Homo religiosus

Wie die Evolution die Religiosität der Menschheit prägt(e)

Im Rahmen der Veranstaltung "Anfänge des Menschen", 24.11.2018

Ich bin kein Theologe, ich bin Religionswissenschaftler. Der Unterschied ist, Religionswissenschaftler dürfen glauben, Theologen müssen oder sollten es zumindest. Theologie ist die Innensicht einer bestimmten religiösen Tradition. Religionswissenschaft ist die Außensicht. Sie arbeitet vergleichend, wie die Musikwissenschaft oder die Sprachwissenschaft. Meine Doktorarbeit ging zum Beispiel über Religion und Hirnforschung, über die sogenannte Neurotheologie, wie man das damals genannt hat, so bin ich dann auch zum Thema Evolutionsforschung und Religion gekommen.

 

I.

 

Also warum haben wir Gehirne, die überhaupt in der Lage sind zu religiösen, spirituellen und magischen Erfahrungen? Das war die Frage, die sich damals stellte und die sich seitdem immer wieder neu gestellt hat. Die Frage möchte ich heute beantworten. Soziale Kognitionen, soziale Wahrnehmungen haben wir mit anderen Primaten gemeinsam. Sie haben sich aber beim Menschen weiterentwickelt und auf ihnen setzt heute kulturelle Evolution auf. Da sind wir schon ganz nah beim Thema Religion. Die Idee, das Ganze, auch die Religion, evolutionär zu erforschen, also nicht mehr zu sagen, es hat die eine Seite Recht oder die andere, sondern zu sagen: Wenn die Evolution zutrifft, wenn es wirklich eine Evolution gegeben hat, dann muss auch die Religion in diesem Evolutionsprozess entstanden sein, diese Idee ist nicht ganz neu.

Diese Idee hatte ein Theologe, von dem Sie bestimmt schon gehört haben, sein Name war Charles Darwin. Charles Darwin hat in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Studienabschluss erworben, nämlich den eines Theologen. Er studierte anglikanische Theologie in Cambridge, war Zehntbester seines Jahrgangs und hat in seinem späteren Leben immer wieder darauf Bezug genommen. Er hat auch eine agnostische Phase gehabt, aber im letzten Lebensjahr, kurz vor seinem Tod, begeistert er sich noch einmal für das Buch eines irischen Kollegen, obwohl er über die Iren immer sehr negativ geschrieben hat. Dieser irische Kollege begeistert ihn mit einem Buch The creed of science , in dem er sagt: Man kann die Religion und die Evolution wunderbar zusammendenken. Er entwickelt ein Emergenz-Modell, ein Modell, das die Wirklichkeit schichtet, so dass immer neue Dinge in der Evolution dazukommen. Darwin schreibt ihm: „Seit Jahren hat mich kein Buch mehr so begeistert, ich will Sie unbedingt treffen.“ Aber leider stirbt Darwin vorher, so dass wir nicht wissen, was da noch gekommen wäre.

Aber im Werk von Darwin finden wir, vor allem in seiner Abstammung des Menschen von 1871, ganze Absätze zu einer Evolutionstheorie der Religion. Darwin war der Auffassung, dass die Entstehung von Religion kein Zufall war, sondern sie im evolutionären Prozess entstanden ist, dass sie auf sozialen Erfahrungen aufsetzt. Dass sie sich im jungen Alter in das Gehirn einprägt, schreibt er sogar, und dass sie bestimmte Funktionen erfüllt. Er glaubt, sie stärkt vor allem die Gemeinschaft und zwar nach innen, durchaus aggressiv aber nach außen. Wir werden nachher sehen, dass er da durchaus teilweise Recht hatte. Natürlich ist die Forschung seitdem weitergegangen, aber es lohnt sich, Darwin auch als Theologen zu lesen. Dabei gibt es noch viel zu entdecken.

Inzwischen erscheinen, auch in deutscher Sprache, immer mehr und größere Werke, es ist eine Herausforderung, diesen verästelten Forschungszweigen noch zu folgen. Es gibt sogar ein eigenes Fach und eine Zeitschrift mit dem Titel religion, brain and behaviour, in der nichts anderes erscheint als immer neue Studien zu diesem Thema. Es wird also immer feiner und immer kleinteiliger, es kommt auch immer mehr dabei heraus, eine spannende Zeit. Ich werde einen kurzen Überblick über diese Forschungsbereiche geben, um Ihnen ein Gesamtbild anbieten zu können, von dem, was wir Stand heute wissen und als empirisch gesichert zumindest behaupten können.

Zum einen die Frage der Definition von Religion bei Charles Darwin: Er definiert Religion als Glaube an unsichtbare und spirituelle Wesenheiten, „agencies“ nennt er das. Wir können das übersetzen als Glaube an überempirische Akteure. Was bedeutet das? Sie alle sind aus meiner Sicht empirisch nachweisbar. Wir können miteinander agieren, Sie können antworten usw. Ich kann zwar nicht in letzter Konsequenz oder Sie können nicht in letzter Konsequenz beweisen, dass es mich wirklich gibt, ich könnte auch nur ein Traum sein, ob gut oder schlecht: Das müssen Sie jetzt beurteilen. Aber wir können uns zumindest intersubjektiv darauf verständigen: Ja, der ist da, der andere, wir sehen ihn auch. Überempirische Akteure, an die können wir gemeinsam glauben, wir können ihre Existenz aber nicht intersubjektiv nachweisen. Wenn ich Ihnen sage: Wir haben einen Engel im Raum, oder Gott ist anwesend, dann können diejenigen unter Ihnen, die auch religiös sind, das nachvollziehen und können sagen: Ja, das sind Darstellungen, wir haben Symbole, vielleicht sogar ein Gefühl davon, aber wir können die Existenz nicht in gleicher Weise empirisch nachweisen. Wir können es glauben, aber es bleibt tatsächlich ein Akt des Glaubens.

Wir unterscheiden heute in der Forschung Religiosität von Spiritualität. Spiritualität als Modellierung der Ich-Umwelt-Abgrenzung: Wir alle nehmen in unserem Gehirn immer wieder die Abgrenzung vor: Was bin ich und was ist zum Beispiel der Stuhl, auf dem Sie sitzen, oder das Holz, an das ich gerade fasse? Das heißt, wir grenzen ab zwischen dem Ich und der Umwelt. Auch das wird in unseren Gehirnen konstruiert, und in Meditationsübungen können Sie üben und lernen, diese Ich-Umwelt-Abgrenzung herabzusetzen oder sogar aufzulösen, Einheitserfahrungen zu machen. Oder das Gebet, in dem ich mich an einen überempirischen Akteur wende. Das ist Spiritualität in religiösen Formen, wenn ich eins werde mit dem Heiligen Geist, wenn ich eins werde mit Gott, mit Christus oder in der nicht-religiösen Form, wenn ich eins werde mit dem Fußballstadion oder eins werde mit dem Wald oder einfach mit dem Universum.

Religion und Spiritualität korrelieren miteinander, das heißt, wer sehr religiös ist, hat meist auch eine gewisse Spiritualität und umgekehrt, sie sind aber nicht unbedingt miteinander gekoppelt. Sie können auch das eine ohne das andere haben. Religion und Spiritualität werden auch in unterschiedlichen Gehirnregionen bearbeitet und in unterschiedlichen kulturellen Traditionen gepflegt. Deswegen haben Sie in fast allen Weltreligionen immer auch einen starken dogmatischen Zweig. Gott hat also geboten, wie man sich verhalten soll. Und Sie haben auch einen mystischen Zweig, der das oft ein bisschen hinterfragt und dann mit den Gütern des Lehramts aneinander gerät, etwa die Sufis im Islam oder die Mystiker in der christlichen Tradition. Das haben Sie quer durch die Weltreligionen.

Wir können sogar sehen, dass es auch eine Evolutionsgeschichte von Religion gibt. Formen, die wir heute als religiös verstehen, können wir tatsächlich in der Vergangenheit sehen, gerade bei Begräbnissen. Die frühesten Begräbnisfunde, bei denen man sich wirklich sicher ist, werden auf etwa 125.000 vor Christus datiert und stammen aus Afrika. Wir haben Grabbeigaben. Wir haben Sekundärbestattungen, bei denen der Kopf erst noch nicht bestattet wird und der Tote somit Teil der Gruppe bleibt und erst später endgültig bestattet wird. Die Grabbeigaben deuten zumindest daraufhin, dass auch Jenseitsvorstellungen da sind, also dass die Tote, der Tote im Jenseits noch irgendetwas damit anfangen kann.

Wir können natürlich nur schwer von heutigen Formen auf die Vergangenheit schließen, aber soweit wir sehen können, passt das sehr gut zueinander. Wir haben Darstellungen von Personen, übrigens Fruchtbarkeitsdarstellungen von weiblichen Körpern, die sogenannten Venusfiguren – sie sind viel älter als männliche Darstellungen. Wir sehen noch bis in die Antike, dass der Urstoff weiblich ist. Die Materialisten wissen übrigens gar nicht, dass sie eigentlich die Mater, also den weiblichen Mutterstoff verehren. In der christlichen Religion haben wir ja auch das Miteinander des Göttlichen und sogar eine göttliche Mutter, die es hervorbringt.

Vor etwa 14.000 Jahren entstanden die ersten Gebäude in Göbekli Tepe im Südosten der heutigen Türkei (siehe Abb. 1). Das ist interessant, weil sich innerhalb von wenigen Jahren etwas geändert hat. Als ich studiert habe, hieß es noch: Die Menschen entwickeln zuerst eine Wirtschaftsweise und dann entwickeln sie die passende kulturelle und religiöse Form dazu. Heute sehen wir, dass es mehr eine Wechselwirkung ist. Es handelte sich noch um Jäger und Sammler, aber sie errichteten bereits Gebäude, offensichtlich für einen Totenkult. Die Gebäude wiederum trugen zur Sesshaftwerdung bei – interessanterweise übrigens in der Region, die die Bibel als im weiteren Sinne Region des Paradiesgartens definiert. Wir würden aus heutiger Sicht sagen, dass in der Evolution das Natürliche, das Kulturelle und das Geistige immer wieder miteinander wechselwirken.

 

II.

 

Wir können heute in Hirnscans verfolgen, was geschieht, wenn Menschen beten oder wenn sie meditieren. Es kann festgestellt werden was aktiviert wird und was nicht angeregt ist. Das ist genauso, wie beim Geige-Spielen oder wenn Sie auf einem anderen Instrument üben. Unsere Gehirne sind plastisch, und Sie können mit Tätigkeiten, die Sie üben, Fähigkeiten auch der Selbstregulation im Gehirn schaffen. Deswegen wird in den monastischen Traditionen auch von Übungswegen gesprochen.

Religion spielt sich im vorderen Gehirnbereich ab wie andere soziale Kognitionen: Auch wenn Sie mit anderen interagieren, ist die Region aktiv. Übrigens ist das auch die Region, in der sich religiöse Rituale äußerlich abspielen, wo Christen zum Beispiel das Kreuzzeichen machen, Juden die Gebetskapsel aufbinden, Hindus und Buddhisten das Dritte Auge zeigen, Muslime, die sich beim Gebet bis dorthin verneigen, Sikhs das Tuch berühren usw.

In einer britischen Studie mit christlichen Probanden haben die Forscher verschiedene Tätigkeiten ausführen lassen und konnten feststellen: Wenn die Leute ein persönliches Gebet gesprochen haben, war die Aktivierung der Regionen im vorderen Gehirnbereich am stärksten. Sie war schwächer, wenn sie ein Ritualgebet gesprochen haben, wie das Vaterunser. Sie kennen das Problem, man muss immer aufpassen, dass Rituale nicht ausleiern. Und am geringsten war die Aktivierung der Gehirnregion, wenn sie Wünsche an den Weihnachtsmann formuliert haben. Nun werden Sie sagen: Der Weihnachtsmann ist auch ein überempirischer Akteur. Es gibt eine Menge Homines Sapientes , die an den Weihnachtsmann glauben, vor allem kleinere. Und das ist genau der Punkt: Es hängt tatsächlich davon ab, inwiefern man an ihn glaubt. Wir können heute im Gehirn sehen, ob tatsächlich soziale Erfahrung damit gemacht wird.

In einer wunderbaren Studie hat eine Kollegin aus Düsseldorf, Nina Azari, die jetzt zu Recht einen Lehrstuhl auf Hawaii bekommen hat, Atheisten und Christen Psalm 23 lesen lassen: „Der Herr ist mein Hirte…“ Man kann deutlich die Unterschiede sehen: Wenn Sie nicht religiös sind, dann können Sie auch aus dem Telefonbuch vorlesen, dann passiert da nichts. Aber wenn Sie religiös sind, dann ist das eine intensive Erfahrung. Da können natürlich die Philosophen und Theologen fragen: Wie ist die Kausalität? Aber empirisch, religionswissenschaftlich gesehen, können wir einfach sagen: Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem inneren Erleben und dem, was sich in unserem Gehirn abspielt. Oder anders gesagt: Als der Mensch, als unsere Vorfahren diese Gehirnregionen entwickelten, bekamen sie die Fähigkeiten, auch religiöse, spirituelle Erfahrungen machen zu können.

Der Schimpanse hat auch schon ein ziemlich cooles Gehirn, aber beim Homo Sapiens ist noch eine deutliche Weiterentwicklung zu beobachten. Beim Homo Erectus, dem gemeinsamen Vorfahren von Sapiens und Homo Neanderthalensis, ist über den Augen noch Schluss, die Stirn klappt sozusagen nach hinten. Das Frontalhirn ist noch schwach ausgeprägt. Es gibt einige Kollegen, die meinen: Es gab vielleicht schon Ritualverhalten, aber zumindest haben wir noch kein entwickeltes religiöses Verhalten. Ziemlich rasch entwickelt sich dann bei Neanderthalensis und Homo Sapiens diese Gehirnregion, und prompt zeigt sich religiöses Verhalten oder Verhalten, das wir als religiös deuten.

Es gibt Forscher, die sagen: Die etwas schwächere Ausprägung dieses Gehirnbereichs beim Neandertalers gegenüber dem Homo Sapiens könnte dazu geführt haben, dass unterschiedliche Gruppengrößen entstanden, dass der Homo Sapiens möglicherweise in der Lage war, auch durch Religion größere Gruppen zu bilden und dass das einer seiner Vorteile gegenüber dem Homo Neanderthalensis gewesen ist. Aber wir haben uns trotzdem mit ihm vermischt, die allermeisten von uns haben auch ein bisschen Neandertaler-Genom mitgebracht. Das wusste Darwin noch nicht, es hätte ihn aber sicher gefreut.

Die Debatte, ob wir denn schon Vorformen von Religiosität auch bei Tieren entdecken, finden wir auch schon bei Darwin. Er nimmt seinen geliebten Hund und sagt: Wenn sich der Sonnenschirm durch den Wind bewegt, dann knurrt mein Hund. Er sei ein sehr intelligentes Tier und vermutet, da ist jemand. Also: Er vermutet nicht eine Macht, nicht ein Etwas, sondern einen Jemand hinter der Bewegung des Schirms. Darwin schließt daraus: Aha, da ist eine, wir nennen das heute Überwahrnehmung von Wesenhaftigkeit, eine Hyper-Agency-Detection.

Bei anderen Verhaltensformen haben wir es leichter. Musik zum Beispiel oder Balzen finden wir bei Mensch und Tier. Aber Darwin meint, wir finden auch Vorformen von Religiosität oder Kognition, die zu Religion führen können, schon bei Tieren: Trauer bei Elefanten zum Beispiel, bei Primaten, gerade Schimpansen, aber auch bei anderen sozial lebenden Säugetieren, wie Delfinen. Es ist eher unwahrscheinlich, dass Spinnen trauern.

Dann gibt es unter den Primatologen eine große Diskussion über Ritualverhalten, einige sprechen von sogenannten Regentänzen. Jane Goodall zum Beispiel hat auch das Stichwort Spiritualität in ihr Handbuch der Primatologie aufgenommen. Ich als Religionswissenschaftler würde es in Anführungszeichen setzen, weil wir nicht wissen, ob eine Vorstellung dahinter steckt. Wenn ein bestimmtes Verhalten auftritt, auch wenn das manchmal schon sehr rituell aussieht, will ich einfach sagen: Auch hier haben wir zumindest keine Hinweise darauf, dass religiöses Verhalten völlig unnatürlich wäre und mit nichts zu vergleichen wäre, was es nicht auch zumindest bei den sozial lebenden Säugetieren gibt. Es würde also eher so aussehen, dass wir da schon Vorformen haben, die sich in der Primatenlinie entwickeln, und irgendwann kommt dann der Homo Sapiens religiosus dabei heraus.

 

III.

 

Sie können den Effekt selber an sich testen, wenn Sie sich dieses Bild (siehe Abb. 2) anschauen, lächeln die Leute immer. Was sieht man da? Ein Gesicht, genau. Ich versichere Ihnen, das ist ein Gebäude. Auch ich, obwohl ich das jetzt bestimmt schon 1000 Mal gesehen habe, nehme automatisch ein Gesicht wahr, ein Küken oder so. Ich will es füttern. Tatsächlich ein freundliches Gesicht auch, das so nicht geplant gewesen ist. Das ist eine ganz normale Kirche in Florida, sie heißt jetzt im Volksmund „Chickenchurch“. Da gehen die Leute nun hin, um sich das anzuschauen. Wir können gar nicht anders, als aus schon kleinsten Anzeichen automatisch eine Wesenhaftigkeit anzunehmen.

Hyper-Agency-Detection, wir sehen ein Gesicht. Deswegen können wir auch mit Smileys kommunizieren, weil uns reicht: Punkt, Punkt, Komma, Strich – und wir sehen ein Gesicht. Und wir sehen nicht nur, dass das ein Gesicht ist, wir sehen automatisch: Ist es fröhlich? Ist es traurig? Wenn es grün ist, ist es krank. Wir können also aus ganz wenigen Anzeichen eine ganze Geschichte entwickeln, eben das nennt man in der Kognitionspsychologie Hyper-Agency-Detection. Dann die Theory of mind: Welche Vorstellung steckt dahinter? Wir sehen ein Gesicht. Es ist niedlich, es ist nett. Wir wollen es füttern, wir wollen ihm vielleicht sogar opfern.

Das ist eine Grundwahrnehmung, die sicher auch schon unsere Vorfahren hatten, wenn sie in den Wolken, in bestimmten Gesteinsformationen, in bestimmten Bäumen wahrnehmen konnten, dass die Welt um sie herum nicht tot ist, sondern in irgendeiner Art und Weise mit ihnen interagiert, dass sie belebt ist, dass es gute und böse Mächte gibt, die aus der Natur mit uns interagieren, die uns beobachten und im Blick haben. Und tatsächlich sind es dann Bilder von Menschen und diese vor allem als Leichen, die diese Funktion haben. Sie alle kennen den Effekt, wenn man einen Schädel anschaut. Der kuckt einen weiterhin an und hat eine ganz eigentümliche Faszination und Macht, weil da eben die Hyper-Agency-Detection anhält.

Wir haben in den Ahnenkulten der Vergangenheit, aber auch bis in die Neuzeit, einen ganz gezielten Umgang mit den Ahnen. Ich habe es erwähnt: Oma bleibt Teil der Kultur. Sie schaut weiter, was in der Horde vor sich geht. Sie möchte, dass ihre Gebote eingehalten werden, und es ist besser, sie nicht zu erzürnen. Das sind ganz alte Vorstellungswelten, auch Abraham wird selbstverständlich zu seinen Vätern versammelt. Wir haben tatsächlich am Anfang der Menschheitsentwicklung eine Verehrung der Ahnen und Vorfahren. Später wird es immer komplexer. Wenn Sie sich zum Beispiel amerikanische Totempfähle ansehen, dann sind das riesige Gesichter und Augen, die das ganze Dorf im Blick haben und die Gebote überwachen. Die gläubigen Menschen erfahren sich als beobachtet und sie ändern automatisch ihr Verhalten. Auch das können wir heute nachprüfen – mit ganz einfachen Experimenten.

Mein Lieblingsbeispiel, obwohl dabei Blumen schlecht abschneiden, ist die Kaffeekasse. Wenn Sie über Kaffeekassen Augensymbole kleben, spenden die Menschen mehr, als wenn Sie Blumensymbole darüber kleben. Jetzt wissen Sie auch, warum Sparschweine immer so niedlich kucken. Wir reagieren automatisch darauf.

Und dann die Anwesenheit einer Gottheit, die uns anblickt, die uns sozusagen in den Blick nimmt, die sich gar für uns opfert. Das sind außerordentlich starke Signale. Darauf kann man Weltreligionen bauen. Später dann der monotheistische Glaube: nur noch eine Gottheit, sehr abstrakt, die alles im Blick hat, alles sieht, alles weiß. Das ist eine ganz späte kulturelle Entwicklung. Auch das weiß Darwin schon. Wir haben sie im alten Ägypten, bei Echnaton. Wir haben sie dann aber vor allem beim Volk der Israeliten, dem Volk der Semiten – nämlich derjenigen, die anfangen zu schreiben. Sem ist der Sohn Noas, der beginnt die Religion und das Recht zu verschriften, dann entsteht der Monotheismus, die semitischen Religionen, Judentum, Christentum, Islam und Bahai.

Wenn Sie auf alle weitere Symbolik verzichten, wenn Sie das Göttliche auf nur noch ein einziges Symbol zusammendampfen, kommt in den Religionen vom alten Ägypten über das Christentum, den Islam, bis zu den Freimaurern am Ende immer das Auge heraus. Das Schauende, das, was uns anschaut, das, was uns wahrnimmt, von dem wir uns gesehen wissen. Es ist das letzte Symbol des Göttlichen, wenn wir es komplett als Einheit denken.

Wir können das sogar in der Sozialstruktur sehen. Die Ahnenkulte, die besonders erfolgreich sind in Kleingruppen,: Wer ist mit wem verwandt? Jetzt wissen Sie auch, warum in der Bibel immer diese ellenlangen Ahnentafeln genannt werden. Es war ganz wichtig zu wissen, mit wem man verwandt ist. Über einen Palaver, in dem man feststellt, über welche Ecken man verwandt ist, konnte man Vertrauen zueinander herstellen. Dann werden die Einheiten aber immer größer, wir haben die Agrarkulturen mit Dörfern und Städten. Jetzt werden auch die Götter abstrakter. Einzelne Städte haben Götter. Einzelne Reiche haben Götter, und die einzelnen Bereiche Handel, Fruchtbarkeit usw. bekommen eigene Gottheiten. Zum Beispiel gab es schon in Ägypten Totengerichte, vor denen das, was in diesem Leben nicht ausgeglichen wird, im nächsten Leben ausgeglichen wird.

Und schließlich der Monotheismus: Gott sieht alles, und in ihm fließen alle Wege zusammen. Eine ganz späte Entwicklung, die sich auch nach Darwin naturwüchsig ergeben würde. Wenn tatsächlich die Kooperationsverhältnisse immer globaler werden, dann brauchen wir eben einen Gott, der in Marrakesch genauso zuständig ist wie in Hamburg. Das ist dann eben nicht mehr ein Lokalgott, sondern das ist dann der Gott, der überall im Universum mit uns ist und bei uns ist.

Und wofür soll das Ganze gut sein? Das ist die große evolutionäre Frage: Nutzt es was? Sonst wird es schwierig zu erklären, wie es evolviert sein könnte? Und tatsächlich hatte Darwin auch schon die richtige Grundidee, und heute ist sie empirisch gut belegt: Der gemeinsame Glaube daran, dass uns eine Gottheit beobachtet, führt dazu, dass wir innerhalb der Glaubensgruppe stärker miteinander kooperieren. Also wenn ich glaube, dass mich Oma bestraft, dass mich die Ahnen bestrafen werden, wenn ich den Schwur Ihnen gegenüber breche, dass ich nach München komme und den Vortrag halte, wenn ich der Auffassung bin, dafür bestraft mich eine Ahnin oder eine Gottheit, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ich auftauche. Keine Sorge, ich wäre auch so gekommen …

 

IV.

 

Das heißt, es ist nicht zwingend notwendig, dass es diese dritte Macht gibt. Aber der gemeinsame Glaube daran, dass sie da ist, stärkt unter den Menschen, die diesen Glauben haben, die Kooperation. Sie haben sozusagen eine dritte Partei, die das Ganze im Blick behält. Sie kann Segen und Gesundheit geben, aber auch Fluch und Krankheit. In den späteren Theologien landen wir dann auch bei Schwierigkeiten wie Hiob. Dass manchmal die, die sich an die Gebote halten, dafür gar nicht belohnt werden. Es entstehen neue Herausforderungen, es entsteht eine geistige Welt, die damit unglaublich konstruktiv umgeht und die wir bis heute weiter entwickeln. Also auch hier wäre Darwin noch völlig bei uns.

Religion begünstigt soziale Verhaltenssteuerung, Kooperation nach Regeln, auch gesundheitlich. Wir können mindestens um Hilfe bitten, wir können mindestens Placebo-Effekte auslösen. Aber bei Darwin steht bereits im Vordergrund: soziales Verhalten nach Regeln, kulturelle Evolution. Jetzt können verschiedene religiöse Netzwerke und Gruppen, später auch Gemeinschaften entstehen. Das, was erfolgreich ist, kann sich durch die Jahrhunderte fortsetzen, bis in unsere Zeit. Also die kulturelle Evolution setzt auf der biologischen auf.

Damit verstehen wir auch, was diese seltsamen, auch kostspieligen Bräuche bedeuten. Warum versammeln sich die Leute einmal in der Woche beispielsweise? Die Muslime am Freitag, die Juden am Samstag, die Christen am Sonntag, begehen ihre Gottesdienste und verehren gemeinsam die überempirischen Akteure. Das ergibt Sinn, wenn Sie eine Gemeinschaft aufbauen und genau überprüfen können: Wer ist noch alles da? Sie signalisieren sich gegenseitig: Ich bin wirklich da, ich glaube, du kannst mir vertrauen. So entstehen Vertrauensgemeinschaften. In Amerika oder Kanada, in den klassischen Ländern, in denen man viel umher zieht, ist es ganz üblich: Wenn Sie in eine neue Stadt ziehen, gehen Sie sonntags in den Gottesdienst. Dadurch bekommen Sie Anschluss an Menschen, denen Sie vertrauen können.

Wir haben Initiationsrituale, die schmerzhaft sein können, die kostspielig sein können – im Schwabenland Konfirmation genannt. Ich war damals noch nicht religiös. Ich komme aus einer nicht-religiösen Familie und erinnere mich, dass ich mich damals bei einem Freund erkundigt habe, der „Konfi“ hatte, was das denn sei; es würde mich interessieren. Seine Antwort war insofern eine Katastrophe, weil er gesagt hat: Musst du mitmachen, Michael. Ist langweilig, gibt aber 2.000 Mark. Und wie wirkte das auf mich als Außenstehenden? Die Glaubwürdigkeit war damit erschüttert, denn ich hatte ja gedacht, die machen das, um Teil dieser Gemeinschaft zu werden. Ich hatte ein Interesse daran. Stattdessen hat die Oma es gut gemeint und Geld ausgesetzt, aber hat damit das Signal entwertet. Er hat das also nicht gemacht, um dann am Ende seine Verse aufzusagen oder bei der Bar Mizwa aus der Thora vorzulesen oder beschnitten zu werden im Muslimischen. All das nicht, sondern ihm ging es darum, am Ende 2.000 Mark zu bekommen. Das hat mich tatsächlich ein paar Jahre zurückschrecken lassen. Ich habe gedacht: Ne, das brauchst du jetzt nicht.

Sie merken schon, es ist ganz interessant mit diesen die Glaubwürdigkeit steigernden Symbolen. Wenn Sie beispielsweise das Kopftuch diskriminieren, wie viele Jahrzehnte in der Türkei, also Frauen bestrafen und benachteiligen, die ein Kopftuch tragen, dann erhöhen Sie die Glaubwürdigkeit. Dann ist das Kopftuch wirklich ein Signal für die individuelle Frömmigkeit. Obwohl sie Nachteile erleidet, trägt sie es trotzdem. Wenn sie das Kopftuch aber vorschreiben, wie im Iran: Dann sagt es nichts mehr über die individuelle Frömmigkeit aus, sondern ist nur noch ein Zwang.

Und jetzt verstehen Sie, warum die Menschen in der Türkei darum gekämpft haben, Kopftücher wieder tragen zu dürfen und warum sie im Iran dagegen aufbegehren, sich die Kopftücher sogar vom Kopf reißen, obwohl sie dafür eingesperrt werden. Wenn Sie eine Religion kaputt machen wollen, machen Sie sie zur Staatskirche. Das ist der schnellste Weg. Denn wenn die Signale nicht mehr aus innerer Überzeugung gelebt werden, sondern aus äußerem Zwang, dann verlieren sie ihre Signalwirkung. Religion wirkt dann gemeinschaftsbildend, wenn sie freiwillig gelebt wird. Wenn Sie dazu zwingen, dann geht die Signalwirkung kaputt. Das können wir in Zwischenzeit relativ gut nachvollziehen.

Warum ist es klug zu opfern? Einige Religionen sind dazu übergegangen, diese Opfer dann auch sinnbildhaft zu verwenden, nicht mehr nur zu zerstören. Wenn Jesus sagt, das Scherflein der Witwe sei so viel wert wie der Beitrag des reichen Mannes, dann haut das nominal nicht hin. Ich habe Banker gelernt – vor der Religionswissenschaft.

Nominal haut das nicht hin. Aber von der Signalwirkung her stimmt das tatsächlich. Wenn ein armer Mensch noch etwas abgibt, von dem Wenigen, was er noch hat, ist das ein sehr starkes Signal. Und wenn Sie in arme Länder gehen, werden Sie die größten und prachtvollsten Tempel und Kirchen finden, weil die armen Leute damit signalisiert haben: Schaut her, wir meinen es wirklich ernst. Es hat dann eine Funktion. Religion bröckelt, wenn es den Leuten gut geht. Wenn wir das Gefühl haben, wir brauchen sie nicht. Unter wohlhabenden Bedingungen setzt Säkularisierung ein, existenzielle Sicherheit und Bildung. Dort aber, wo die Menschen tatsächlich das Gefühl haben, sie brauchen die Gemeinschaft, opfern sie buchstäblich ihr letztes Hemd.

Dazu passen natürlich wunderbar die zehn Gebote der Bibel. Nicht morden, nicht stehlen. Des anderen Hab und Gut nicht einmal begehren und weitere Vorschriften. Tolle Gebote zum Zusammenhalt, und dann der Sabbat. Ein wunderbar zu beobachtendes Gebot. Wer hält das ein? Ich habe das auf einer Tagung von Rabbinern vorgetragen, war ganz stolz und habe gesagt: Hier, liebe Rabbiner, wir haben etwas ganz Tolles herausgefunden, nämlich wofür der Sabbat gut ist. Und die Rabbiner lächelten und sagten: Ach, das ist ja toll, dass ihr Wissenschaftler jetzt auch mal dahinter kommt. Bei uns sagt man seit Jahrhunderten in der jüdischen Überlieferung: Der Sabbat hat die Juden mehr gehalten, als die Juden den Sabbat. Also dort, wo der Sabbat eingehalten wurde, blieb die Gemeinde zusammen. Dort, wo sich der Sabbat auflöste, löste sich auch die Gemeinschaft auf. Und die Rabbiner fanden es lustig, dass wir jetzt nach Jahrhunderten auch kommen und sagen: Wir haben etwas ganz Tolles herausgefunden.

 

IV.

 

So funktionieren Religionsgemeinschaften. Sie erzeugen Gemeinschaften, die nach innen kooperieren. Auch da wäre Darwin noch völlig dabei. Die nach innen kooperieren, sich aber nach außen abgrenzen. Religion ist also in-group-kooperativ. Sie erzeugt Kooperation nach innen. Das ist aber nicht automatisch gut. Sie können mit Religion Hospitäler, Stiftungen, Universitäten und sogar Katholische Akademien errichten, aber Sie können damit auch Terrorgruppen oder eine Mafia aufbauen. Sie eröffnet ein Potenzial für das Gute und für das Schlechte, und deswegen entwickeln die meisten Religionen so etwas wie eine Theologie, die dann postuliert: Jetzt reflektieren wir aber auch noch über die Religion. Auch dafür hat Darwin schon plädiert; er war ja auch Theologe. Seine Idee: Über die Rohmasse der Religiosität müssen wir auch mit Vernunft nachdenken.

Wir finden in einigen religiösen Traditionen sogar den Effekt, dass einzelne Mitglieder ganz auf die eigene Fortpflanzung verzichten und sich so vollständig in den Dienst der Gemeinschaft stellen. Das können wir bei sozial lebenden Insekten auch nachweisen: Einzelne nehmen sich ganz zurück und investieren in die Gruppe. Das entspricht der Haltung in einigen religiöse Traditionen: Eine Nonne hat keine Kinder, aber sie unterstützt andere Familien durch Lehre, im Krankenhaus, im Kindergarten, stellt sich in den Dienst des gemeinschaftlichen Lebens.

Auch bei den Amish in den USA, findet sich ein Beispiel; die Institution der Lehrerin. Eine Frau in den Amish-Schulen kann nur so lange Lehrerin sein, bis sie eine eigene Familie hat. Dann wird erwartet, dass sie für ihre Familie da ist. Und einige Amish-Lehrerinnen verzichten ein Leben lang auf eine eigene Familie und sind deswegen hochgeachtete Persönlichkeiten. Das nennt niemand Zölibat, aber es wirkt in der gleichen Form, die Sie ja in der katholischen oder buddhistischen Tradition auch kennen. Das wusste Darwin nicht.

Darwin ging davon aus, dass sich alle Menschen maximal vermehren, wie im Tierreich. Das hat er von Malthus übernommen. Das ist aber nicht der Fall, wie wir heute wissen. Menschen entscheiden über ihre Beziehungen und auch über die Zahl ihrer Kinder. Tatsächlich aber, quer durch alle Religionen, haben Religiöse im Durchschnitt mehr Kinder. Und das hat nicht nur mit der Ablehnung von Verhütung zu tun. Das ist deutlich komplexer. Es ist ein ganz starkes evolutionäres Argument, dass Religiosität nicht nur gemeinschaftsfördernd sein kann, sondern auch reproduktionsfördernd, dass sie direkt die gold standards der evolutionären Fitness erfüllt.

Wir kennen Religionsgemeinschaften wie die Shaker, eine christliche Gruppe, entstanden im 19. Jahrhundert, die den Zölibat für alle fordert. In ihrer Hochphase waren es 8.000 Menschen in 23 Gemeinden. Jetzt sind es noch drei Leute in einer Gemeinde. Dagegen stehen die Amish, ebenfalls eine christliche Gruppe: Sie waren 5.000 um 1900, jetzt sind es 300.000. Sie verdoppeln ihre Anzahl alle 15 bis 20 Jahre. Warum? Sechs Kinder pro Frau, selbst wenn da zwei austreten, verdoppeln sich ihre Zahl trotzdem, aber es treten nicht einmal zwei aus. Die kinderreichsten menschlichen Gemeinschaften, die wir heute auf unserem Planeten kennen, sind die Hutterer, ebenfalls christlich, die Amish und die Haredim, die sich zu einem ultra-orthodoxen Judentum bekennen. Da können Sie sehen, Religionsgemeinschaften müssen lebensförderlich sein, ansonsten haben sie keinen Bestand

Der frühe Buddhismus und das frühe Christentum hatten nicht unbedingt eine pronatale Haltung, aber die Varianten, die sich durchgesetzt haben, setzten sehr stark auf Kinder und Familie. Und in den zölibatären Kontexten ist es häufig so, dass diejenigen, die selbst zölibatär leben, Familien unterstützen, segnen, Ehen schließen und damit die Fruchtbarkeit der Gesamtgruppe durchaus unterstützen. Die ersten Worte an den biblischen Menschen sind ja auch: Seid fruchtbar und mehret euch! Nach jüdischer Zählung ist das übrigens das erste aller 613 Ge- und Verbote der Bibel.

Ich darf noch erwähnen, dass Darwin selbst ein Papier hinterlassen hat, in dem er sich die Frage gestellt hat, ob er Kinder haben soll oder nicht. Er hat Pro und Contra aufgeschrieben, am Schluss landet er bei Pro, dankt Gott, heiratet dann auch, – eine fromme Christin – und die beiden haben gemeinsam viele Kinder. Es ist also eine wunderbare Ironie. Er hat zwar wissenschaftlich behauptet, dass wir genetisch dazu verdonnert wären, viele Kinder zu haben, hat uns aber selber das Dokument hinterlassen, wo er diese Abwägung vorgenommen hat.

 

V.

 

Lassen Sie mich gegen Ende auch zeigen, dass wir diese Verbindung nicht nur in Gemeinschaften haben, sondern auch bei Paaren. Denn bei Säugetieren läuft die Reproduktion normalerweise immer mit zwei Geschlechtern. Das ist ja im Tierreich nicht immer so, aber bei Säugetieren hat sich die sexuelle Fortpflanzung durchgesetzt.

Dass da ein Zusammenhang bestehen könnte, hat ein gewisser Denker schon vermutet, dessen Namen Sie bestimmt auch kennen: Goethe. Dieser Goethe modelliert genau diese Situation: Da kommt also die Margarethe aus einer Kirche, und der Faust, ein Säkularer, der eigentlich dabei ist, mit der Religion zu brechen, erblickt sie und möchte mit ihr in ein reproduktives Kooperationsspiel eintreten. Sie ist sich nicht sicher, ob sie diesem Faust vertrauen kann – und stellt ihm die Gretchenfrage: Versprich mir, Heinrich. Faust: Was ich kann. Margarethe: Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann. Allein ich glaub, Du hältst nicht viel davon. Faust: Lass das mein Kind. Du fühlst, ich bin Dir gut. Für meine Lieben ließ ich Leib und Blut. Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben. Margarethe: Das ist nicht Recht. Man muss dran glauben. Also er fragt: Komm, vertrau mir, das wird was mit uns, und sie fragt: Wie hältst du’s mit dem Glauben? Sie fragt nicht nach akademischen Titeln. Sie fragt nicht nach der Einkommenssteuererklärung. Sie fragt nach seinem Glauben.

Ich bin übrigens darauf gestoßen, weil meine Frau – übrigens türkischer, muslimischer Herkunft, wir sind ein christlich-muslimisches Paar – auf einem katholischen Mädchen-Gymnasium war. Ich war einmal bei einem Klassentreffen der Babysitter, als einziger Mann zugelassen. Da hat mir dann eine der anwesenden Studentinnen erzählt, dass ihre Mutter zu ihr gesagt hat, sie solle jetzt mal gefälligst nach einem Mann suchen, sie hätte auch gern Enkel. Da sie auf dem Weg sei, Medizinerin zu werden, helfe nur noch die Kirche. Sie solle also in der Kirchengemeinde schauen, weil man da Männer findet, die auch eine Ärztin heiraten.

Ich muss zugeben, das war für mich erstmal dermaßen fremd, aber dann haben wir die Daten der Schweizer Volkszählung analysiert, und die Zusammenhänge sind evident. Als ich diese Daten einmal vorgestellt habe im Rheinland auf einer Pfarrertagung, meinte eine Pastorin: Ja, Herr Blume, die Korrelation ist schon sehr stark, aber meine Gemeinde ist ja kein Heiratsinstitut. Ein älterer Kollege streicht sich durch den Bart und sagt: Jetzt weiß ich, warum wir immer diese Zeltlager organisieren mussten. Raus in die Wildnis, Glaubwürdigkeit steigernde Signale, Klampfe, Bibellesen.

Ich war einmal bei der jüdischen Gemeinde in Frankfurt eingeladen als Gastredner. Bei der Predigt am Freitagabend hat der Rabbiner gesagt: Ihr wisst, unser erstes Gebot, seid fruchtbar und mehret euch, deswegen rufe ich die Damen an den Tischen auf: Schaut euch um und seid barmherzig. Ich lachte auch so wie Sie, aber neben mir saß eine Jurastudentin und meinte: Also, Herr Doktor Blume, ich weiß nicht, warum Sie lachen. Wir sind eine religiöse Minderheit. Wir müssen schauen, wo wir Gleichglaubende finden. Was glauben Sie, warum mir meine Eltern das Seminar bezahlen? Ich kann bestätigen, als es am Sonntagnachmittag auseinander ging, hatten sich einige Paare gefunden.

Sie sehen es auch bei Mephistopheles, bei Goethes Teufel. Der spottet sogar darüber: Ich hab’s ausführlich wohl vernommen, Herr Doktor wurden da katechisiert. Hoff, es soll ihnen wohl bekommen. Die Mädels sind doch sehr interessiert, ob einer fromm oder schlicht nach altem Brauch. Sie denken, duckt er da, wird er’s bei uns eben auch.

Also ein Mann, der bereit ist, sich einer Gottheit zu unterwerfen, bietet zumindest eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass er sich auch an die Eheregeln hält. Ob er der bessere Ehemann ist, das müssen Sie entscheiden. Aber es ist empirisch etwas dran. Religiöse heiraten im Durchschnitt etwas früher, die Beziehungen sind stabiler, und sie haben mehr Kinder. Religion ist biologisch erfolgreich.

Ich möchte noch kurz auf die Medien hinweisen und postulieren, dass tatsächlich mit jedem neuen Medium ganz neue Formen von Religion und religiöser Vergemeinschaftung entstehen. Denn wenn die überempirischen Akteure nur gemeinsam geglaubt werden können, dann haben die Medien Sprache, Schrift, Film, Internet natürlich eine enorme Auswirkung darauf, wie wir diese höheren Wesen kommunizieren und uns vorstellen. Wir haben über Jahrzehntausende nur die Sprache als Form gehabt, um religiöse Tradition weiterzugeben. Mit dem Noah-Sohn Sem entstehen die semitischen Religionen, die Schriftreligionen, zu denen wir heute gehören. Wir haben die Umwälzungen durch den Buchdruck. Wir haben dann die elektronischen und jetzt die digitalen Medien. Ich kann Ihnen als Antisemitismus-Beauftragter sagen: Mit jedem Aufkommen neuer Medien erleben wir immer auch eine Explosion von Verschwörungsmythen und Verschwörungsglauben. Mit neuen Medien entstehen positive Formen von Religion, aber auch immer hasserfüllte und verschwörungsmythische Formen. Nicht mehr der Glaube an ein absolutes Gutes, sondern der Glaube an ein absolutes Böses, das die Welt regiert.

Ich will zum Schluss kommen: Ich kann Ihnen nicht beweisen, ob es Gott gibt oder nicht. Das können Religionswissenschaftler nicht. Das ist nicht unser Job. Ich kann nur so glauben oder nicht glauben wie alle im Raum. Ich persönlich bin evangelisch geworden. Meine Frau ist muslimisch, wir haben drei Kinder. Also Sie sehen, gemäßigt religiös … Aber was ich Ihnen sagen kann, ist, dass nach heutigem Erkenntnisstand Charles Darwin auf der richtigen Spur war. Religion wiederspricht der Evolution nicht, sondern Religion scheint ein Produkt der Evolution zu sein. Und katholische Theologen, zum Beispiel im Gefolge von Teilhard de Chardin, die dahinter sogar eine Zielgerichtetheit sehen, die haben zumindest spannende Gedanken formuliert.

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