Wir sind auf dem Wege vom Abendrot der europäischen Philosophie durch die Dämmerung unserer Zeit zur Morgenröte der Weltphilosophie.“ Diese fast prophetisch klingenden Worte des weltphilosophisch orientierten Karl Jaspers mögen manchen ein wenig gestelzt erscheinen, aber sie weisen auf die Notwendigkeit eines längst fälligen weltphilosophischen Diskurses hin. Der europäische philosophische Diskurs ist zweifelsohne ein großartiger Diskurs, aber er ist nicht Menschheitsdiskurs, solange er sich wie bisher eurozentrisch gestaltet.
Immer wo und immer wenn Philosophie konkrete Gestalt gewinnt, geschieht dies in einer bestimmten Kultur, in einer bestimmten Sprache und an einem bestimmten Ort. Dies heißt „Orthaftigkeit” der Philosophie. Philosophie geht aber in keiner bestimmten Sprache, in keiner Tradition und an keinem Ort ausschließlich auf, das heißt „Ortlosigkeit“ der Philosophie. Wenn es eine philosophia perennis gibt, dann gibt es sie zumindest im Sinne einer regulativen Idee, oder im Sinne eines Leuchtturms, der alle Philosophien anzieht, aber in keiner restlos aufgeht. Alle Philosophien der Welt sind daher Kompasse zu diesem einen Leuchtturm.
Es ist eine hausgemachte, je selbstverschuldete Anmaßung der westlichen Philosophie gewesen, sich zu singularisieren und in einem Atemzug zu universalisieren. Dieser selbstverschuldete Anspruch, ein Nebenprodukt im Gefolge des lang andauernden Kolonialismus, war und ist eine Art theoretische Gewalt, die als Anspruch theoretisch lächerlich sein mag. Aber die tragische Seite besteht darin, dass er sich in der Komplizenschaft mit der mehrere Jahrhunderte dauernden kolonialen
Macht weltweit durchgesetzt hat.
Nicht dass es keine Widerstände dagegen gab und gibt, aber die theoretisch besseren Argumente konnten sich gegen die kolonial-imperialistische Macht nicht durchsetzen. Koloniale europäische Vernunft befreite sich von dem Adjektiv europäisch mit dem selbstverschuldeten Anspruch, Vernunft ist und kann nur europäisch, westlich sein. Selbst großartige Matadore der westlichen Philosophie wie Hegel, Husserl, Heidegger, Gadamer, um nur einige zu nennen, waren hiervon zutiefst überzeugt.
Die Rede von der „Macht der besseren Argumente“ ist zwar rechtens und verständlich, aber sie erlebt ihre theoretische Grenze dort, wo fast alle Diskursparteien dieses Recht für sich beanspruchen und ihre praktische Grenze dort, wo die Argumente selbst die Form der Gewalt annehmen. Und genau dies geschah im Namen der „kolonialen Vernunft“ in der lang andauernden Zeit des Kolonialismus. Manchmal ist wer es sagt wichtiger als was und wie er es sagt. Macht verkleidet als Argument ist eine Art philosophische Erbsünde.
Die interkulturelle Philosophie und ihrer Aufgabenstellung
Zunächst zum Begriff der interkulturellen Philosophie. Was sie nicht ist: Interkulturelle Philosophie ist nicht ausschließlich der Name einer bestimmten philosophischen Konvention, einer bestimmten philosophischen Disziplin, sei sie europäisch oder nicht-europäisch, denn eine solche Sicht führt zum Kulturalismus, zum Provinzialismus und verhindert einen offenen interkulturellen Diskurs im weltphilosophischen Kontext. Was interkulturelle Philosophie ist: Interkulturelle Philosophie ist der Name einer proto-methodologischen, geistigen, philosophischen Einstellung, Einsicht, Überzeugung, Haltung, die alle kulturellen Prägungen der einen philosophia perennis wie ein Schatten begleitet und verhindert, dass diese sich in den Stand der Absolutheit setzen. Interkulturelle Philosophie ist nicht so sehr ein Nomen, sondern vielmehr das Verb „interkulturell philosophieren“.
Die interkulturelle Philosophie stellt weiterhin auch einen Emanzipationsprozess dar, wobei festzuhalten bleibt, dass es hierbei nicht um eine Emanzipation im engeren Sinne des innereuropäischen Denkens im Zeitalter der Aufklärung geht, sondern um eine Emanzipation des nicht- und außereuropäischen Denkens von seinen Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende alten, in Europa entstandenen einseitigen, ja manchmal sogar falschen Bildern. Die europäische Aufklärung ist zwar eine großartige Leistung gewesen, aber sie war janusköpfig, denn sie verletzte gerade die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im Zeitalter der europäischen Kolonialisierung.
Ferner stellt die interkulturelle Philosophie auch die notwendige Bedingung für die Möglichkeit der Disziplin der komparativen Philosophie dar, denn die letztere ist und bleibt ohne die erstere ein bloßes Nebeneinander der Philosophien. Hegel hat zwar die außereuropäischen Philosophien, Religionen und Kulturen vergleichend dargestellt, und dies ist sehr lobenswert, aber das tertium comparationis machte er ausschließlich in der europäischen Tradition fest. Interkulturelle Philosophie entwirft ein Modell der Philosophie, das die allgemeine Anwendbarkeit des Begriffs Philosophie bejaht unter legitimer Anerkennung der Vielfalt der philosophischen Zentren und Ursprünge.
Jetzt ein Wort zur Aufgabenstellung der interkulturellen Philosophie: Die Weltgeschichte ist europäische Geschichte, und Hegel legt auch den Gang der Weltgeschichte vom Orient zum Okzident fest. In der Euphorie der erfolgreichen europäischen Expansion im 18. und 19. Jahrhunderts schreibt er: „Mit dem Eintritt des christlichen Prinzips ist die Erde für den Geist geworden. Die Welt ist umschifft und für die Europäer ein Rundes. Was noch nicht von ihnen beherrscht wird, ist entweder nicht der Mühe wert oder aber noch bestimmt, beherrscht zu werden.“ Jenseits einer philosophischen Kultur der Bescheidenheit und Zurückhaltung zeugen diese Worte Hegels von einer Art von Borniertheit, Einäugigkeit, Beschränktheit und Anmaßung.
In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf: Gibt es dann doch philosophische Schreibtischtäter, die für den Rassismus und Kolonialismus mitverantwortlich sind, ohne direkt Täter oder Opfer zu sein? Von einer Mitverantwortung können sie jedenfalls nicht ganz freigesprochen werden. Man möchte gern erfahren, wie Hegel auf das postkoloniale Zeitalter wohl reagiert hätte.
Mircea Eliade hat die interessante und heute noch aktuelle Frage aufgeworfen, wie es dazu kam, dass es dem asiatischen Geist nicht gelungen ist, in Europa Fuß zu fassen, so wie es in der ersten Renaissance der graeco-lateinischen Kultur gelungen ist. Eliade spricht von einer „zweiten missglückten Renaissance“ und meint damit die Entdeckung der Sanskrit-Sprache, der Upanishaden und des Buddhismus am Ende des 18 und im 19. Jahrhundert in Europa. Es wurde sogar eine Erneuerung Europas durch diese Entdeckung Asiens erwartet. Die deutschen Romantiker, die Hegel ein Dorn im Auge waren, träumten von einer solchen Erneuerung Europas durch Asien.
Der Hauptgrund des Fehlschlags besteht für Eliade darin, dass die zweite Renaissance im Gegensatz zur ersten eine Angelegenheit der Orientalisten blieb und von den Fachphilosophen, Theologen, Literaten, Künstlern und Historikern kaum beachtet, geschweige denn ernst genommen wurde. Es ist eigentlich unverständlich, ja bedauerlich, dass sich an dieser Situation wenig oder gar nicht viel geändert hat.
Sollten wir heute in einer nie dagewesenen globalisierten Welt an der Schwelle einer interkulturell eingeleiteten, so möchte ich sie nennen, „dritten Renaissance“ stehen (und vieles spricht dafür), so ist dies nicht so sehr das Verdienst der Orientalisten und Ethnologen als vielmehr ein Ergebnis der historischen Präsenz der nicht-europäischen Kulturen in der globalen Situation heute. Sollte dieser dritten Renaissance ein Erfolg beschieden sein, so sind wir alle im Geiste der Interkulturalität berufen, den notwendigen Beitrag unseres je eigenen Standorts zu leisten.
Zur Konzeption einer „interkulturell orientierten analogischen Hermeneutik“
Das Verstehen-Wollen und das Verstanden-werden-Wollen gehören zusammen, denn wer nur verstanden werden will, nimmt den Gesprächspartner nicht richtig ernst. Und wer nur verstehen will, lässt bei sich einen eigenen Standpunkt vermissen. Das heutige reziproke Angesprochen-Sein der Kulturen, Philosophien, Religionen und der diversen Weltanschauungen ist von ganz anderer Qualität als das gewesene. Das qualitativ Neue an dem heutigen post-kolonialen Angesprochen-Sein Asiens, Afrikas und Lateinamerikas durch Europa und Europas durch Asien, Afrika und Lateinamerika besteht darin, dass die nicht-europäischen Kulturen mit ihren je eigenen Stimmen am heutigen Gespräch beteiligt sind. Die Jahrhunderte des Kolonialismus kannten und erlaubten keinen Dialog. Meiner kulturtheoretischen Herangehensweise liegt eine Ethik der Interpretation, ja der Hermeneutik zugrunde, die Verstehen stets als eine Zwei-Bahn-Straße begreift.
Das heutige post-koloniale Gespräch führt zu einem vierdimensionalen hermeneutisch-dialektischen Dialog: 1. das Selbstverständnis, die Selbsthermeneutik Europas, 2. das Fremdverständnis Europas, 3. das Selbstverständnis der nicht-europäischen Kulturen und 4. das Fremdverständnis der nicht-europäischen Kulturen.
Europa ist lange, ja viel zu lange von der Überzeugung ausgegangen, dass die Europäer nicht nur sich selbst am besten verstehen, sondern auch die Nicht-Europäer besser verstehen als diese sich selbst. Was für eine hermeneutische Anmaßung! Das postkoloniale Zeitalter hat es jedoch mit sich gebracht, dass Europa heute auch von Nichteuropa interpretiert, kritisiert und auch gewürdigt wird. Dieses Interpretierbar-geworden-Sein Europas durch Nichteuropa ist eine Zäsur und überrascht die Europäer mehr als die Nicht-Europäer, denn Europa hat oft im Namen des Dialogs eine monologische Hermeneutik betrieben. Heute, im Zeitalter des Postkolonialismus und der Globalisierung, ist Hermeneutik also keine Einbahnstraße mehr. Unser Philosophieren muss sich heute ent-europäisieren und nicht anti-europäisieren.
Der bekannte lateinamerikanische Philosoph Leopoldo Zea wirft, und dies zu Recht, der griechisch-europäischen Philosophie-Geschichtsschreibung eine selbstverschuldete Universalisierung des griechischen Logos vor und spricht von einem griechisch-europäischen magistralen Anspruch auf den Logos. Diese einseitige Vereinnahmung des Logos sprach den Barbaren jede Logos-Fähigkeit ab, denn sie konnten nur stottern, d. h. für die Griechen nur unverständlich reden. Zea dreht den Spieß um und fragt: „Wenn der Grieche sich in einer anderen Sprache, die nicht die seinige ist, auszudrücken hätte, müsste dies dem Barbaren barbarisch erscheinen, als ein Stammeln, als ein ebenfalls schlechtes Sprechen. Aber gerade dies interessiert nicht den Menschen, der die Geschichte macht, interessiert nicht den Griechen, der sie erzählt.“ Hat sich an dieser Situation etwas geändert? Die Antwort könnte eher Jein lauten.
Jenseits einer Identitätshermeneutik, die unter Verstehen eine Verdoppelung des Selbstverstehens versteht, und ebenso jenseits einer radikalen Differenzhermeneutik, die Differenz viel zu radikal auffasst und Verstehen ob ovo verunmöglicht, vertritt die hier vertretene analogische Hermeneutik der Überlappung das Vorhandensein kleiner und großer Überlappungen, die Verstehen ermöglichen – in voller Anerkennung der Gemeinsamkeiten und Differenzen.
Das interkulturelle hermeneutische Subjekt ist kein zweites transzendentales Subjekt, denn gerade diesen Anspruch erhob das koloniale Subjekt. Das interkulturell orientierte hermeneutische Subjekt ist der Name einer höherstufigen reflexiv-meditativen Instanz oder Einstellung. Diese befähigt uns, unser Gebunden-Sein an den hermeneutischen Zirkel zu durchschauen und auch zu durchbrechen. Alle unsere Auslegungen sind angesiedelt zwischen den beiden Fiktionen einer totalen Kommensurabilität und einer radikalen Inkommensurabilität. Sehr zu Recht heißt es bei Dilthey: „Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig, wenn in ihnen nichts fremd wäre.“ Unsere interkulturell orientierte Überlappungshermeneutik ist daher angesiedelt zwischen der übertriebenen Identitätsthese der Moderne und der ebenso übertriebenen Differenzthese der Postmoderne.
Zu den vier Dimensionen der Interkulturalität
Interkulturelle Philosophie kennt eine vierfache Perspektive: 1. eine philosophische, 2. eine religiöse/ theologische, 3. eine politische und 4. eine pädagogische.
Unter philosophischer Optik bedeutet interkulturelle Philosophie, dass es falsch ist, die philosophische Wahrheit exklusiv durch eine bestimmte Tradition und eine bestimmte Tradition durch philosophische Wahrheit definieren zu wollen. Mutatis mutandis gilt dies auch für Kulturen und diverse Weltanschauungsformen. Gerade diesen Fehlschritt beging und begeht das westliche Denken, wenn es die westliche Art zu philosophieren zu der einzig richtigen Art deklariert. Dabei vergisst das westliche Denken, dass es das singuläre westliche Denken im Singular auch zu Hause im Westen nie gegeben hat und auch heute nicht gibt. Und ebenso verhält es sich mit den anderen philosophischen Traditionen der Welt.
Unter religiöser Optik ist die Interreligiosität ein anderer Name der Interkulturalität. Auch die eine religio perennis (Hindus mögen sie Sanâtana dharma nennen) trägt unterschiedliche theologische Gewänder. Es gibt nicht die eine Religion für die gesamte Menschheit, hat es auch nie gegeben. Es sei denn, man erhebt den Anspruch, die einzige wahre Religion mit universeller Geltung zu besitzen. Was tun, wenn mehrere Religionen diesen alleinseligmachenden Anspruch erheben und diesen Anspruch auch noch durchsetzen wollen? Immer wo und immer wenn mehrere Absolutheitsansprüche aufeinander prallen, relativieren sie sich gegenseitig.
Freilich sollte man in einer solchen Situation und im Geist unserer interkulturell orientierten Interreligiosität, ja Proto-Religiosität, glauben und glauben lassen, jenseits eines exklusiven Universalitätsanspruchs. Ferner mag jeder seine eigene Religion für sich und für die Seinigen als die einzig wahre, absolute ansehen. Geben wir diesem Absolutheitsanspruch den Namen „Absolutheit nach innen“. Sie gilt jedoch für alle Diskursparteien. Aber sobald dieser jeweilige „Absolutheitsanspruch nach innen“ zu einem „Absolutheitsanspruch nach außen“ wird, artet er aus in einen Krieg aller gegen alle. Mahatma Gandhi hat in diesem Zusammenhang des Öfteren gesagt: „Meine Mutter ist für mich die schönste und die beste, aber deine Mutter für dich ebenso.“
Interreligiosität ist selbst aber nicht eine bestimmte Religion, der man angehören kann. Sie ist eine protoreligiöse Überzeugung, Haltung, die uns offen und tolerant macht. Ferner hilft sie uns, standhaft gegen Versuchungen des Fundamentalismus jedweder Art zu sein. Die Worte des indischen Rig Veda „ekam sad, Vipra bahudha badanti“ (Das Eine Wahre. Die Weisen benennen es verschieden) und „Una religio in rituum varietate“ (wie Cusanus es ausdrückte) recht verstanden, plädieren für eine verbindend-verbindliche Interreligiosität, die jeder Religion als eine urreligiöse Haltung vorausgeht. Inter-Religiosität ist selbst keine Religiosität, sondern der Name einer Urreligiosität, die alle religiösen Gespräche wie einen Schatten begleitet und verhindert, dass irgendeine geschichtlich gewordene Religiosität sich in den absoluten Stand setzt. Es gibt nicht nur eine säkulare, sondern natürlich ebenso eine sakrale Pluralität.
Unter der politischen Optik ist die Interkulturalität ein anderer Name für eine pluralistisch-demokratische Überzeugung, die auch die politische Wahrheit keiner Gruppe, Klasse, Partei allein zubilligt. Interkulturelle Orientierung plädiert daher ebenso für eine säkulare Pluralität, die auch die politische Weisheit nicht einer einzigen Partei zuschreibt. Wer nicht so verfährt, übt eine Art theoretischer Gewalt aus, weil hier schon auf der theoretischen Ebene alles andere zurückgewiesen wird. Es gehört zu einem proto-demokratischen Ethos, allen theoretisch-politischen Gewaltformen schon auf der Ebene der pädagogischen Erziehung in Schulen und Hochschulen zu begegnen. Mit vollem Recht sprach der Jurist und Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde von Voraussetzungen eines demokratischen Staates, die der Staat selbst nicht hervorbringt. Daher geht eine ethisch-moralische Erziehung der politischen voraus. So sprach etwa Mahatma Gandhi immer wieder von der Moralisierung der Politik anstelle der Politisierung der Moral und zählte ‚Politik ohne Moral‘ zu den sieben Todsünden der modernen Menschheit.
Die pädagogische Perspektive, in einer Hinsicht sogar die wichtigste, ist der praktische Versuch, die Einsichten und Ansichten der drei anderen Perspektiven in Familie und Gesellschaft, von den Kindergärten bis zur Universität im Denken und Handeln, in Lehre und Forschung zu lernen und lehren. Nur so kann man gegen die Fundamentalismen auf jedwedem Gebiet wirken; denn sobald die Fundamentalismen die praktisch-politische Bühne beherrschen, ist es für die Pädagogik sehr oft zu spät. Hitlers Buch Mein Kampf zum Beispiel war in den Bücherregalen schlimm genug, weil es schon voller theoretischer Gewalt war. Aber die Juden, die Sinti, Roma und Andersdenkenden lebten noch. Nach der Machtergreifung wurde aus der theoretischen Gewalt eine praktische. Daher ist, wie oben erwähnt, eine theoretisch-argumentative Bekämpfung der theoretischen Gewalt, des theoretischen Fundamentalismus in Lehre und Forschung eine zentrale pädagogische Aufgabe.
Eine interkulturell orientierte Historiographie der Philosophie als Kritik, Korrektur und Entwurf
Einige europäische Philosophen haben sich ein trickreiches und sogar billiges Argumentationsmuster zurechtgelegt, wenn sie die europäische Philosophie als die einzige Philosophie beweisen wollen. Auf die Frage: Können Nicht-Europäer philosophisch denken? sagen sie: Ja, aber: Ist die außereuropäische Philosophie so wie die europäische, dann ist sie bloß eine Wiederholung und daher redundant. Ist sie dagegen nicht so wie die europäische Philosophie, dann ist sie keine Philosophie. Sie vergessen dabei, dass solche Wenn-Dann-Sätze, wenn sie konditional apriorisch verfahren, das zu Beweisende schon voraussetzen und den logischen Fehler einer petitio principi begehen. Solche Ansichten markieren die Spitze eines Kulturalismus, ja eines Provinzialismus, der sich, bedingt durch die Machtfaktoren wie z. B. Kolonialismus, Imperialismus usw. universalisiert hat, aber im Sinne einer historischen Kontingenz. Den chinesischen Philosophen Chuang Tzu kontextuell variierend, könnte man hier von einer „Brunnenfrosch-Perspektive“ sprechen, und dies zu Recht.
Fast alle Bücher über die Geschichte der Philosophie in der westlichen Hemisphäre sind de facto Geschichten der europäischen Philosophie, ohne sie so zu betiteln. Bertrand Russell ist eine seltene Ausnahme, da er seinem Buch die Überschrift gibt: History of Western Philosophy. Das Adjektiv „europäisch“ hat sich mit Hilfe außer-philosophischer Faktoren universalisiert. Diese Faktoren liegen im Wesentlichen in den Machtfaktoren der kolonialen Herrschaft des Westens über Asien, Afrika und Lateinamerika.
Diese Machtfaktoren wie zum Beispiel kolonialer, kultureller, imperialistischer, ja auch rassistischer Natur haben dazu geführt, dass das Adjektiv „europäisch“ sich de facto universalisieren konnte. So ist der Universalisierungsanspruch der westlichen Philosophie eine historische Kontingenz. Daher besitzt die „koloniale Vernunft“ eine lange, janusköpfige Geschichte. Einige der philosophischen Großmeister des 18. und 19. Jahrhunderts lieferten den Kolonialherren intellektuelle, moralische, politische, ja sogar auch rassistische Fundierungen und Rechtfertigungen. Selbst die Idee der Vernunft, die die Gründerväter der europäischen Emanzipation vertraten, ist viel zu eurozentrisch.
In der letzten Zeit beschäftigt mich die folgende Frage sehr: Sind Menschen von Natur aus gleich und sollen deshalb als gleich behandelt werden oder sind sie von Natur aus ungleich und sollen deshalb als ungleich behandelt werden oder sollen alle Menschen im Sinne eines ethisch-moralischen humanistischen Ethos gleichbehandelt werden? Ich tendiere zur letzten Alternative.
Hört man dagegen die diesbezüglichen Urteile der Philosophen wie zum Beispiel Hume, Kant, Hegel, so sieht der Begründungs- und Rechtfertigungsweg anders aus. Die Menschen sind von Natur aus ungleich, daher müssen sie auch ungleich behandelt werden. Was für ein schicksalhafter, ja geschichtsträchtiger Irrtum, wenn man die Deklaration der Menschenrechte der UNO-Charta oder den ersten und dritten Artikel des Grundgesetzes liest. Ob die Menschen von Natur aus gleich sind oder nicht, darüber streiten heute noch Rechtsgelehrte und Philosophen mit unterschiedlichen metaphysischen, ontologischen, ja ideologischen Konzeptionen über die Natur des Menschen. Ohne auf eine konsensuelle Antwort zu warten, hat für mich die Entscheidung Vorrang, dass alle Menschen im Geiste einer ethisch-moralischen, humanistischen, demokratischen Entscheidung und Gesinnung gleichbehandelt werden sollen.
Die großartige Ethik Kants, nämlich der kategorische Imperativ, in einer seiner Formulierungen lautet: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals als Mittel brauchst.“ Das koloniale Zeitalter hat gerade diese Ethik mit Füßen getreten und Gewalt angewandt. Samuel Huntington, eigentlich ein knochenharter eurozentrischer Denker par excellence, spricht als ein Realpolitiker – und dies ist lobenswert – von den unsäglichen Brutalitäten der Kolonialzeit. Er schreibt: „Der Westen eroberte die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen oder Werte oder seiner Religion, sondern vielmehr durch seine Überlegenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt. Oftmals vergessen Westler diese Tatsache; Nichtwestler vergessen sie niemals.“
Es gibt nicht die eine singuläre Geschichte, auch nicht die eine Geschichte der Philosophie. Und dies gilt für alle philosophischen Traditionen über die Kulturgrenzen hinaus. Es kann mehrere methodische Zugänge zum Thema Historiographie der Philosophie geben. Und es gibt sie in der Tat. Einige seien hier kurz erwähnt: Die chronologische Vorgehensweise ist am meisten vertreten. Es kann ferner eine systematische Orientierung geben. Man kann ebenso die verschiedenen Schulen der Philosophie als einen Zugang wählen. Man kann auch mit individuellen Philosophen und ihren Philosophien anfangen.
Zusätzlich zu diesen diversen methodologischen Zugängen gibt es die problemorientierte, themenorientierte Historiographie der Philosophie, die ich vorziehe, weil sie uns erlaubt, die philosophischen Themen, Fragestellungen und Lösungsansätze im Geiste einer interkulturellen philosophischen Orientierung zu stellen und diese im weltphilosophischen Kontext zu diskutieren. Philosophische Fragestellungen weisen eher eine grundsätzlichere Gemeinsamkeit unter den Philosophen der Welt auf als ihre Antworten.
Ein Vorschlag zur Globalisierung der interkulturellen Philosophie in Lehre und Forschung
Oft wird, hauptsächlich seitens der Philosophie-Studierenden und des Mittelbaus, die Frage gestellt: Warum werden außereuropäische Philosophien nicht im Curriculum des Philosophiestudiums an den westlichen Hochschulen angeboten? Ist nicht eine Transformation des philosophischen Lehrplans an den Universitäten schon längst überfällig? Sind wir nicht der philosophischen Kultur zutiefst verpflichtet, Philosophiestudium im Kontext der Weltphilosophien zu gestalten? Sind nicht höhere Schulen und Hochschulen grundsätzlich verpflichtet, den Studierenden darüber zu informieren, wie die philosophischen Fragestellungen und Lösungsansätze in anderen weltphilosophischen Traditionen aussehen? Es zeugt in der Tat von keiner großen akademischen Offenheit, wenn unsere Philosophiestudent*innen ihren B. A. oder M. A. oder gar ihre Promotion in Philosophie machen und die Philosophen wie Platon, Aristoteles, Kant, Hume, Hegel, Nietzsche u.a. kennen lernen, ohne jedoch jemals die Namen der außereuropäischen Philosophen wie Lao Tzu, Konfuzius, Nagarjuna, Shankara oder Avicenna und Al-Ghazali gehört zu haben. Ähnlich verhält es sich, wenn es um philosophische Probleme, Fragestellungen, Systeme und dergleichen geht.
Was wir heute dringend brauchen, ist eine nicht-eurozentrische (nicht aber eine anti-eurozentrische) Vorgehensweise um die philosophischen Themen im Geiste einer interkulturellen Orientierung zu diskutieren. Das Lernen und Lehren der Philosophie im interkulturellen Geist würde auch bedeuten, dass Student*innen (und nicht nur die) lernen, dass wir stets philosophischer Argumente bedürfen. Aber dies heißt nicht, dass diese Argumente von Natur aus für alle überzeugend sein müssen. Die Argumente sind notwendig, nicht jedoch unbedingt hinreichend für die Überzeugung. Wer philosophische Argumente nur dann philosophisch sein lassen will, wenn sie überzeugend sind, findet sich in einer schwierigen Lage, keine Argumente zu finden, die alle Philosophen überzeugen.
Was wir daher heute brauchen, ist eine pluralistische Kartographie der Philosophiegeschichte. Selbst das oft erwähnte Diktum, Philosophie kann es nur in einer schriftlichen Tradition geben, ist viel zu logozentrisch. Hinzukommt, dass Philosophie keine Sprache zu ihrer einzigen Muttersprache macht. Sprache gehört den Menschen, die sie sprechen, und nicht umgekehrt. Es war und ist oft noch immer eine europäisch-philosophische Einäugigkeit zu meinen, Philosophie spreche nur Griechisch und Deutsch. Mutatis mutandis gilt dies ebenfalls, sollte indische Philosophie zum Beispiel Sanskrit zur Muttersprache der Philosophie deklarieren.
Unsere interkulturell-philosophische und post-koloniale Perspektive braucht ferner interkulturell orientierte Lehrer oder Forscher. Es kommt einer epistemischen Gewalt gleich, wenn unsere Universitäten den großen Reichtum der Weltphilosophie in Lehre und Forschung nicht einbauen. Die westliche politische und epistemische Macht und Dominanz hat mit Unterstützung der kolonialen Erziehungsstrategie das koloniale Curriculum überall institutionalisiert. Als die Universität Kalkutta – meine Alma Mater – in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der britischen Kolonialmacht gegründet wurde, existierten dort viele Fakultäten so wie sie an den Universitäten Cambridge, Oxford existierten. Indische Philosophie war jedoch nicht ein Teil des philosophischen Fachbereichs. Die kolonialherrschaftliche Begründung lautete, Philosophie sei ja nur griechisch-europäisch. Die Internationalisierung gerade der Studentenschaft heute hat das Philosophieren polyzentrisch gemacht, und dies ist eine sehr willkommene Wende, auch im Sinne der interkulturellen Philosophie in Lehre und Forschung.
Resümee
Als Resümee seien hier einige Imperative formuliert:
1. Frage nicht, wie Differenzen aus der Welt zu schaffen sind, sondern wie mit ihnen umzugehen ist. Konsens soll sein, Dissens ist da. Kompromiss scheint der eigentlich gangbare und geeignete Weg zu sein. Interkulturelle Orientierung sorgt dafür, dass die Kompromisse – soweit möglich – nicht faul werden.
2. Beachte: Nicht die Standpunkthaftigkeit ist ein Skandalon, sondern nur die Verabsolutierung eines bestimmten Standpunktes.
3. Jede Lesart ist zulässig bis auf die Lesart, die keine andere neben sich zulässt.
4. Lerne die Kunst der Gewaltlosigkeit zu üben, sowohl im Sinne einer theoretischen als auch im Sinne einer praktischen Gewalt.
Mit den lehrreichen Worten zweier Dichterphilosophen, Hölderlin und Tagore, möchte ich schließen. Hölderlin schreibt in einem Brief an Hegel: „Einig zu sein, ist göttlich und gut; woher ist die Sucht denn / Unter den Menschen, dass nur einer und eines nur sei.“ Und in einem Vortrag zum Parlament der Religionen (1937) schreibt Tagore: „Wenn je eine solche Katastrophe über die Menschheit hereinbrechen sollte, dass eine einzige Religion (Kultur, Philosophie, Politik, Anm. d. Verf.) alles überschwemmte, dann müsste Gott für eine zweite Arche Noah sorgen, um seine Geschöpfe vor seelischer Vernichtung zu retten.“ Beide Dichterphilosophen geben uns den Ratschlag, unsere gut gemeinte und verständliche Sehnsucht nach Einheit nicht mit der Sucht nach Einheitlichkeit, nach Einförmigkeit zu verwechseln. Diese Ratschläge gelten mutatis mutandis für alle Unternehmungen des menschlichen Geistes auf jedwedem Gebiet. Pluralismus scheint nicht nur Menschenwille, sondern auch Gotteswille zu sein.
Das Projekt Interkulturelle Philosophie zielt so auf einen Paradigmenwechsel im Diskurs der Weltphilosophien, Weltkulturen und Weltreligionen und stellt eigentlich ein Prolegomenon dar. Mein Traum, hoffentlich nicht zu utopisch, ist, dass das Philosophieren im Geiste unserer interkulturellen philosophischen Orientierung bald der Leiter der interkulturellen Philosophie nicht mehr bedarf. Interkulturelle philosophische Orientierung ist daher nicht nur eine intellektuelle, akademische, sondern ebenso eine fächerübergreifende gesamtgesellschaftliche ethisch-moralische und pädagogische Verpflichtung. Interkulturelle philosophische Orientierung – so meine feste Überzeugung – ist zwei Dinge in einem: Sie ist Denkweg und Lebensweg in einem. Erkenntnisgewinnung und Erkenntnisverwirklichung
gehören zusammen.