Hybride Seelsorge

Unterwegs in kirchlich untypischen Räumen

Im Rahmen der Veranstaltung "Seelsorge anders? Das Potenzial der Klöster", 05.11.2017

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Hinführung

 

Vor einiger Zeit war ich zu einem Jahrestreffen der Vikare in der württembergischen Landeskirche in Bad Boll eingeladen, an dem bis zu 150 junge Pfarrer und Pfarrerinnen teilnahmen. In einem der akademischen Vorträge (Prof. Dr. Fritz Lienhard) tauchte der für mich bislang unbekannte Begriff der „Hybriden Seelsorge“ auf, womit auf die Seelsorge in kirchlichen untypischen Räumen verwiesen wurde. Erst im zweiten Nachdenken und nach einem abendlichen Gespräch mit dem Referenten leuchtete mir für zahlreiche meiner Aktivitäten deren Sinnhaftigkeit ein, ließen sie sich doch schnell in diese Beschreibung einordnen. Als katholischer Theologe mit der Spiritualität der christlichen ZEN Meditation in ein klassisches Benediktinerkloster eingetreten, werde ich nach etwa zehn Jahren „monastischer Grundausbildung“ in eine Waldklause in den Resten einer ca. 1000 Jahre alten Burg bei Überlingen/Bodensee eingeladen, um zu wechselnden Themen vor verschiedenen Gruppen in- und außerhalb des kirchlichen Bereiches zu sprechen. In den fast 25 Jahren der eremitischen Lebensweise habe ich mich neben der Erforschung des frühchristlichen zumeist orientalischen Mönchtums in zahlreichen Tagungen und mehreren Publikations- reihen, mit den mystischen Traditionen im Christentum und Buddhismus, neuerdings auch im Judentum und Islam beschäftigt. Dabei haben sich mehrere Projekte ergeben, in denen ich die spirituelle Botschaft von Jesus dem Christus in andere und neue gesellschaftliche Räume hineingetragen habe, in Räume, die von vielen Menschen aufgesucht werden, die üblicherweise selten kirchliche Räume betreten. Ich möchte von einigen dieser Projekte berichten, zuvor aber kurz meine historischen und strukturellen Überlegungen darlegen.

 

Geschichtlicher Rück- und Überblick sowie Thesen zur heutigen gesellschaftlichen, politischen und pastoralen Situation in Deutschland und Europa

 

Die kirchlichen und monastischen Seelsorgefelder werden immer noch nach Vorgaben, die in den Entscheidungen der sog. karolingischen Reform aus der Zeit von 800 n.Chr. begründet sind, bearbeitet. Der Karolingerkönig Karl ließ sich in Rom vom Papst der lateinischen Kirche zum Römischen Kaiser krönen und salben. Thron und Altar rückten im „Heiligen Römischen Reich deutscher Nation“ eng zusammen und das monarchisch feudale System dominierte über 1000 Jahre den gesellschaftlichen und kirchlichen Raum. Auch wenn es immer wieder zu krisenhaften Spannungen zwischen Kaiser und Papst um die Dominanz kam, so arbeitete die sakrale und die profane Hierarchie weitgehend positiv zusammen, selbst nach der Reformation durch Martin Luther und der konfessionellen Spaltung im Reich. Die im ständigen Reichstag in Regensburg aufliegenden Reichs-Verfassungsdokumente, nämlich die Bibel und die Regel des Hl. Benedikt, drückten diesen grundlegenden Konsens sinnbildlich aus. Nach der Niederlegung der Reichskrone durch die Habsburger im Zuge der napoleonischen Kriege und der Niederlage der Korsen 1815 kam es zum Versuch einer Restauration der feudalen Strukturen in Staat und Kirche. Mit dem Ende des 1. Weltkrieges, oft als „die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet, brachen vier Kaiserreiche in Europa zusammen: das russische Zarenreich, das deutsche Hohenzollernreich, das österreichisch-ungarische Habsburgerreich und das Sultanat des osmanischen Reiches. Die Wirren, Schrecken und Ergebnisse des 2. Weltkrieges machten in Europa und von dort ausgehend in einem Großteil der Welt das demokratische Staats- und Gesellschaftsmodell bekannt und vorherrschend. In Deutschland und in vielen Regionen Europas herrscht seit über 70 Jahren Friede und drei Generationen sind in einer demokratischen Gesellschaft aufgewachsen. In der Kirche herrschen jedoch noch weitgehend die faktisch feudalen Strukturen weiter.

Für Gläubige und andere Staatsbürger entsteht immer mehr ein Unverständnis und eine Unfähigkeit, in Kirchen und anderen Institutionen nicht demokratisch geprägte Strukturen (Wahl und Abwahl, Finanzgebaren, Rechenschaft usw.) zu akzeptieren und sich hier positiv einzuordnen. Dieser Prozess wird sich in den nächsten Jahrzehnten verstärken, da sich auch in Familien, Schulen und Arbeitsstellen sowie in nahezu allen gesellschaftlichen Einrichtungen die demokratischen Strukturen vertiefen werden. Die Folge davon wird sein, dass sich kirchliche und monastische Seelsorge an einem volksnahen, demokratischen Gesellschaftmodell wird orientieren müssen. Die Kirchen können sich immer weniger auf eine postfeudale Ständeordnung und einen von dort kommenden Auftrag stützen bzw. sich auf dieser ausruhen, sondern müssen, wie vor der „Konstantinischen Wende“, ihre „Frohe Botschaft“ direkt ins Volk bringen. Das wird aufdecken, wie wenig der Glaube in der Tiefe verwurzelt und wie wenig er intellektuell und spirituell durchdrungen war. Zur Verkündigung an alle Volksschichten werden Diözesen wie auch Klöster die Schnittstellen und sozialen Räume, inklusive der digitalen und sozialen Medien, aufsuchen müssen, die von Menschen begangen und besucht werden. Die Kirche wird erst einmal zum Menschen gehen, um die Botschaft seiner Erlösung zu verkündigen, da die Menschen den Kontakt zum Glauben, der ja auch mühsam und manchmal unverständlich erscheint (z. B. die Debatte um die Vaterunser Bitte: „…und führe uns nicht in Versuchung…“) verlieren oder schwer finden.

In den traditionell kontemplativen Mönchsorden der Benediktiner, Zisterzienser, Trappisten und Kartäuser bedeutet das Leben und Wirken in einem demokratischen Gesellschaftsmodell, offen zu sein für demokratisch geprägte GottsucherInnen. Die weitere Formung und Reifung der Mönche und Nonnen in einem kontemplativen Umfeld richtet sich nach den Regeln der einzelnen Ordensinstitute und der Gnade Gottes. In der Kontemplation kommt es zu einem Zusammenwirken von erlösungstheologischen Impulsen aus der Christusnachfolge (Gnade) und schöpfungstheologischen Grundgegebenheiten des Menschseins.  Im Hineinhalten der eigenen Existenz in die Stille von „Gebet und Arbeit“ reift der Christ zu seiner vollen Wahrheit. Aus der Wirklichkeit dieser Gotteskindschaft heraus, die sich prozesshaft entfaltet, vermag er andere Menschen einzuladen, diesen Weg zur Fülle des Menschseins mitzugehen. Dazu muss der Mönch oder die Nonne oft aus dem Rückzug des Klosters heraustreten, um dem Suchenden in einem untypischen Seelsorgeraum zu begegnen.

Dazu möchte ich nun aus meiner eigenen Erfahrung der letzten Jahre einige Beispiele berichten.

 

Beispiele der Hybriden Seelsorge

 

Die Herbstkonferenz der württembergischen Landeskirche

Die Herbstkonferenz der Vikare und Vikarinnen der württembergischen Landeskirche findet jährlich in der Evangelischen Akademie Bad Boll statt. Als Benediktiner sollte ich auf Einladung des Leitungteams im Ordensgewand erkenntlich sichtbar teilnehmen. Die Konferenz 2015 hatte das Thema: „INSPIRATION! Wer inspiriert mich? Wie inspiriere ich?“ Im digitalen Archiv der Herbst Konferenz (www.herbstkonferenz.de) startet der Kurzbericht zum Jahre 2015 mit dem oben angezeigten Bild von mir und folgenden Worten: „Zudem wurde die ganze Herbstkonferenz von dem als Klausner lebenden Benediktinermönch Jakobus Kaffanke begleitet. Durch seine Anwesenheit regte er zu vielerlei Austausch an und irritierte produktiv durch seine eigene Lebensform. Vor allem aber praktizierte er die wunderbare Ökumene des Gebets, indem er mit uns zusammen Gott lobte in Stundengebeten und frühmorgendlichen Schweigemeditationen“.

Weiterhin wurde ich eher poetisch und interessant vorgestellt:

  1. Inspiriert durch Bruder Jakobus – ein Mönch begleitet die Herbstkonferenz.
  2. Mönche faszinieren und befremden: sind sie Relikte einer durch die Reformation überholten Welt? Oder die Avantgarde eines postmaterialistischen, aufs Wesentliche konzentrierten Lebensstils? Ist ihre Lebensform leibfeindlich? Oder der attraktive Versuch, die ganze Existenz dem Geist hin zu öffnen? Sind sie somit die wahren Experten in der Beantwortung der Frage, die diese Hk als Ganze antreibt: Wie gelingt es uns, ein Leben lang inspiriert zu bleiben? Damit Ihr alle diese Fragen für Euch beantworten könnt, haben wir einen Mönch eingeladen, unsere Herbstkonferenz zu begleiten. wir sind sehr froh, dass wir dazu Bruder Jakobus gewinnen konnten.
  3. Jakobus e. Kaffanke osb ist ein Benediktinerbruder; geboren wurde er 1949 in Magdeburg/Elbe, aufgewachsen in Bingen/rhein, Abitur, wehrdienst, Studium der Rechtswissenschaft, Philosophie und Theologie (rk.), Diplom-Theologe. 1983 trat er in die Erzabtei St. Martin in Beuron/Obere Donau ein. Er arbeitete in der Bibliothek, der Gästebetreuung und in der Exerzitien- und Bildungsarbeit. Ab 1992 eremitische Zeiten im Linzgau (Klause St. Benedikt auf dem Ramsberg); Tagungen und Publikationen zum frühen Mönchtum, christliche Spiritualität und Mystik, Dialog der Religionen.“
  4. Er wird unsere Konferenz durch drei Formen begleiten:
  • durch Stundengebet (Laudes, Mittagsgebet, Vesper, Komplet), evtl. Schweigemeditation am frühen Morgen und späten Abend in einer Kapelle/Oratorium;
  • durch das Anbieten von Gesprächen (jeweils eine Stunde am vor- bzw. Nachmittag) in einem ansprechenden Raum;
  • durch Begleitung der Tagung durch „Dabeisein“: Lasst Euch inspirieren von einem Mitbruder in Christus, der sich täglich um Inspiration bemüht.

Ich glaube, dass man an diesem Beispiel eines für den Benediktiner unüblichen Begegnungsfeldes, in dem gerade das unübliche Auftreten eines Ordenschristen selbst in einer Schwesterkirche, als Inspiration gewollt und inszeniert wird, zeigt, wie Verkündigung in einem untypischen Seelsorgfeld wirken kann und soll.

 

Die Mystik Ausstellung im Städtischen Museum Überlingen

Das Rietbergmuseum in Zürich zeigte vom 23. September 2011 – 15. Januar 2012 die Ausstellung: „Mystik – Die Sehnsucht nach dem Absoluten“. Es war weltweit die erste kulturvergleichende Ausstellung zum Thema Mystik und somit ein wichtiger Baustein im Prozess des Dialoges der Religionen. Sie wurde zu einem Publikumsmagneten und musste zweimal verlängert werden. Das religiös schwer fassbare Phänomen der Mystik (aus dem Griechischen mystikos, «undurchschaubar», «uner-klärbar» und «verborgen», zurückzuführen)  wurde anhand von vierzig Persönlichkeiten aus sechs Weltreligionen – Hinduismus, Buddhismus, Daoismus, Islam, Judentum und Christentum – erschlossen. „Mystik“ als ein Aspekt religionsübergreifender Spiritualität ist als Thema erst im 19. und 20. Jahrhundert entstanden. Das Phänomen der erfahrbaren göttlichen Präsenz oder die Vereinigung mit Gott bezeichnete man im Christentum jedoch schon seit dem 6. Jahrhundert als „theologia mystica“.

Diese mich beeindruckende Erfahrung in Zürich war der Ausgangspunkt für die Überlegung, auch im Umfeld meiner Klause in der Bodenseeregion eine Mystik-Ausstellung zu initiieren. Gemeinsam mit dem Kulturamt der Stadt Überlingen wurde vom 1. April bis 19. Dezember 2015 im Städtischen Museum die Sonderausstellung „Mystik am Bodensee vom Mittelalter bis zur Moderne“ (Bild 1) gestaltet. Das Gesamtprojekt ist u. a. eine Kooperation der Stadt Überlingen mit der Klause St. Benedikt, Ramsberg, der Benediktiner-Erzabtei Beuron, dem Franziskanerinnen-Kloster Reute bei Ravensburg u. a., und wurde mit einem umfangreichen Begleitprogramm durchgeführt. Bereits kurz nach Ausstellungseröffnung, die im Rahmen eines „Offenen Tages des Museums“ fast 1000 Besucher anzog, sprach der Direktor des Rietberg-Museums Dr. Albert Lutz zum Thema: Kann man Mystik ausstellen? Er stellte fest, dass es über die Grenzen der bestehenden Kirchen hinaus ein deutlich großes Interesse an spirituellen Wegen und mystischen Erfahrungen gibt. Er bezeichnete die Züricher Mystik-Ausstellung als bislang publikumsstärkste Veranstaltung seines Hauses. – Zur Überlinger Ausstellung erschien vorab ein begleitender Essayband und im Nachhinein einige der im Begleitprogramm gehaltenen Vorträge in der Reihe HEINRICH SEUSE FORUM. Auch die regionale und überregionale Presse beteiligte sich mit Ankündigungen und größeren Artikeln, verschiedene Radio- und Fernsehberichte informierten und über die Homepage Überlingen liefen Filme auf YouTube. Die Besucher der Ausstellung kamen von nah und fern, bis aus dem Stuttgarter Großraum (150 km). Es gab angemeldete Busgruppen, zahlreiche Führungen und Meditationsangebote in den Ausstellungsräumlichkeiten. Zuletzt wurden über 8000 Besucher gezählt, während andere Ausstellungen lediglich auf 2 – 3000 Personen kommen.

Die Ausstellung und die Vorträge lenkten den Blick auf diejenigen mystischen, innerlichen Kräfte, die auch Maler, Autoren und Musiker zu ihren Werken inspirieren. Gezeigt wurde etwa eine der letzten gemalten „Meditationen“ (Bild 2) des russischen/ deutschen Expressionisten Alexej von Jawlensky (1863 – 1941). Das Bild zeigt in abstrakter Form das Gesicht Jesu; – Jawlensky hat es seit Anfang der 20er Jahre in drei Perioden vielhundertfach in kleinen Formaten gemalt.

Lässt man diese „Meditation“, lässt man den ganzen Schatz der Bilder Jawlenskys und hier insbesondere seine Gesichter auf sich wirken, so erkennt man seine persönliche geistige Entwicklung, eine wunderbare, sich entfaltende Einheit des Gedankens. Gerade die letzten Gesichter der inneren Schau, Geschöpfe seiner aus der Kontemplation gewachsenen Visionen, geben dem Betrachter viele Fragen auf und erscheinen rätselhaft verschlüsselt. Es ist die Frage nach dem letzten Grund des Menschenseins, seiner Abstammung und seines Urgrundes und damit auch seines Sinnes und Ziels. – Jawlensky diktierte am 12. Juni 1938 in seinem letzten Heim in Wiesbaden in einem Brief an den Beuroner Benediktinermönch Willibrord Verkade: „…dann war eines notwendig, eine Form für das Gesicht zu finden, da ich verstanden hatte, dass die große Kunst nur mit religiösem Gefühl gemalt werden soll. Und das konnte ich nur in das menschliche Antlitz bringen. Ich verstand, dass der Künstler mit seiner Kunst durch Formen und Farben sagen muss, was in ihm Göttliches ist. Darum ist das Kunstwerk ein sichtbarer Gott, und die Kunst ist ‚Sehnsucht zu Gott‘“.

Der Prozess der Weitergabe, der Vermittlung der geistlichen Erfahrung ist hier die Sache des Künstlers. Je tiefer die eigene Erfahrung geschenkt und durchlitten wurde, umso sicherer und kräftiger kann die Botschaft formuliert werden, umso radikaler tritt der Künstler hinter dem Medium zurück, wird selber Werkzeug.   Jawlenskys über 700 „Meditationen“ umgibt das Geheimnis der Kontemplation, der inneren Schau. Seine stark reduzierten Gesichter werden durch ein inneres Licht erleuchtet, ein Licht, das den Menschen erstrahlen lässt und aus seiner äußeren Dunkelheit erlöst. Jawlensky hat dies in den Jahren, in denen er im Deutschland der nationalsozialistischen Kulturverwüstung als „entarteter Künstler“ lebte, verwirklicht: „Drei Jahre malte ich (…..) wie ein Besessener(….) immer mit großen Schmerzen“. Die letzten Gesichter Jawlenskys erscheinen als ein lebendiges immerwährendes Gebet, meditiert entlang einer unendlichen Gebetsschnur, als Jesusgebet eines russischen Pilgers.

Ein anderer Schwerpunkt galt der christlichen Mystik. Heinrich Seuse (lateinisch Suso) als „Mystiker vom Bodensee“ im Dominikanerkloster St. Nikolaus in Konstanz war prominent vertreten. Von Seuse waren ein kolorierter Holzschnitt aus dem Jahr 1482 sowie eine stark vergrößerte Illumination (Buchmalerei) aus einer Handschrift des Klosters Einsiedeln zu sehen. Hier (Bild 3) ist in einem Bild die Mystagogie Seuses bildhaft zusammengefasst. Der Mensch (sein Seelenfünklein) geht aus dem dreipersonalen Gott (Vater-Sohn-Heiliger Geist) hervor, er wird aus Gott geboren, inkarniert in einem Menschenleib (Das WORT wird Fleisch) und findet sich auf der grünen Erde wieder. In der Figur der „Ker“ versucht er, aus eigenem Willen die Rückkehr zum „Himmel“, zum „Paradies“ oder zu „Gott“ zu erlangen, erreicht aber nur die Einsicht in die Unmöglichkeit, symbolisiert in der „Leidensgestalt“. Nachdem er noch tiefer, auf dem Tiefpunkt seines Weges angelangt ist, erlangt er die Station, die Figur der „Gelassenheit“. Aus dieser inneren Verfassung, aus der Verfassung des Los- und Zulassens beginnt seine Rückkehr zu den höheren Bewusstseinssphären, nämlich durch das Kreuz Jesu („per crucem ad lucem“ / durch Leid und Tod zum Licht der Auferstehung) und mündet wiederum in den dreipersonalen Gott, der jedoch der Seele den Weg weiterweist in den „weiselosen Abgrund der Gottheit“, hier dargestellt als drei konzentrische Kreise. Wir ahnen, dass wir hier an einer spekulativen Kante einer theologischen Schau stehen, über die es nichts mehr zu sagen, zu denken oder vorzustellen gibt. Seuse hat uns als Frucht seines Weges ein einzigartiges Zeugnis hinterlassen, das noch gar nicht richtig ent-deckt, also freigelegt wurde.

Die Ausstellung blieb aber nicht bei der christlichen Tradition stehen, die den Bodenseeraum seit fast 1700 Jahren am stärksten geprägt hat. Sie griff auch andere Einflüsse etwa aus Fernost auf, die sich erst in den letzten 100 Jahren hier etabliert haben: So zeigte sie die Skulptur eines tibetischen Lamas in einer tantrischen Vereinigung. Die Bilderschau spürte „Kraftorten” am Bodensee nach und zeigte u. a.  die spirituelle Seite von Paracelsus sowie Franz Anton Mesmers „Animalischen Magnetismus”. Thematisiert wurden auch Persönlichkeiten wie der Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse (1904-12 in Gaienhofen), der Maler Otto Dix (1936–1969 in Hemmenhofen) oder der Literaturkritiker Fritz Mauthner (1909 – 23 in Meersburg), deren geistiges Leben von Themen der Mystik, der Innerlichkeit geprägt wurde.  –    Hier wollen wir noch kurz auf die Madonna von Colmar von Otto Dix (* 2. Dezember 1891 in Untermhaus/Gera; + 25. Juli 1969 in Singen) eingehen (Bild 4).

Nach der Ausbildung als Maler erlebte Dix die Schrecken des 1. Weltkrieges vier Jahre als Frontsoldat. Danach wurde er durch seine realistischen, bisweilen auch veristisch bezeichneten Bilder und Serien zum Krieg schnell bekannt. Hier stehen das Leiden und das einsame, oft sinnlose Sterben des einzelnen Soldaten oder die soziale Verelendung der Menschen in den 20er Jahren im Vordergrund. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde er als „entarteter Künstler“ mit Arbeits- und Ausstellungsverbot belegt und zog sich an den Bodensee zurück. Im Frühjahr 1945 wurde er zum „Volkssturm“ eingezogen und geriet im Elsaß in Gefangenschaft. Im Gefangenenlager Colmar malte er für die katholische Lagerkapelle ein Triptychon und andere religiös thematisierte Bilder. Dix hat sich später als Gefangener im Stile eines „Ecce Homo“ – Motives selbst porträtiert und schon in den zwanziger Jahren auf der Kunstakademie die großen Maler des Spätmittelalters wie Martin Schongauer und besonders Matthias Grünewald intensiv studiert. Jetzt in Colmar greift er insbesondere auf Grünewald zurück, dessen Isenheimer Altar wenige hundert Meter entfernt im Museum Unterlinden gezeigt wird. Wir wissen aus erhaltenen Skizzen, wie akribisch sich Dix mit Vorstudien auf die Realisierung dieses Auftrages vorbereitete. Es wird die einzige Auftragsarbeit für ein liturgisches Gemälde bleiben. Erhalten ist ebenso der Karton des Triptychons als Schwarzweiß-Entwurf, während das ausgeführte dreiteilige Bildnis gleich nach der Ausführung spurlos verschwand und nie in der Lagerkapelle aufgestellt wurde. Tatsache ist, dass das Bildnis 1987 auf einer Kunstauktion bei Lempertz in Köln auftauchte und dort für einen sechsstelligen Betrag an die Stadt West-Berlin verkauft wurde, die das Kunstwerk der katholischen Kirche zur Verfügung stellte, die es als Altarbild bis heute in der Berliner Marienwallfahrtskirche Maria Frieden zeigt.

Nachdem die erste Version verschwunden war, malte Dix eine zweite Ausführung, hier allerdings nur die Madonna mit Kind ohne Hintergrund und ohne Seitenflügel. Dieses Bild fand Aufstellung über der Altarmensa in der Kapelle der Kriegsgefangenen. Die Darstellung befindet sich heute im Besitz der Erzabtei St. Martin in Beuron. Das Bild zeigt eine goldgelbe Farbgebung im Hintergrund, und um den Kopf Mariens legt sich eine ausstrahlende Lichtgloriole. Alle Einzelheiten der Körperhaltungen, Gesten und des Faltenwerkes sind der ersten Fassung genau nachgebildet. Rechts unten findet sich eine schwer lesbare Signatur, die die Jahreszahl “45” und die bekannte Abkürzung für Dix enthält. Der Kopf der Madonna mit weit aufgelöstem, prächtig welligem Haar umrahmt mit den zärtlich feinen Händen und Fingern das aufrecht sitzende Jesuskind – die Mitte des Bildes und gleichsam das Geheimnis des Geschehens. Das Kind und seine Mutter, neues Leben in einer tristen ausweglosen Situation des Scheiterns. Soldaten am Ende eines Krieges, der in sich unrecht und grausam war, Menschen auf der Suche nach einem neuen Anfang für ihr Leben.

Eine Ausstellung hinterlässt Spuren, Spuren im kulturellen Bewusstsein einer Stadt, im Bewusstsein der Mitarbeiter an dem umfassenden Projekt, bei den Kuratoren, den Referenten und vor allem den Besuchern. Überlingen und der ganze Bodenseeraum zieht viele Menschen an, – Frauen und Männer, die die Schönheit der Landschaft genießen, die die kulturellen Orte mit ihrer bis in die Eiszeit zurückreichenden Geschichte erkunden und sich inspirieren lassen. Oder kurz: Menschen, die sich aus ihrem christlichen Herkommen anderen Kulten und geistlichen Strömungen zugewandt haben. Sehr viele der Ausstellungsbesucher konnten die „neutralen“ Türschwellen des öffentlichen Städtischen Museums leichter überschreiten als diejenigen eines kirchlichen Raumes. So konnten sie all die künstlerischen und religiösen Schätze entdecken oder wiederentdecken, die die christlichen Vorfahren hinterließen.

 

Das Living History Projekt „Campus Galli“ – Nachbau des St. Galler Klosterplan in ca. 40 – 50 Jahren mit mittelalterlichen Werkzeugen

Wenden wir uns noch einem anderen erstaunlichen Projekt (Bild 5) zu, das seit dem 1. August 2012 in seine Realisierungsphase getreten ist: dem „Campus Galli“ bei Meßkirch. Meßkirch, eine Kleinstadt im sogenannten „Badischen Geniewinkel“, etwa 10 km von der Benediktiner Erzabtei St. Martin im Oberen Donautal entfernt, dem ich angehöre. Der „Campus Galli – Karolingische Klosterstadt Meßkirch“ – ist ein modernes Bauvorhaben zur Nachbildung eines frühmittelalterlichen Klosters auf Grundlage des St. Galler Klosterplans. Die Idee zu diesem Bauvorhaben hatte der Aachener Journalist Bert M. Geurten, der den Klosterplan von St. Gallen, der nie verwirklicht wurde, umsetzen wollte. Die wissenschaftliche Begleitung des Baus übernahm ein Beirat aus Fachleuten, der sich im November 2013 konstituierte. Vorsitzender des Beirats ist Claus Wolf, Archäologe und Präsident des Landesamtes für Denkmalpflege Baden-Württemberg; Stellvertreter ist der in Meßkirch geborene Matthias Becher, Historiker und Hochschullehrer der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Dem Beirat gehören unter anderem der St. Galler Stiftsbibliothekars Cornel Dora wie auch sein emeritierter Vorgänger Ernst Tremp an. Von Seiten des Klosters wurde ich in den Beirat abgeordnet und bringe dort das Wissen und den Hintergrund der Benediktinischen Spiritualität (Regel des Hl. Benedikt u. a. Traditionen) ein. Der Bau des Klosterkomplexes erfolgt durch Zuhilfenahme zeitgenössischer Arbeitstechniken. Seit Juni 2013 ist die Baustelle, an der etwa 25 festangestellte Bauleute aber auch Praktikanten und Freiwillige arbeiten, für Besucher geöffnet. Als Gesamtbauzeit sind etwa 40 Jahre veranschlagt.

Als ich seinerzeit in der Regionalzeitung davon las, war ich zunächst skeptisch, ob das Ganze nicht so eine Art Disneyland oder ein Vergnügungspark mit lediglich kommerziellen Interessen darstelle. Schnell aber erkannte ich am Idealismus der Initiatoren, die mit großer Begeisterung alle Hindernisse überwanden und manchen Lokalpolitiker mit ihren Ideen anstecken konnten, dass es hier um mehr ging. In den vergangenen sechs Jahren ist die Baustelle mächtig gewachsen, die Werkstätten der verschiedenen Handwerker sind aufgebaut und produzieren die jeweils notwendigen Werkzeuge und Baumaterialien selber. 2016/17 wurde die Holzkirche errichtet und nun ausgestattet. Die Motivation der meisten Bauleute ist nicht primär christlich begründet, sondern in der Liebe zum Handwerk und der alternativen Idee einer „zweckfreien“ geschichtlichen Rekonstruktion bzw. Erstkonstruktion, da der St. Gallener Klosterplan weder in St. Gallen noch auf der Bodenseeinsel Reichenau oder sonstwo durchgeführt worden ist. Es gehört mit zum Tagesablauf auf der Baustelle, dass sich die Bauleute in einem frühmittelalterlichen Mönchs-/ Arbeitsgewand teilweise mit Holzpantinen bewegen, morgens immer wieder ein Kapitel aus der Benediktsregel hören und sich mit der Geschichte des Heiligen Gallus oder des Klosters St. Gallen beschäftigen. Mich begeistert, dass sich über dieses Medium, jährlich anwachsend (2017 ca. 80 000 Besucher), tausende von Menschen, jung und alt, christlich und indifferent, einmalig und jährlich wiederkommend den Campus Galli besuchen. Sowohl im Beirat wie auch auf dem Baugelände lasse ich mich immer wieder im Mönchshabit sehen, spreche mit den Bauleuten und Besuchern. In der Kulturarbeit des Klosters konnte ich verschiedene Vorträge und Tagungen zum Thema „Karolingisches Mönchtum“ anbieten, auf denen sowohl Vorträge von Mitarbeitern angehört, aber auch gehalten wurden. Bei der langen Laufzeit des Klosterbaus werden sich ganz natürlich sehr viele Berührungspunkte ergeben, und das Grundverständnis eines Klausurklosters wird sich auf Dauer hunderttausenden von älteren und jüngeren Besuchern „spielerisch“ und nachhaltig erschließen.

 

Weitere Initiativen der Hybriden Seelsorge

An dieser Stelle soll mein Beitrag ausklingen. Hinweisen möchte ich nur kurz auf ein Theaterspiel, das 2017 zum Anlaß der 925-jährigen Ersterwähnung des Dorfes, an dessen Rand ich lebe, geschrieben und aufgeführt wurde. Die stauferzeitliche Burg Ramsberg, in deren ruinösen Gemäuern sich meine St. Wendelins-Kapelle und -Klause befindet, war ursprünglich der Mittelpunkt einer kleineren gräflichen Herrschaft im Linzgau. So lag es nahe, dass der Bewohner des geschichtlichen Ortes an zentraler Stelle in dem Geschichtsspiel aufzutreten hatte. Nach einigen Verhandlungen sagte ich zu und wurde in die intensive Probenarbeit der ca. 30 Laien-Darsteller einbezogen. Innerhalb kurzer Zeit wurde ich, der ich über 25 Jahre eher ein Randdasein in der Dorfgemeinschaft gespielt hatte, neben der gespielten Rolle auch in konkrete Fragen der Gemeinde und seiner Bewohner eingebunden. – In über 20 Jahren Kulturarbeit des Fördervereins der Klause konnten wir durch Vorträge und kleine Tagungen eine ganz Reihe von Geschichtsheften und ein größeres Buch herausbringen und so die Lokalgeschichte und deren Kenntnis auf durchaus wissenschaftlichem Niveau sichern. Durch zahlreiche musikalische Aufführungen in und vor der Ramsberg-Kapelle konnten Musikerinnen und Musiker ihr Können in verschiedenen musikalischen Disziplinen (Chor, Einzelgesang, alte Musikinstrumente usw.) darbieten und seltene Stücke aufführen (Gesänge der Hl. Hildegard, Marienlieder, Shakuhachi Flöte, Harfe etc.). Gerade die Musik ist ein sehr wichtiges Medium, um die menschliche Seele zur Reifung anzuregen.

Ein Projekt für die nächsten Jahre zeichnet sich schon seit einem Jahr ab. 2020 soll am Bodensee eine Landesgartenschau stattfinden, die bereits seit der Beschlussphase umstritten ist. Hier möchte ich aus einem schöpfungstheologischen und kulturhistorischen Ansatz einen Beitrag durch verschiedene Vorträge im Vorfeld sowie durch ein größeres Symposion während der Gartenschau einen spirituellen Beitrag leisten.

 

Fazit

 

In naher Zukunft wird sich für die kirchlich-pastorale Arbeit zwangläufig ein weitergehender Umbruch aus den gesellschaftlich-strukturellen Veränderungen ergeben. Die kirchliche Gebundenheit aus Familie, Vereinen und kommunalen Institutionen wird sich weiter lockern. Die Verantwortlichkeit des je Einzelnen, seine Lern- und Bildungsprozesse sowie seine persönlichen Lebensentscheidungen werden sich vermehrt auch auf die Entscheidungen des Glaubens auswirken. Die verfasste Kirche – und damit auch ihre klösterlichen Gemeinschaften – müssen sich dementsprechend dem je einzelnen Menschen, dort wo er lebt und arbeitet, stellen. Die Verkündigung der einzigartigen Gaben des Glaubens und des Heiligen Geistes bietet die Entwicklung von Lebensqualität (Frieden und Liebe) sowie Reifung zum wahren Menschsein (Sinnhaftigkeit und Tugendstreben). In der Hybriden Seelsorge in untypischen spirituellen Räumen liegt die Chance, den Menschen für die Frohe Botschaft vorzubereiten.

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