Zum Wohle des Kindes?

Intergeschlechtlichkeit zwischen Pathologisierung und Tabu

Im Rahmen der Veranstaltung Inter* und Trans*, 26.10.2022

© Mac99, iStockphoto

Ich bedanke mich für die Einladung und die Möglichkeit, als Mutter eines intergeschlechtlichen Menschen hier sprechen zu dürfen. Ein paar Anmerkungen vorweg: Mein Kind hat einen erfüllenden Beruf, einen großen Freundeskreis und lebt in einer wunderbaren Partnerschaft. Alle Ängste, die ich nach der Mitteilung der „Diagnose“ hatte, haben sich längst zerstreut. Und zur verwendeten Sprache: Ich verwende Begriffe, die möglicherweise anwesenden intergeschlechtlichen Menschen ein Problem bereiten oder diese sogar retraumatisieren. Ich versuche dies zu vermeiden, indem ich mich bemühe, diese Begriffe in den Zusammenhang zu stellen, in dem sie verwendet werden, nämlich in der Medizin, und erkläre, warum sie pathologisierend sind und welche Alternativen es gibt.

Geschlecht ist vielfältiger als mancher denkt: Ein neugeborenes Kind hat ein morphologisches Geschlecht, welches wir ihm ansehen, wenn wir es nackt betrachten. Das tut auch die Hebamme, die das Kind gleich nach seiner Geburt einem Geschlecht zuordnet, das man auch als Hebammengeschlecht bezeichnet. Den Eltern eines intergeschlechtlichen Kindes wird sie vielleicht sagen: „Ich kann es aufgrund der Genitalien weder männlich, noch weiblich zuordnen.“ Daraus folgt dann die Frage nach dem Personenstandsgeschlecht, also der Eintragung in das Personenstandsregister. Die Eltern dieses Kindes können nun den Personenstand offen lassen, sie können ihr Kind aber auch als divers, männlich oder weiblich eintragen lassen – unabhängig von dem Erziehungsgeschlecht, das sie im alltäglichen Leben wählen. Auf biologischer Ebene gibt es neben dem morphologischen Geschlecht auch noch das genetische, das hormonelle und das gonadale bzw. Keimdrüsengeschlecht – und wir werden feststellen, wie vielfältig und keineswegs binär diese verschiedenen Geschlechtskategorien sind. Zusätzlich betrachten wir das soziale Geschlecht – was sich darauf bezieht, wie wir von unserem sozialen Umfeld „gelesen“ werden. Und schließlich gibt es die Geschlechtsidentität, die ich bei einem Kind eher die „geschlechtliche Selbstwahrnehmung“ nenne, die ja noch sehr stark durch geschlechtliche Zuweisung aus dem sozialen Umfeld geprägt ist und erst mit zunehmender Selbstreflektion zu einer Identität wird. Ich finde es übrigens immer wieder interessant, dass die Geschlechtsidentität nicht zum biologischen Geschlecht gezählt wird, obwohl ja unsere Identität, unsere Selbstwahrnehmung auf einer durchaus biologischen Struktur, vielleicht sogar der wichtigsten – unserem Gehirn – beruht.

Ich gehe zunächst näher auf das biologische Geschlecht ein: Nach landläufiger Vorstellung ist es so, dass sich die jeweiligen Summen der genetischen, hormonellen und morphologischen Merkmale zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht klar abgrenzen lassen. Wir stellen uns vor, dass sowohl weibliche Merkmale als auch männliche Merkmale natürlich Größen- und Formvariationen aufweisen, aber dennoch mit einer Gauß’schen Normalverteilungskurve darstellbar sind und dass diese Normkurven getrennt nebeneinander stehen. In Wirklichkeit haben wir eine Verteilung der geschlechtstypischen Eigenschaften, die so aussieht, dass die beiden Normkurven sich stark überschneiden. In diesem Überschneidungsbereich kann man die meisten Formen der Intergeschlechtlichkeit verorten. Es wird allerdings ein bisschen schwierig, von Überschneidungen zu sprechen, wenn wir den genetischen Bereich betrachten. Hier haben wir zusätzlich zu den Chromosomensätzen 46,XX und 46,XY auch die folgenden Varianten: 45,X0; 47,Triple-X; 47,XXY; 48,Poly-X sowie deren Mosaike, und sogar Mosaike aus diploiden und tetraploiden Chromosomensätzen kommen vor. Die Vielfalt der chromosomalen Geschlechter ist hoch, gleiches gilt auch für die morphologischen Geschlechtsmerkmale.

Varianten der Geschlechtsorgane

Von der Entwicklung der Organe her betrachtet, sind Klitoris und Penis homolog, nicht Penis und Vagina. Es gibt eine Vielzahl von Übergängen zwischen Penis und Klitoris, aber auch zwischen Hodensack und Vulvalippen, die ebenfalls homologe Organe sind. Die Möglichkeiten für Varianten der Geschlechtsentwicklung sind zahlreich: Es gibt Menschen, die haben je einen Hoden und einen Eierstock oder gemischtes Gonadengewebe auf beiden Seiten, andere haben z. B. Penis, Hoden und Uterus. Es gibt Menschen mit komplett weiblichem Erscheinungsbild, im Bauch liegenden Hoden und hohem Testosteronspiegel. Es gibt Menschen mit ausschließlich männlich zugeordneten primären Geschlechtsmerkmalen und weiblich zugeordneten sekundären Merkmalen. Die genannten Beispiele sind nur ein kleiner Ausschnitt der möglichen Varianten.

Die biologische Vielfalt ist extrem hoch und diese Vielfalt ist logisch, wenn man sich die embryonale Geschlechtsentwicklung ansieht: Am Anfang steht die befruchtete Eizelle, die einen bestimmten Chromosomensatz hat. Bis etwa zur achten Schwangerschaftswoche kommt es durch Ablesung der genetischen Informationen zur Zellvermehrung und zu ersten Differenzierungen in verschiedene Gewebe. So entstehen im Innern des Embryos paarige Keimdrüsenanlagen, die zunächst weder Hoden noch Eierstöcke sind, und undifferenzierte paarige Geschlechtsgänge (Müllersche Gänge und Wolffsche Gänge). Äußerlich sichtbar entstehen Geschlechtshöcker und Geschlechtsfalten.

Ab der 8. Schwangerschaftswoche differenzieren sich die Keimdrüsenanlagen zu Hoden oder Eierstöcken, die sich weiter differenzieren und Hormone produzieren. In der weiteren Geschlechtsentwicklung kommt es zur Wechselwirkung zwischen Hormonen und den dazu passenden Rezeptoren in einer Art Schlüssel-Schloss-Prinzip. In den Fällen, in denen der Rezeptor oder das Hormon verändert sind, passen diese nicht mehr zueinander. Unter anderem davon ist natürlich abhängig, ob Hormone wirken und wie sie wirken. Unter der Hormonwirkung an den Zielzellen kommt es dann zur Ausbildung der körperlichen Geschlechtsmerkmale. Bei den meisten Jungen entwickeln sich aus den Gonadenanlagen Hoden, die in den Hodensack absteigen und Hormone, u. a. Testosteron, produzieren. Die Wolffschen Gänge differenzieren sich zu Nebenhoden, Samenleitern und Harnsamenleiter. Der Harnsamenleiter mündet dann bei den meisten Jungen an der Spitze des Penis. Bei den meisten Mädchen differenzieren sich die Gonadenanlagen zu Eierstöcken und unter dem Einfluss von Östrogenen kommt es zur Differenzierung der Müllerschen Gänge zu Eileitern, Uterus und dem oberen Teil der Vagina (der untere bildet sich von außen). Ebenfalls unter dem Einfluss von Hormonen wird aus dem Geschlechtshöcker bei den Jungen der Penis, bei den Mädchen die Klitoris und aus den Geschlechtsfalten werden Vulvalippen oder Hodensack.

Das ist die sogenannte „normale“ Entwicklung. Nun kommen wir zu den Variationen: Bei Jungen bewirkt ein bestimmtes Hormon, das sogenannte Anti-Müller-Hormon, dass die Müllerschen Gänge sich nicht zu weiblich gelesenen Organen ausbilden. Wenn dieses Anti-Müller-Hormon von Rezeptoren nicht erkannt wird oder eine andere Besonderheit in der hormonellen­­
Ausstattung vorliegt, dann kann ein Kind, das wir aufgrund äußerer Merkmale männlich lesen, dennoch Eileiter, Uterus und einen Teil der Vagina haben. Aus dem Geschlechtshöcker werden ein Penis oder eine Klitoris. Wenn aber beide Organe aus derselben embryonalen Struktur entstehen, dann muss es Übergangsformen geben. Denn so funktioniert die Natur. Es gibt große Nasen und kleine Nasen, große Ohren und kleine Ohren. Warum sollte es ausgerechnet bei diesem Organ nicht auch Größenunterschiede geben? Und die Entscheidung, ob wir von einer Klitoris sprechen oder von einem Penis oder ob wir von einer zu großen Klitoris oder einem zu kleinen, sog. „Mikropenis“, sprechen, diese Entscheidung trifft die Medizin. Ein Penis, der bei der Geburt kleiner ist als 2 Zentimeter, gilt als Mikropenis. Eine Klitoris, die bei der Geburt größer ist als 0,5 Zentimeter, gilt als hypertrophe Klitoris. Aber diese Zuordnung ist willkürlich, da beide gleich aufgebaut sind: Auch bei der Klitoris gibt es einen Schaft und eine Eichel und beide haben Schwellkörper. Sogar die Drüsen (z. B. die Bartholinschen Drüse und die Cowpersche Drüse) sind an vergleichbarer Stelle und haben eine ähnliche Funktion. Die Vorstellung, dass die Genitalien von Männern und Frauen völlig unterschiedlich gebaut sind, stimmt also einfach nicht.

So kommt es zu zahlreichen Übergangsformen, etwa bei einem Kind mit Penis, Hoden, Hodensack und Gebärmutter, oder einem anderen mit einer Vagina und einer Vulva, einer sehr großen Klitoris und Hoden im Bauchraum. In solchen Fällen sind die körperlichen Geschlechtsmerkmale nicht alle einem Geschlecht zuzuordnen. Es handelt sich also um intergeschlechtliche Kinder. Wie sie sich geschlechtlich verorten – also ob intergeschlechtlich, männlich, weiblich oder in einer individuellen Kategorie – ist abzuwarten und dann zu akzeptieren. Die Zahl der intergeschlechtlichen Menschen kann nur geschätzt werden. In der Literatur finden sich viele Angaben, die meist zwischen 1:100 und 1:2000 variieren, je nach Definition.

Pathologisierung der Mutation

Ursache der Varianten der Geschlechtsentwicklung sind natürlich meistens Mutationen. In meinem Biologie-Studium wurde mir vermittelt, dass Mutationen beim Menschen immer als krankhaft gelten. Aber der Begriff Mutationen ist kein Synonym für Krankheit oder Erkrankung. Mutationen sind oft spontane Änderungen des Erbgutes, manchmal auch hervorgerufen durch mutagene Einflüsse, und sie sind eine Voraussetzung für Evolution. Ohne Mutationen wären wir heute noch in dem Stadium von Mikroben. Ich weiß nicht, ob wir uns das wünschen. Als ich in Pension ging und meine Fachkolleg:innen wussten, dass ich das Thema Intergeschlechtlichkeit sehr offensiv vertrete, wurde mir vom Biofachobmann mit den folgenden Worten ein großer Blumenstrauß überreicht: „Wir wollten dir etwas Passendes schenken und haben uns hierfür entschieden: Es sind lauter Geschlechtsorgane.“ Und da habe ich ihn angestrahlt und gesagt: „Ja, und alles Zwitter*! Wunderbar, Danke!“ Das muss man sich klarmachen: Die Blüten, die wir so schön finden, sind fast alle zwittrig. Und beim Menschen finden wir das nicht schön. Warum nicht?

Damit komme ich zur Ursache für die bis heute andauernde Pathologisierung der Intergeschlechtlichkeit. Die Medizin hat die Deutungshoheit über intergeschlechtliche Menschen und über den Krankheitswert ihrer Körper. Sie bestimmt bis heute die Nomenklatur. Auch heute noch gibt es medizinische Institute mit dem Namen „Institut für genitale Fehlbildungen“. Und damit beansprucht die Medizin auch die Deutungshoheit über die Notwendigkeit medizinischer Interventionen. Dies zeigt auch die sogenannte DSD-Klassifikation, die auf der Chicago Consensus Konferenz (2005) festgelegt wurde. Sie enthält viele pathologisierende Begriffe, wie z. B. Aberration, Syndrom, Dysgenesie, Regression, Hyperplasie. Und diese Begriffe werden auch heute noch verwendet, wenn intergeschlechtlichen Menschen ihre „Diagnose“ mitgeteilt wird. Und auch gegenüber Eltern intergeschlechtlicher Kinder werden Begriffe aus dieser Klassifikation verwendet. Damals hat man gemeint, die Bezeichnung DSD sei wertfrei, aber die Langform lautete damals „Disorders of Sex Development“. Inzwischen verwenden manche Ärzt:innen die Langform „Differences of Sex Development“ oder sprechen von Varianten der Geschlechtsentwicklung (VdG). Aber genau betrachtet hat jeder Mensch seine eigene Variation der Geschlechtsentwicklung – Vielfalt als Norm!

Wandel in der medizinischen Bewertung

Der medizinische Umgang mit intergeschlechtlichen Kindern war seit den 1960ern bis vor wenigen Jahren durch die sog. „Optimal Gender Policy“ geprägt. Wenn ein Kind weder eindeutig Junge noch eindeutig Mädchen war, wurde sein Geschlecht als uneindeutig bezeichnet und dies zum medizinischen Notfall deklariert. Die Zuweisung eines männlichen oder weiblichen Geschlechts wurde als Voraussetzung für eine stabile Persönlichkeitsentwicklung postuliert und die Anpassung des äußeren und inneren Geschlechts an dieses zugewiesene, meist weibliche Geschlecht, war dann die Folge. Das heißt, es wurde versucht, durch Operationen im Sinne einer Heilbehandlung Eindeutigkeit herzustellen. Diese geschlechtsverändernden Operationen wurden zum größten Teil schon im Babyalter durchgeführt. „Das machen wir, solange die Windeln noch dran sind“ (Zitat einer Ärztin). Es wurde z. B. eine sehr große Klitoris operativ verkleinert – mit dem Risiko, die Empfindungsfähigkeit zu beschädigen. Es kam manchmal zu mehrfachen Nachoperationen, oft mit entsprechender Narbenbildung im Genitalbereich. Es wurde bei Kleinstkindern eine künstliche Vagina (Neovagina) eingesetzt, die dann oft durch die eigenen Eltern über einen langen Zeitraum „bougiert“ werden musste. Das bedeutet, dass diese zwei-, dreimal in der Woche mit dem Finger oder mit Stäben in die Vagina ihres Babys eindringen und diese weiten mussten. Es wurden funktionierende Keimdrüsen entnommen, obwohl das eigentlich durch das Kastrationsverbot untersagt ist. Aber auch hier wurde durch ein angenommenes „Entartungsrisiko“ dieser Eingriff zur Heilbehandlung deklariert, ohne zu berücksichtigen, dass diese eine lebenslange Substitution mit künstlichen Hormonen mit teilweise schwerwiegenden Nebenwirkungen nach sich zog. Und wir haben noch vor wenigen Jahren erlebt, dass empfohlen wurde, einem Jungen die Gebärmutter zu entnehmen. Es gab keine medizinische Indikation für diese Empfehlung, möglicherweise stand dahinter die Vorstellung: „Es ist ja ein Junge, in diesen Körper gehört keine Gebärmutter“. Diese Vorstellung, etwas aus einem Körper herauszunehmen, was da nicht hineingehört, war sehr weit verbreitet.

Inzwischen ändert sich die Einstellung vieler Mediziner:innen. Ich habe hier Zitate aus den medizinischen Leitlinien: „Das Bewusstsein der Unzulänglichkeit des ‚entweder-oder‘ von Zweigeschlechtlichkeit ermöglicht der Fachperson, gemeinsam mit der betroffenen Person und deren Angehörigen, das Feld des gelebten Geschlechts neu zu entdecken und zu definieren.“ (Quelle: S2k-Leitlinie 174/001: Varianten der Geschlechtsentwicklung aktueller Stand: 07/2016 S. 4) Oder: „Jene Mehrgeschlechtlichkeit kann auch für das Selbstverständnis Nichtbetroffener existenzielle Aspekte liefern.“ (Quelle: S2k-Leitlinie 174/001: Varianten der Geschlechtsentwicklung aktueller Stand: 07/2016 S. 4) Oder – diesen Satz zitiere ich besonders gerne: „Der Umgang mit Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung ist in der Regel ein gesellschaftspolitisches Problem und muss im gesamtgesellschaftlichen Rahmen bedacht werden.“ (Quelle: S2k-Leitlinie 174/001: Varianten der Geschlechtsentwicklung aktueller Stand: 07/2016 S. 4) Intergeschlechtlichkeit ist per se kein medizinisches Problem. Es gibt nur sehr wenige Formen von Intergeschlechtlichkeit, bei denen man medizinisch eingreifen muss.

Und einen weiteren Satz der Leitlinie möchte ich zitieren: „Die UN-Kinderrechtskonvention hebt hervor, dass für Eltern das Wohl des Kindes Grundanliegen für deren Erziehung sein soll. Eine Entscheidung im Sinne des Kindeswohls ist nur sachgemäß möglich, wenn dem Kind selbst Gehör geschenkt wird.“ (Quelle: S2k-Leitlinie 174/001: Varianten der Geschlechtsentwicklung aktueller Stand: 07/2016 S. 4)

Das aktuelle Personenstandsgesetz bietet für intergeschlechtliche Kinder die Möglichkeit, den Geschlechtseintrag einfach offen zu lassen. Wenn die Intergeschlechtlichkeit bei der Geburt gar nicht erkannt wird, sondern erst später, z. B. im Pubertätsalter, dann kann ebenfalls über das Personenstandsgesetz eine Änderung des Geschlechtseintrags und auch eine Änderung der Vornamen vorgenommen werden.

Seit 2021 gibt es das Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Operationen an nicht einwilligungsfähigen Kindern, die allein der Angleichung an ein Normgeschlecht dienen, sind danach verboten. Dieses Gesetz hat aber Probleme: Zum Beispiel wird Einwilligungsfähigkeit nicht definiert. Des weiteren steht dort „die allein der Angleichung dienen, ohne dass ein weiterer medizinischer Grund hinzutritt“. (Quelle: Bundesgesetzblatt Jahrgang 2021 Teil I Nr. 24, ausgegeben zu Bonn am 21. Mai 2021, S.1082) Daher kann es vorkommen, dass Kinder an der Vagina operiert werden, weil es einen gemeinsamen Ausführgang von Vagina und Harnleiter gibt, dann aber gleichzeitig auch die Klitoris verkleinert wird, was medizinisch gar nicht notwendig wäre. Und auch das Argument „Die Kinder müssen wir operieren, damit sie im Kindergarten nicht gemobbt werden.“ habe ich persönlich in Gesprächen mit Mediziner:innen bereits gehört. Da wird dann kurzerhand statt einer medizinischen Indikation die psychische Gesundheit ­
ins Feld geführt.

Intergeschlechtlichkeit in der Familie

Der Blick der Eltern auf Intergeschlechtlichkeit ist weiterhin durch die Medizin geprägt, vor allem durch die sprachliche Form, in der meist die „Diagnose“ mitgeteilt wird: „Wir haben da ein Problem“ oder „Ihr Kind hat das …-Syndrom“. Mir wurde einmal gesagt: „Ihr Kind sieht syndromig aus.“ Das fand ich ganz furchtbar – was auch immer diese Person darunter verstand. Störungen der Geschlechtsentwicklung oder Fehlbildungen des Genitals sind Begriffe, die Eltern mitgeteilt werden. Nun stellen Sie sich folgendes vor: Sie erwarten ein Baby und freuen sich auf die Geburt. Sie erwarten, dass Ihnen nach der Geburt gesagt wird: „Herzlichen Glückwunsch, Sie haben ein Baby bekommen, ist es nicht schön?“ Aber sie bekommen dann die Worte zu hören: „Wir haben jetzt ein Problem. Ihr Kind ist nicht normal, es hat eine genitale Fehlbildung. Da liegt eine Störung der Geschlechtsentwicklung vor. Es handelt sich wahrscheinlich um das folgende Syndrom …“ Und dann kommen vielleicht noch weitere, oft unbedachte Äußerungen dazu. Mir wurde erzählt, dass eine Hebamme im Kreißsaal laut ausrief: „Oh Gott, ein Zwitter. Wie schrecklich für die Eltern!“

Das verhindert natürlich eine normale Beziehung der Eltern zum Kind. Und es erzeugt oft ein Konglomerat von negativen Gefühlen: Da ist diese Angst um das Lebensglück des Kindes, manchmal auch ein Schamgefühl. Und dann ist da dieses Tabu: „Das dürfen Sie niemals jemandem sagen.“ Ich kenne diese Situation. Ich habe mich nie für mein Kind geschämt, sondern es von Anfang an so angenommen, wie es war. Aber ich habe mich schon auch gefragt: Habe ich etwas falsch gemacht in der Schwangerschaft? Und ich hatte Angst! Angst davor, dass die Intergeschlechtlichkeit entdeckt werden könnte, dass mein Kind ausgegrenzt werden könnte, dass es in der Schule gemobbt werden könnte und dass es unglücklich wird. Und das Schweigegebot hat man mir auch auferlegt: „Das dürfen Sie niemals jemandem sagen, nicht einmal Ihren Eltern und Geschwistern.“ Ich habe mich zwar nicht vollständig an diese Forderung gehalten, aber es hat schon sehr lange gedauert, bis ich in der Lage war, so wie heute öffentlich darüber zu sprechen.

Inter-Kinder erleben in ihrem sozialen Umfeld eine Zweigeschlechtlichkeit als Norm: Spiele „Jungen gegen Mädchen“, „Liebe Schülerinnen und Schüler“, Mädchen- und Jungen-Umkleiden und -Toiletten, Sporttabellen für Mädchen und Jungen. Intergeschlechtlichkeit kommt im Biologieunterricht nicht vor, und sie hören das Wort „Zwitter“ als Schimpfwort auf dem Pausenhof. Damit erleben sie permanente Ausgrenzung.

Es werden im Sexualkundeunterricht Normen vermittelt. Und ganz viele intergeschlechtliche Menschen haben dieses Problem aus ihrer Kindheit und Jugend beschrieben: „Ich habe mich gefühlt wie ein Monster, wie ein Alien. Mich gab es doch gar nicht.“ Wie soll man da ein Selbstwertgefühl entwickeln? Inter-Kinder erleben Klassen- und Vertrauenslehrkräfte, die nichts wissen oder sogar Angst haben, darüber zu sprechen. Und das betrifft sogar Schulpsycholog:innen, die in ihrer Ausbildung oft gar nichts über Intergeschlechtlichkeit erfahren haben. Wenn man von etwas keine Ahnung hat, ist man unsicher. Dazu kommt noch die Verwechslung von Inter-Kindern mit Trans-Kindern … Wir wissen, dass die Suizidgefahr bei intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen hoch ist. Das hat auch mich stark belastet, als mein Kind in der Pubertät war. Wenn ich aus der Schule kam und mein Kind früher Schulschluss gehabt hatte, bin ich oft mit der Angst nach Hause gefahren: „Hoffentlich tut sich mein Kind nicht irgendwann etwas an!“ Wir kennen aus der Selbsthilfe Menschen, die aufgrund von auffälligem Verhalten in der Jugendpsychiatrie waren, wo sich dann herausstellte, dass ihre körperlichen Besonderheiten oder sogar frühere Operationen im Elternhaus nicht besprochen wurden.

In der Gesellschaft ist Intergeschlechtlichkeit kaum bekannt und wird auch hier mit Transidentität verwechselt. Die Forderung nach einer geschlechtersensiblen Sprache wird als „Gender-Gaga“ lächerlich gemacht. Die Arbeit von Inter-Aktivist:innen wird diffamiert, mir wurde aufgrund meines Buches für den Kindergarten „Frühsexualisierung“ vorgeworfen.

Der Umgang der katholischen Kirche mit Intergeschlechtlichkeit

In der Schrift Als Mann und Frau schuf er sie von der Kongregation für das katholische Bildungswesen, heißt es: „In diesem Licht versteht man das Fazit der biologischen und medizinischen Wissenschaften, wonach der ‚sexuelle Dimorphismus‘ (oder der sexuelle Unterschied zwischen Männern und Frauen) von den Wissenschaften – wie zum Beispiel von der Genetik, der Endokrinologie und der Neurologie – bestätigt wird. Im Übrigen ist es im Fall der sexuellen Unbestimmtheit die Medizin, die therapeutisch eingreift. In diesen besonderen Situationen sind es nicht die Eltern, und noch weniger die Gesellschaft, die eine willkürliche Wahl treffen können, sondern es ist die wissenschaftliche Medizin, die mit therapeutischer Zielsetzung eingreift, das heißt, auf der Grundlage objektiver Parameter in minimal-invasiver Weise handelt, mit dem Ziel, die konstitutive Identität deutlich zu machen.“ Ich glaube, da brauche ich nichts mehr deutlich zu machen. Diese Sprache spricht für sich. Ich habe einmal eine Karikatur gesehen, die ich sehr treffend fand. Sie zeigt Petrus an einem Schreibtisch mit Computer. Im Hintergrund gibt es eine Treppe, die in den Himmel führt. Petrus ruft nach oben: Herr, die da unten haben gerade ein drittes Geschlecht gemacht. Und Gott antwortet: Nicht die – Ich habe es gemacht.“

Schließen möchte ich meine Ausführungen mit „To-do-Listen“.

Liste für die die Medizin:

  • Anerkennung, dass Intergeschlechtlichkeit keine Krankheit ist
  • Vermeidung pathologisierender Be-
    griffe
  • wertschätzende Sprache gegenüber Eltern eines Kindes
  • Glückwünsche zu Geburt
  • Anerkennung, dass Operationen an Kleinkindern keine adäquate Behandlung von Ängsten Erwachsener sind
  • Schaffung von Beratungsstrukturen
  • Vermittlung von Peer-Beratung
  • Verwirklichung der Gleichstellung aller Menschen

Liste für den Gesetzgeber:

  • Durchsetzung vorhandener Gesetze zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung
  • Schaffung eines Zentralregisters
  • Finanzierung von Projekten und Programmen, die der Aufklärung über geschlechtliche Vielfalt dienen
  • Bereitstellung von Ressourcen für eine angemessene Beratung der Familien
  • Überarbeitung von veralteten curricularen Vorgaben für die Schulen

Liste für die Gesellschaft:

  • Akzeptanz und Wertschätzung geschlechtlicher Vielfalt
  • Abbau des Tabus von Intergeschlechtlichkeit
  • Abbau von überkommenen Genderrollen
  • Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts von Kindern
  • Anerkennung des Kinderschutzes als gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe

Liste für die katholische Kirche:

  • Anerkennung der geschlechtlichen Vielfalt als Teil der Schöpfung und damit Abkehr von der Pathologisierung
  • Fortbildung von Mitarbeitenden in kirchlichen Kindergärten und in Beratungsstellen
  • Vorgaben für einen christlichen Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt in kirchlichen Kindergärten
  • Überarbeitung von Vorgaben für den Unterricht in Religion und in Ethik
  • kritischer Umgang mit der Stellungnahme des Vatikans zum Thema ‚Gender‘

Ich bin in einer katholischen Familie aufgewachsen und es ist mir ein christliches Gottesbild vermittelt worden, das sich von dem der offiziellen Kirche unterscheidet. Mein Gottesbild ist geprägt durch Liebe und Akzeptanz – auch von Vielfalt, aber auch von Nichtakzeptanz von Grenzen, die durch eine Gesellschaft gesetzt werden. Jesus war für mich immer ein Vorbild, weil ich dachte: Ja, das war eine Person, die kritisch war, die sich aufgelehnt hat gegen das, was in der damaligen Gesellschaft Lesart war. Dieses Gottesbild und Christusbild habe ich als Jugendliche gelernt. Ich finde, da sollte es wieder hingehen, dass Glaubende einfach sagen: Der Auftrag von Christus an mich ist in erster Linie neben der Gottesliebe die Nächstenliebe. Und deshalb schließe ich mit einem Satz, den ich von einem Arzt gehört habe und der mir unglaublich gut getan hat: „Sagen Sie niemals, mein Kind hätte eigentlich ein Junge werden sollen. Sagen Sie immer, so wie mein Kind ist, so hat Gott es gewollt.“ 

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