Da ich mir einrede, noch nicht das Alter für große ‚Rückblicke‘ zu haben, werde ich mich in meinen Anmerkungen auf die beiden anderen Zeitdimensionen, also auf die Gegenwart(sanalyse) und die Zukunft(svisionen) konzentrieren.
Gegenwartsanalyse: Herausforderungen
Die Gegenwartsanalyse fällt auch in oecumenicis wie so vieles in unseren bewegten Zeiten zunächst nicht allzu optimistisch aus. Und wenn ich so über den Satz nachdenke, frage ich mich: War das je anders? Wahrscheinlich nicht! Ich greife im Folgenden drei signifikante Entwicklungen für unsere Zeit heraus.
1. In allen Konfessionen macht sich ein moderneskeptischer bis modernefeindlicher Affekt breit. Seine Erscheinungsformen sind vielfältig: Vom (Wieder-) Erstarken eines fundamentalistischen Biblizismus, über die Ausbreitung eines politisch aufgeladenen, religiös verbrämten Nationalismus, bis hin zum Versuch der Wiederbelebung der Vorstellung von Kirche und Glaube als Sonder-, Gegen- oder Über-Welt. Seine Konsequenzen aber ähneln sich: eine Tribalisierung – man könnte auch sagen: Blasenbildung –, die das innerkonfessionelle Miteinander mitunter bis zum Zerreißen dehnt und die eine (mehr oder minder) überraschende ‚Fronten-‚ oder ‚Lager‘bildung über die traditionellen Konfessions- (ja mintunter Religions-) grenzen hinweg hervorbringt. Denn dieser religiöse Anti-Modernismus geriert sich in manchen Kreisen bereits zur transkonfessionellen, ökumenischen Leitkultur der späten Moderne.
Verbindende Grundüberzeugung ist eine Denunziation der säkularen Welt und der späten Moderne als eine Kultur der Unwahrheit und eine Zeit des Glaubensverlustes, die Klage über den Schwund ethischer Grundüberzeugungen und den moralischen Zerfall der ‚westlichen‘, pluralen und offenen Gesellschaften und – als Konsequenz – die These von der Unvereinbarkeit des ‚wahren‘ christlichen Glaubens mit den Grundprinzipien dieser Moderne, insbesondere Freiheit und Demokratie.
Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine kleine Anmerkung aus aktuellem Anlass: Man ist im Augenblick geneigt, bei diesem als Clash of Cultures inszenierten „Kampf zwischen Glauben und Moderne“ wie Wilhelm Damberg in Die ‚Lehrmeisterin des Lebens‘ – Kirchengeschichte und Innovation im Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils formuliert, nur auf Russland zu blicken. Ja, die Kritik am Patriarchen von Moskau und der Rus hat ihr gutes Recht. Aber man sollte dabei die in allen Konfessionen vorhandenen Dynamiken nicht ignorieren und auch die vielfältigen Versuche der letzten beiden Jahrzehnte nicht vergessen, zwischen den Konfessionen (unheilige) Allianzen zur Verteidigung angeblich christlicher Werte (mit emotional hochaufgeladenen Stichworten wie Abtreibung, Homosexualität, ‚Genderwahn‘, ‚Modeerscheinung einer Anpassung von Lehre und Moral‘, ‚Zwang zur political correctness‘) zu schmieden. Es gilt hier explizit die Mahnung: Wer mit einem Finger auf andere zeigt …
In all dem steckt aber eine Gefahr, die nicht zu unterschätzen ist. Denn dahinter verbirgt sich letztlich der Versuch, eine grundlegende Verachtung von Freiheit und Demokratie und die Ablehnung einer auf diesen Prinzipien fußenden offenen Gesellschaft in die christliche DNA einzuschreiben. Diese zutiefst beunruhigende Entwicklung halte ich für die aktuell größte ökumenische Herausforderung. Und ich bin sicher nicht die Einzige, die von meiner, der römisch-katholischen .Kirche, angesichts der politischen Verwerfungen ein eindeutiges Bekenntnis zur Demokratie erwartet und ökumenisch auf ein entsprechendes offensives Handeln aller christlichen Konfessionen zur Verteidigung der Demokratie auch auf weltpolitischer Ebene hofft!
2. Der Markt des Religiösen ist – global betrachtet – bunter, aber auch ambivalenter geworden. Weltweit gesehen, ist ein spirituell frei flottierender (Neo-) Pentekostalismus der Verkaufsschlager des Christentums schlechthin. Und das meine ich wörtlich! Gerade weil er die ökonomischen und spirituellen Bedürfnisse der späten Moderne so wunderbar bedient, hat sich der Neopentekostalismus in den letzten Jahrzehnten zur weltweit zweitgrößten christlichen Konfession entwickelt. Religiöse „Wahrheitsfragen“ werden hier „als marktpolitische Profilfragen interpretiert“, so schreibt es Thomas Schärtl in seinem Aufsatz Amerikanisierter Katholizismus? Ein Blick aus den USA zurück nach Deutschland. Er ist abgedruckt in Stimmen der Zeit 230 von 2012.
Eine solche Ökonomisierung des Religiösen „bedeutet für die Religionen“ nicht nur die „Ausdünnung der religiösen Mitte. [Denn] Gestärkt werden die Ränder des religiösen Partizipationsspektrums“, so die Formulierung von Rainer Bucher in seinem Online-Beitrag Auf ihm bestehen, nicht ihm verfallen. Die katholische Kirche auf dem religiösen Markt, sondern die sozialen und politischen Kontexte, in denen neopentekostale Gemeinschaften heute boomen, fördern zugleich eine extensiv gepflegte, gruppendynamisch wirksame Mixtur von exklusiver, religiöser Vergemeinschaftung und exkludierendem, politisch-ökonomischem Lobbyismus und Tribalismus.
Diese Melange bringt letztlich ein neoliberal konstruiertes und ökonomisch angepasstes Gospel of Prosperity mit seinen Health-and-Wealth-Botschaften hervor, das die Logiken des Marktes zutiefst internalisiert hat und ins Religiöse verlängert. Neo-Pentekostalismus und Ökonomisierung von Religion gehen nicht nur Hand in Hand, sie bedingen sich gegenseitig! Die Leitkultur eines ‚kulturell hegemonialen Kapitalismus‘ hat sich das Feld religiöser Überzeugungen angeeignet. Rainer Bucher benennt dies in dem oben genannten Beitrag. Wo das aber geschieht, regiert eine rein instrumentelle (oder ökonomisierte) Vernunft – gut ist, was nützt –; die aber ist der Totengräber jeder kritischen theologischen Prüfung.
Der soteriologische Fokus des spirituell Angebotenen liegt auf einem personalisierten Verständnis von Sünde und Schuld und der individualisierten Hoffnung auf Heilung und Erlösung. So wird die gesellschaftspolitische Systemfrage nach den ‚Strukturen der Sünde‘ und nach (sozialer) Gerechtigkeit grundlegend ausgeblendet, wie es Philip Jenkins in The Next Christendom: The Coming of Global Christianity formuliert. Zu erwähnen ist hier auch die Kritik am Neoliberalismus und an einer ‘Wirtschaft, die tötet‘ aus der Feder von Papst Franziskus im Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium von 2013.
Gegenseitige Abhängigkeits- und Nützlichkeitsverhältnisse werden mit Gottes Gnadenwahl verwechselt. Weil der theologische ‚Ton‘ dann auch noch fundamentalistisch, supranaturalistisch und voraufklärerisch grundiert ist, wird das alte Zerrbild westlich-europäischer Religionskritik des 19. Jahrhunderts (die marxsche/leninsche These, Religion ist Opium fürs/des Volk[es] entspringt nicht ohne Grund aus der Kritik eines ungebändigten Kapitalismus des Industriezeitalters!) im 21. Jahrhundert die Blaupause für das Christentum, so noch einmal Jenkins.
Betrachtet man das Ganze noch in einer postkolonialen Perspektive, wird sehr schnell deutlich, dass uns hier die eigene kolonialistische Missionsgeschichte auf die Füße zu fallen droht. Auch hier ist die Herausforderung offensichtlich: Wir werden darum ringen müssen, das Erbe Europas neu plausibel zu machen: Soziale Gerechtigkeit und eine alle inkludierende Universalität sind ein Erbe, das das Christentum als, wie es Johann Baptist Metz einmal formuliert hat, eine Religion versteht, „die im Namen ihrer Sendung Freiheit und Gerechtigkeit für alle sucht“ und die „aus ihrem biblischen Erbe eine … Kultur der Anerkennung der Anderen in ihrem Anderssein, also die schöpferische Anerkennung ethnisch-kultureller Pluralität“ entfaltet. Sie sind es allemal wert, auch in andere Weltkontexte übersetzt zu werden.
3. Eine dritte, eher aus dem Binnenbereich stammende Herausforderung will ich auch anführen. Ich beschränke mich hier auf Beobachtungen aus meiner eigenen Kirche und die aktuellen Themenschwerpunkte im Dialog mit den Kirchen der Reformation. Seien es die Diskussionen um das Dokument Gemeinsam am Tisch des Herrn des ÖAK, seien es die römischen Kommentare zur Studie zu ‚Taufe und Kirchengemeinschaft‘, die im Auftrag von LWB und des ‚Dikasteriums zur Förderung der Einheit‘ erstellt wurde, die Reaktionen aus Rom ähneln sich: Anstelle einer über Jahrzehnte in der Ökumene eingeübten Hermeneutik des Vertrauens (samt der Methode des differenzierenden Konsenses) wird nun wieder eine konfessionalistisch auf das Eigene enggeführte Kriteriologie zum Maßstab des theologisch Richtigen und ökumenisch Möglichen gemacht.
Am äußersten Horizont dieses römischen Widerspruchs dämmert eine Drift zum Identitären, konfessionell Exklusiven herauf, die man im ökumenischen Miteinander längst überwunden wähnte. Diese stellt indes nicht einfach nur einen Rückfall in vorkonziliare, katholische Argumentations- und Denkmuster aus Zeiten einer Rückkehrökumene dar, obgleich sie sich ihrer ausgiebig bedient. Sondern es ist eine Fortschreibung beziehungsweise sogar Neuerfindung eines bestimmten als ‚wahrhaft katholisch‘ verteidigten Profils unter spätmodernen Auspizien: die tribalisierende, exklusive Identität der ‚kleinen Herde‘, die auf alles eine eindeutige Antwort hat, die jedes intellektuelle Differenzierungsvermögen und noch die eigene vielfältige Tradition unterbietet, und aus der ins Extreme tendierenden Dynamik eines ‚wir‘ gegen ‚die anderen‘ lebt; kurz: eine katholische Variante des Populismus.
Etwas zugespitzter formuliert: Der katholische Kulturkampf um die Frage, was es eigentlich im 21. Jahrhundert bedeutet, ‚katholisch‘ zu sein, den wir insbesondere im Streit um die Notwendigkeit von Reformen in der Katholischen Kirche allerorten beobachten, ist nun auch in der Ökumene angekommen. Was wäre zu tun?
Sie, liebe ökumenische Geschwister, sind aber nicht einfach nur passive Zuschauerinnen beim binnenkatholischen Ringen um Veränderungen, sie müssen zu Akteurinnen werden, wenn sie nicht wollen, dass die Ökumene als Kollateralschaden dieser Auseinandersetzung auf der Strecke bleibt. Mit etwas mehr Pathos: Den Streit um eine ökumenisch aufgeschlossene, offene, modernekompatible Gestalt der Katholischen Kirche dürfen Sie nicht nur den Katholikinnen und Katholiken überlassen. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil sollte klar sein: Das Schicksal meiner Kirche liegt auch in Ihren Händen.
Soweit die Herausforderungen. Was könnte nun eine ökumenische Theologie zu ihrer Bewältigung beitragen und was wäre dazu notwendig?
Zukunftsvisionen: Plädoyer für eine ökumenische Theologie mit Profil
Profil 1: Kontingenzsensibilität
Schon ein eher oberflächlicher Blick in die Wirkungsgeschichte des abendländischen Epochenbruchs, der mit dem Stichwort ‚Reformation‘ verbunden ist, macht auf das Entscheidende aufmerksam: Die Konkurrenz der Konfessionen im gleichen geographischen Raum (im Gegensatz zu der geographisch anders aufgestellten Scheidung von Ost- und Westkirche) zwingt dazu, das Eigene exklusiv zu bestimmen, es zu normieren und zu uniformieren. Konfessionelle Identität wird zur Gruppenidentität, das kirchliche Selbstverständnis definiert sich als ‚tribal ecclesiology‘, die keine Binnendifferenzierung mehr zuzulassen wagt. Ausführlich dargelegt hat das Roger Haight in Christian Community in History. Hier ist besonders zu verweisen auf den Band II: Comparative Ecclesiology, erschienen in New York und London im Jahr 2005.
Man kann nun versuchen, sich über diese binnenkonfessionelle Verarmung dadurch hinwegzutrösten, dass man die notwendige Pluralität ‚externalisiert‘: Die Vielfalt der Konfessionen ‚ersetzt‘ hier die verlorene ‚Breite‘ der eigenen Identität. Diese Art des ‚Lobs der Vielfalt‘ scheint mir – mit Verlaub – die ‚typisch evangelische‘ Art und Weise mit dem Problem umzugehen: sich auszudifferenzieren. Doch dieser ‚Trost‘ erweist sich bei näherem Hinsehen als Illusion: Denn während die Anerkennung einer pluralen Vielfalt innerhalb der eigenen Konfession darauf aufmerksam macht, dass die eigene Identität immer eine konstruierte, damit aber auch eine veränderbare ist, weil sie aus mitunter sehr kontingenten Selektionsprozessen hervorgegangen ist, neigt eine nach außen gewendete Pluralität dazu, jede Alternative nur als Infragestellung des Eigenen wahrzunehmen.
Ob übrigens die ‚Lungenflügel-Ökumene‘ zwischen Ost und West hier hermeneutisch besser aufgestellt ist, lasse ich einmal dahingestellt. Zur kritischen Anfrage an die auch hier vorauszusetzende Kontingenz der eigenen, konfessionellen Identitätskonstruktionen taugt sie nämlich auch nicht, weil sie sich durch die in der verwendeten Metapher implizierte Sollensaussage (wer atmet schon gerne mit einem Lungenflügel … also müssen es schon zwei sein) letztlich gegen eine selbstkritische Analyse dieser Identität immunisiert.
Die ökumenische Nagelprobe des Plädoyers für Vielfalt besteht man indes nur, wenn man die Kontingenz bestimmter Selektions- und Konstruktionsprozesse für die eigene konfessionelle Identität ernstnimmt. Konfessionelle Identitäten sind in dieser Perspektive nicht der fixe, unhinterfragbare, letzte Orientierungspunkt, sondern sie können, ja müssen „nicht nur relativiert, sondern auch transformiert werden“, wie UIrich H. J. Körtner es in Wohin steuert die Ökumene? formuliert.
Hier fängt die ökumenische Kärrnerarbeit dann erst an. Sie setzt an bei der ‚Erinnerung an das Gewordensein‘; und macht deutlich, dass es „Identität nur in der Weise der geschichtlichen Verwandlungen“ gibt, schreibt Joseph Ratzinger in Das Problem der Dogmengeschichte in der Sicht der katholischen Theologie. Nachzulesen ist es auf Seite 19f in dem im Jahr 1966 im Westdeutschen Verlag erschienenen Buch. Wer Kontingenz/Zeitbedingtheit bestimmter getroffener Entscheidungen aufdeckt, ihre Geschichtlichkeit rekonstruiert, legt zum einen eine ‚sichere‘, ‚immergleiche‘ konfessionelle Identität als ‚Konstrukt‘ offen und macht zum anderen auch das, was häufig als ‚Tradition‘ gekennzeichnet wird, als ‚konstruierte Kontinuität‘ sichtbar.
Gerade weil es zum real Existierenden immer auch eine historische, vielleicht sogar eine bewusst verdrängte Alternative gibt, ist die eigene konfessionelle Identität in ihrer Wandelbarkeit und Entwicklung ernst zu nehmen. Zu dieser Kärrnerarbeit gehört aber zum anderen auch die Bereitschaft, diese ‚Erinnerung(en)‘ an das Gewordensein zum Erneuerungspotential werden zu lassen, so wieder Damberg; also ihren Gehalt als ‚gefährliche Erinnerung‘ im Sinne eines „Beitrags zur Ambiguitäts- und damit Innovationstoleranz“ der eigenen Identität zu verstehen und ökumenisch fruchtbar zu machen. So formuliert es Georg Essen in Die Geschichte, die aus der Wahrheit kommt. Reflexionen zu einer innerkirchlichen Kultur der Innovationstoleranz. Nur so werden die theologiegeschichtlich vorliegenden Alternativen im Bewusstsein gehalten, das Spektrum der Möglichkeiten erweitert und Wege der Selbstkritik und Autokorrektur eröffnet.
Profil 2: (Selbst-)Kritik
Innerhalb der ökumenischen Dialoge der letzten Jahrzehnte hat man mühsam gelernt, Unterschiede als ‚Gewinn‘ wahrzunehmen und damit nicht als ‚Hindernis der Einheit‘, sondern als deren auch am Ziel zu bewahrendes, weil unaufgebbares Gut zu bewerten. Die damit verbundene Alteritätstoleranz akzeptiert die andere Antwort des anderen und zwingt ihn nicht zur eigenen, weil sie wahrnimmt, dass sein Ort, seine Zeit, seine Situation nicht die eigenen sind. Sie rechnet die situative, historische, sprachliche, aber auch die Mentalitätsdifferenz als Faktoren ein, denn diese sind je einmalig und so niemals zu kopieren oder zu wiederholen, gerade darin und dadurch stiften sie Identität. Die daraus entwickelte ökumenische Differenz-Hermeneutik bestimmt die Unterschiede nicht von den Gegensätzen, sondern von der gemeinsamen Basis her. Daraus hat sich dann eine ökumenische Methodologie entwickelt, die unterschiedliche Denkformen im Sinne einer Komplementarität fruchtbar macht. Detailliert nachzulesen bei Wolfgang Klausnitzer, in seinem Buch Kirche, Kirchen, Ökumene, erschienen in Regensburg im Jahr 2010.
Die ökumenische Nagelprobe dieser Hermeneutik lässt sich nun mit folgender Frage umschreiben: Haben wir aber das Ziel der Ökumene schon erreicht, wenn wir nicht mehr Gegeneinander oder Nebeneinander, sondern Miteinander einfach Christinnen und Christen sind? Das wäre in der Tat zu simpel. Denn ein echtes ökumenisches Miteinander ist „das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit einer Alternität des konfessionell anderen …, die nicht in den eigenen Begriffen und Konzepten ungebrochen aufgeht.“ Diesen Gedanken hat Gregor Maria Hoff in Ökumenische Passagen – zwischen Identität und Differenz. Fundamentaltheologische Überlegungen zum Stand des Gesprächs zwischen römisch-katholischer und evangelisch-lutherischer Kirche so formuliert. (Erschienen in Innsbruck im Jahr 2005.)
Daraus ergibt sich die eigentliche Zumutung, sich auf dieses Andere so einzulassen, dass das Eigene auch anders gesehen, anders werden kann. Das Miteinander ist also ein aktiv zu gestaltendes Miteinander von Unterschiedenen, das das Eigene in die Schwebe bringt und permanent herausfordert. Wo indes Differenz und Alterität identitätsstrategisch verharmlost werden („Ich bin gut, Du bist gut, wir sind gut“), wo man also vom anderen nichts mehr lernen kann/will, bedient eine Differenzhermeneutik eher die alte, konfessionelle Profilierungs- und Identitätsfalle und legt so das Veränderungspotential der Ökumene still. Wenn ich ehrlich bin, war indes das genau das, was mich von Anfang an besonders an der Ökumene fasziniert hat: die Hoffnung, dass sich meine eigene Kirche im Angesicht der anderen selbst verändert. Was wäre zu tun, um diese alte Idee der Ökumene mit neuem Elan zu versehen?
Profil 3: Streitbarkeit
Nein, wir müssen nicht ‚die anderen‘ werden, um aus unseren konfessionellen Identitätsdiskursen herauszukommen, aber wir sollten auch nicht so tun, als ob wir die gleichen bleiben könnten, wenn wir Ökumene ernstnehmen.
Auch hierfür gibt es so etwas wie eine Nagelprobe: Sie rekurriert auf eine Beobachtung meines Tübinger Kollegen Ottmar Fuchs: Wenn es so ist, dass „zur religiösen Identität im … interkonfessionellen …Dialog [gehört]“, so Fuchs, „dass sie nicht insulär den Wahrheitskern ihrer selbst behauptet und nur an deren Rändern nach Konsens sucht, sondern dass sie auch mit ihrer Differenz produktiv in die Kontrastivität mit anderen Glaubensrealitäten hineinbegibt“ (also eine Alteritätskompetenz entwickelt), – wenn es bei den ökumenischen Dialoggesprächen und im ökumenischen Miteinander also wirklich um das ‚Eingemachte‘ geht – dann ist es unvermeidlich „dass sich in die Erfahrungen der gegenseitigen Andersheit auch die Konnotation einschleicht …, dass das Eigene in Teilen oder im Ganzen das Wahrere und Bessere sei“. Er schreibt das in Dialog im ‚Martyrium‘ der Wahrheit, in: HThKVatII Bd. 5. Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils: theologische Zusammenschau und Perspektiven.
Ohne den Anspruch, das ‚Bessere‘, ‚Wahre‘, ‚Richtigere‘ selbst zu vertreten, der dann den notwendigen Streit um die bessere Lösung in Gang setzt, ist nämlich auch „der Begriff der Verschiedenheit … sinn-[besser: folgen]los“, so wieder Ottmar Fuchs. Logisch! Vor jeder Versöhnung, auch vor der ‚versöhnten Verschiedenheit‘ steht eigentlich immer der Streit! Anfrage an uns ökumenisch Interessierte und Engagierte: Streiten wir uns eigentlich noch? Oder herrscht nicht flächendeckend eine wohlwollende Interessenlosigkeit?
Vor einigen Jahren hat meine Schweizer Kollegin Eva-Maria Faber in einem Beitrag zu ‚Umkehr und Veränderungsbereitschaft als konstitutive Elemente des ökumenischen Weges‘ zu Recht bemerkt, dass die Dialogkommissionen ihren Elan verloren zu haben scheinen. Inzwischen wiederholten sie nur noch das, was in den jeweiligen Kirchen sowieso schon gedacht und praktiziert wird. Angesichts dieser latenten Neigung zum Konformismus hätten sie ihren eigentlichen Auftrag, neue Wege zu begehen, Horizonte zu öffnen und sich auch einmal auf vermintes Gelände zu wagen, aus den Augen verloren. Ich spitze es nochmals zu: Man streitet in der Ökumene zu wenig. Wer um nichts mehr streiten will/kann, dem scheint doch alles gleichgültig. Erst der ernsthafte Streit macht ökumenische Theologie zu einer grenzüberschreitenden, innovativen und so zu einer wirklich auseinandersetzungs- und rechenschaftsfähigen Disziplin. Ohne Streit keine Ökumene! Um nicht missverstanden zu werden: Dieser notwendige Streit ist immer ein argumentativ (!) auszutragender Streit. Ohne offene, argumentative Auseinandersetzung gibt es nämlich keinen ehrlichen Streit um die Wahrheit; und für die Wahrheitsfrage sind reine ‚Traditionsargumente‘ (weil sie ‚sein‘ mit ‚sollen‘ verwechseln) immer schon untaugliche Argumente.
Manchmal überrascht ja Papst Franziskus tatsächlich. Das gilt auch hier. So mahnt er in einem Brief an den Großkanzler der Pontificia Universidad Católica Argentina, der Theologie, dem Streit und dem Konflikt nicht auszuweichen. Denn nur hier entwickelt sich im offenen Austausch der Argumente, im gegenseitigen Sich-in-Frage-Stellen eine echte ‚Debattenkultur‘, die den Streit um die ‚bessere Lösung‘ ernst nimmt und auch für die Frage der Pluralität und der Alterität konstruktiv und produktiv umsetzt.
Theolog*innen müssten daher bereit sein, so der Papst, „den Konflikt zu erleiden, ihn zu lösen und ihn zum Ausgangspunkt eines neuen Prozesses zu machen“, in einer Weise, die erlaubt, „Geschichte in einem lebendigen Umfeld zu schreiben, wo die Konflikte, die Spannungen und die Gegensätze zu einer vielgestaltigen Einheit führen können, die neues Leben hervorbringt. Es geht nicht darum, für einen Synkretismus einzutreten, und auch nicht darum, den einen im anderen zu absorbieren, sondern es geht um eine Lösung auf einer höheren Ebene, welche die wertvollen innewohnenden Möglichkeiten und die Polaritäten im Streit beibehält“.
Ich finde, besser kann man Profil und Ziel einer Ökumenischen Theologie der Zukunft nicht beschreiben. Und so danke ich der Katholischen Akademie in Bayern, auch im Namen des Instituts für Ökumenische und Interreligiöse Forschung der Universität Tübingen, dafür, dass sie durch diesen Preis und das damit verbundene Preisgeld die Weiterarbeit an einer profilierten ökumenischen Theologie so großzügig unterstützt.