Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrte Frau Professor Nussberger, was kann man nach einer solchen wirklich großen Sternstunde sagen?
Ich beginne mit dem Blick auf die Wiederauferstehung einer Kirche, am Sonntag wurde Notre Dame de Paris wiedereröffnet. Dazu darf ich eine persönliche Anmerkung machen: Genau vor 50 Jahren begann ich mein Studium in Paris, und deswegen ist diese Kirche mir natürlich besonders nahe. Viele Artikel sind über die Neueröffnung geschrieben worden; ich hätte mir dazu einen Artikel von Romano Guardini gewünscht. Was hätte er wohl geschrieben? Auch angesichts so vieler anderer Bilder, von denen wir eben gehört haben, was Europa ausmacht, was in Europa los ist. Manches erlebe ich in diesen Jahren als einen Zivilisationsrückschritt, den ich nicht erwartet habe und erst recht nicht erhofft hatte.
Doch schauen wir einmal auf Notre Dame de Paris: Wir spüren, hier geschieht mehr als die Renovierung einer Kirche, die gebrannt hat. Sie ist ein Symbol für Europa, für den Westen, für unsere Kultur. Können wir den Westen verstehen ohne das Christentum? Nein, sicher nicht. Ich gehe darüber hinaus: Können wir die Welt verstehen ohne die Weihnachtsgeschichte? Diese Geschichte hat die ganze Welt geprägt. Was bedeutet es, dass Gott Mensch wird, dass alle Menschen Brüder und Schwestern sind und dass jeder Mensch ein Bild des lebendigen Gottes ist, ob schwarz oder weiß, Mann oder Frau, arm oder reich, behindert oder gesund? Alle sind Bild Gottes! Keine andere Religion sagt das in dieser Radikalität, wie es die ersten Seiten der Heiligen Schrift im Buch Genesis beschreiben. Hat die Kirche, haben die Christen immer auf dem Niveau dieser Aussage gelebt? Sicher nicht! Aber es ist geschrieben, und es galt immer als Orientierungspunkt. Notre Dame ist eine Kirche, aber eben auch Ausdruck einer Zivilisation, die geprägt ist von diesem Denken. Und das ist so wichtig.
Wir können Recht und Gerechtigkeit immer wieder aufeinander beziehen. Aber das Thema Freiheit gehört dazu, Freiheit bringt die beiden zueinander. Für die Demokratie sind die Gesetze, ist der Rechtsstaat notwendig, aber nicht hinreichend. Es reicht nicht aus. Es braucht den Willen, das umzusetzen. Es braucht den moralischen Impuls, vom Anderen her zu denken. Es braucht das Engagement über das hinaus, wozu ich rechtlich verpflichtet bin. Eine Demokratie lebt erst dann, wenn viele, wenn im Grund alle mehr tun als das, wozu sie gesetzlich verpflichtet sind. Das Minimum ist es, zur Wahl zu gehen, eine Familie zu gründen. Paul Kirchhof hat einmal gesagt: Man stelle sich vor, es ist Wahl und keiner geht hin. Das wäre auch das Ende der Demokratie. Man braucht also das Engagement aller, und das ist nicht immer da. Aber wir sehen auch immer wieder, dass Menschen sich einsetzen und auf den Anderen zugehen, inspiriert aus den Quellen des Glaubens.
Nehmen wir etwa das Element der Versöhnung. Wir erleben es in der Kirche, in der Weltgeschichte und in allen anderen Bereichen. Es muss Aufarbeitung geben und Gerechtigkeit muss annäherungsweise hergestellt werden. Aber es braucht am Ende auch die Fähigkeit zur Versöhnung. Nicht umsonst haben die früheren Friedensverträge in Europa auch diesen Aspekt mitberücksichtigt. Bis zum Wiener Kongress wurden Verträge In Nomine individuae Trinitatis – Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit – abgeschlossen. Und die Besiegten saßen bei den Friedensverträgen mit am Tisch. Es gab das sogenannte Pactum Oblivionis, das besagte, dass man die Schuldfrage eben nicht bis zum Letzten klären kann, sondern irgendwann wieder alle miteinander leben müssen. Das gilt auch heute für Russen und Ukrainer, das gilt für Palästinenser und Israelis: Irgendwann müssen Menschen wieder miteinander leben können. Und da reicht es nicht aus, bis zum Letzten alles aufzuarbeiten. Das ist keine Kritik am Recht, sondern das markiert die Grenzen dessen, was Gerechtigkeit herstellen kann.
Im Grunde ist das nur in einem religiösen Kontext möglich, dass es noch einmal eine Versöhnung gibt, die nicht nur unsere Sache ist. Das hat Jürgen Habermas einmal sehr schön gesagt. Bei zwei Punkten habe er, der religiös unmusikalisch sei, noch Fragen an die Religion, was noch unabgeschlossen sei in der Moderne: erstens der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf. Wenn ich diesen Unterschied aufhebe und Menschen andere Menschen produzieren, dann ist die Demokratie am Ende, dann gibt es keine Gleichheit mehr. Und zweitens Gerechtigkeit für die Opfer der Geschichte, für Auschwitz, für die Toten in der Ukraine oder wo immer in der Welt, für alle unschuldig umgebrachten Menschen. Gibt es Gerechtigkeit für diese Menschen? Das kann nicht mit weltlichen Mitteln hergestellt werden. Aber es ist wichtig, Gerechtigkeit und Freiheit menschenmöglich auf den Weg zu bringen.
Das ist im Grunde auch immer mein Lebensthema geblieben, und daran müssen wir weiterarbeiten. Hegel hat gesagt: „Institutionen sind Orte konkreter Freiheit.“ Und bei Goethe heißt es in schönen Vers-Zeilen: „Vergebens werden ungebundene Geister nach der Vollendung reiner Höhe streben. Wer Großes will, muss sich zusammenraffen. In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.“ Das sind wichtige Worte! Und doch ist das Gesetz eben auch begrenzt und es braucht etwas anderes, einen anderen Raum.
Gestern wurde ich beim Interview für die Weihnachtsausgabe vom Münchner Merkur gefragt: Worin sehen Sie denn die besondere Krise der Demokratie? Meine Antwort: Im Misstrauen. Damit beginnt die Erosion des Zusammenlebens. Das war schon in der Finanzkrise so. Denn wie konnte es damals zu dieser Krise kommen? Irgendwann haben die Leute angefangen, einander nicht mehr zu vertrauen, die Banken haben einander nicht mehr vertraut, die Institutionen haben nicht mehr funktioniert. Und das ist genau das, was die Populisten wollen: Sie untergraben das Vertrauen in die Institutionen, in den Rechtsstaat, sie behaupten, dass diese Institutionen von Eliten beherrscht werden. Diese Rede ist ja in den autoritären Regimen gang und gäbe; deswegen stürzen sich autoritäre Regime sofort auf die Gerichte, auf die Justiz.
Über diese komplexen Zusammenhänge wird derzeit viel geschrieben und debattiert. Ich lese gerade von Anne Applebaum Die Achse der Autokraten und von Martin Schulze Wessel Der Fluch des Imperiums. Beides kann ich nur empfehlen! Auch Giuliano da Empoli, der in seinem Roman Der Magier im Kreml Putins Denken großartig beschreibt. Wenn man verstehen will, was in diesen Köpfen los ist, kann man sich also ganz gut informieren.
Die Arbeit ist nicht zu Ende. Wir müssen weiter daran wirken, die Demokratie zu stärken. 1989 – Die Euphorie ist vorüber; Sie haben es benannt. 1986 – die große Ikone des 20. Jahrhunderts: Johannes Paul II. in Assisi mit den Weltreligionen als Kräfte des Friedens. Und heute sind sie – nicht alle, nicht überall – auch Teil des Problems. Und das erschüttert mich zutiefst.
Gerade weil wir motivierte Menschen brauchen – und die Kräfte der Religion können Menschen wirklich motivieren –, die etwas in Gang setzen, die sich engagieren, ist es so wichtig, dass der Glaube lebendig ist, dass wir nicht aufgeben, dass wir den Zivilisationsrückschritt, den wir im Augenblick erleben, nicht hinnehmen. Da bin ich ganz bei Ihnen! Und deswegen danke ich Ihnen sehr für Ihren Beitrag, für Ihr lebendiges Mittun in dieser öffentlichen Debatte. Und Ihr alle seid aufgerufen: Legt die Hände nicht in den Schoß. Bemüht Euren Geist und setzt Euch ein für Gerechtigkeit und Freiheit.
Herzlichen Glückwunsch, verehrte Frau Professor Nußberger, zum Romano-Guardini-Preis!