Angehörigen ausgehen, konsequent ernst nehmen und konstruktiv nutzen wollen, dann wird es unerlässlich sein, über dieses auch gesundheitspolitisch relevante Phänomen auf der Basis der elaborierten psychoanalytischen Verstehens-, Erklärungs- und Behandlungsmodelle neu nachzudenken, um mittel- und langfristig eine wirklich nachhaltige Suizidprophylaxe zu gewährleisten, mit all ihren ökonomischen, gesellschaftlichen und soziokulturellen Folgen.

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