Auf den ersten Blick ist die Überschrift des zweiten Kapitels „Prinzipien ethischer Urteilsbildung im Lichte konfessioneller Traditionen“ der Studie Gott und die Würde des Menschen (GWM) eindeutig. Bei näherem Zusehen erweist sich, dass der Umgang mit konfessionellen Traditionen in der ökumenischen Ethik voraussetzungsreich und kontextbezogen ist und manches sich als ein wichtiger Bezugspunkt, um das Wort Prinzip zu vermeiden, erst im Licht des konfessionellen Partners und nicht in der unmittelbaren Eigenwahrnehmung zeigt. Drei Punkte im Zusammenhang dieses Kapitels möchte ich ansprechen: Eigenes Vorverständnis und Kontextabhängigkeit der ökumenischen Ethik, das Gewissen und von den Grundformen ethischer Argumentation im Christentum (GWM Nr. 63-80) Naturrecht und natürliches Sittengesetz.
Eigenes Vorverständnis und Kontextabhängigkeit der ökumenischen Ethik
Wer sich mit ökumenischer Theologie und Ethik beschäftigt wird feststellen, dass es nicht selbstverständlich ist, theologisch-ethische Fragen unter dieser Perspektive zu betrachten. Und wenn man es tut, gibt es verschiedene Möglichkeiten, sich darauf einzulassen. Ich teile die Auffassung, dass es in der Anthropologie keinen Grunddissens gibt und „abweichende Positionen in einzelnen ethischen Fragen […] als begrenzter Dissens zu verstehen (sind)“ (GWM Vorwort S. 10). Mein Statement verstehe ich hier nicht so sehr als kritische Würdigung von Gott und die Würde des Menschen, sondern im Sinne einer stärkeren Wahrnehmung der Auffassung des konfessionellen Partners, was dann ein Beitrag zur gewünschten „weiteren Klärung der aufgeworfenen Fragen“ (GWM Vorwort S. 11) sein kann. Dabei gilt es festzuhalten, dass es gar nicht so einfach ist, von dem konfessionellen Partner zu sprechen, geschweige denn von the konfessionellen Traditionen. Als katholischer Theologe vermeint man hier aber eine größere Bandbreite auf der evangelischen als auf der katholischen Seite wahrzunehmen. Konturierte Gegenüberstellungen treffen aus meiner Sicht nicht angemessen die Debatte in der ökumenischen Ethik. Eher gleicht sie einem nicht festgefügten Mosaik, in dem einmal mehr der eine, einmal mehr der andere Stein in den Vordergrund tritt und das Bild prägt. Zu diesen Einzelteilen gehört in unserem Zusammenhang, wie eine gemeinsame Stellungnahme zustande kommt bzw. wie später eine andere Gewichtung bei der ethischen Urteilsbildung vorgenommen wird. Als gutes Beispiel kann hier die Diskussion um den Status des menschlichen Embryos dienen. In der Erklärung Gott ist ein Freund des Lebens (1989) formulierte man gemeinsam, dass beim menschlichen Embryo von der „Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle an ein Lebewesen vorliegt, das, wenn es sich entwickelt, gar nichts anderes werden kann als ein Mensch“, ihm von daher von diesem Zeitpunkt an die Menschenwürde zukommt und er schutzwürdig ist. Schon damals gab es die Diskussion, ob die Schutzwürdigkeit erst mit der Nidation gegeben sei, aber damals konnte die erstgenannte Auffassung als gemeinsame Überzeugung formuliert werden. Dass sich die Gewichte etwas verlagert haben und die evangelischen Partner bei der Stammzellgesetzgebung 2008 die gemeinsame Position nicht mehr geteilt haben, hat aus meiner Wahrnehmung heraus auch Gründe, die nicht nur in dieser komplexen Einzelfrage ihre Ursache haben. Es ist festzustellen, dass es in den Jahren 1989 bis um die Jahrtausendwende herum eine ganze Reihe gemeinsamer Stellungnahmen im ethischen Bereich gab, während diese danach zurückgingen, aber nicht völlig aufhörten. Aus der Sicht einiger evangelischer Ethiker, aber auch evangelischer Bischöfe und anderer Theologen (und ich beziehe mich hier nur auf die evangelische Seite) wurde die ökumenische Debatte um die Jahrtausendwende von Ereignissen mitbestimmt, die nicht unmittelbar die bisherigen gemeinsamen Stellungnahmen betrafen, aber das Klima zwischen den Kirchen beeinflussten. Einige Ereignisse seien erwähnt: Zu nennen ist der Ausstieg der katholischen Bistümer aus der Schwangerschaftskonfliktberatung im Sinne der §§ 218/219, den die Bischöfe aufgrund einer Entscheidung von Papst Johannes Paul II. zum 1. Januar 2001 vornahmen. Hier wurde die Gemeinsamkeit mit der Evangelischen Kirche – konkret der Diakonie – in diesem Bereich, die mit ihren Beratungsstellen die Beratung nach §§ 218/219 auch weiterhin durchführte, nicht fortgesetzt. 1999 wurde die (auch für Gott und die Würde des Menschen wichtige) Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (durch den Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit und dem Lutherischen Weltbund) unterschrieben. Dieses Dokument wurde im Vorfeld und auch nach der Unterzeichnung auf evangelischer Seite kritisch betrachtet. Erinnert sei an eine von 243 evangelischen Theologinnen und Theologen abgegebene Stellungnahme, die sich gegen die Unterzeichnung aussprachen. Bemängelt wurde insbesondere, dass sich aus diesem Text keine Konsequenzen für die ökumenische Praxis ergeben würden. Verstärkt wurde diese Einschätzung dann durch die ein Jahr später erschienene Erklärung der Glaubenskongregation Dominus Jesus (2000). Besonders die Aussage, sie (die evangelischen Kirchen) seien nicht „Kirchen im eigentlichen Sinn“, wurde als problematisch und bei in der Ökumene engagierten Theologinnen und Theologen partiell verletzend erfahren. Die verschiedentlich von katholischer Seite gebrauchte Formulierung, die Kirchen der Reformation seien Kirchen eines anderen Typs, entspricht wohl besser dem evangelischen Selbstverständnis. Bei den Konsens- und Konvergenzerklärungen wurde deshalb auf evangelischer Seite darauf hingewiesen, dass kirchliche Stellungnahmen ihr Gewicht nicht „ihrer institutionellen Verankerung [verdanken], sondern der inneren Konsistenz der Argumentation, die sich an der Sachgemäßheit ebenso überprüfen lassen muss wie an der Kompatibilität mit den Grundaussagen der von Schrift und Bekenntnis bestimmten Tradition des Protestantismus. Es bleibt jedem einzelnen Christen überlassen und aufgetragen, sich ein fundiertes und verantwortungsbewusst getroffenes eigenes Urteil zu bilden.“ (Rainer Anselm) Im Blick auf bioethische Stellungnahmen am Lebensanfang, die jetzt in Gott und die Würde des Menschen an der embryonalen Stammzellforschung beispielhaft durchgeführt werden, wurde auf evangelischer Seite eine Dominanz katholischer Argumentationsmuster befürchtet, die in Spannung zur evangelischen Tradition stehen. Es „wird einer substanzontologischen Begründung des Embryonenschutzes auf katholischer Seite eine relationale, Personalität antizipatorisch zuschreibende Sicht auf evangelischer Seite gegenübergestellt. Gegen eine naturrechtlich begründete kompromisslose Verabsolutierung des Lebensschutzes in der katholischen Kirche wird auf die Möglichkeit der fallbezogenen Güterabwägung als genuinem Weg evangelischer Ethik verwiesen.“ (Stephan Ernst)
Mir kommt es in unserem Zusammenhang darauf an zu zeigen, dass die Prinzipien ethischer Urteilsbildung mitgeprägt sind vom jeweiligen Verständnis der Kirche und dem aktuellen Stand der Beziehungen der Kirchen untereinander. Und diese Beziehungen entwickeln sich ebenfalls nicht ohne die Einbeziehung des gesellschaftlichen Kontextes. Genau dies wird bei einem zentralen Gesichtspunkt ethischer Urteilsbildung im Text zum Ausdruck gebracht: „Die Ausrichtung am eigenen Gewissen ist für evangelische und katholische Christen und Christinnen Orientierungspunkt der ethischen Entscheidungsfindung. Die Bildung des Gewissens geschieht in der kirchlichen Gemeinschaft und im Dialog.“ (GWM Nr. 81)
Das Gewissen
Das Verständnis des Gewissens scheint mir derzeit einer der spannendsten theologischen Begriffe sowohl innerkatholisch wie im evangelisch-katholischen Diskurs zu sein. Und dazu gehört zunächst die Wahrnehmung, wie in der evangelischen Ethik „Gewissen“ verstanden wird. „In evangelischer Tradition ist das Gewissen der Ort der Erfahrung des Rechtfertigungshandelns Gottes“ (GWM Nr. 70). Gewissen wird von daher primär theologisch verstanden. Geradezu ein Klassiker ist hier Gerhard Ebeling, der vom Gewissen als einem fundamentalen theologischen Thema spricht, auf das hin alle theologischen Aussagen auszurichten seien, und der festhält, dass der Mensch kein Gewissen hat, sondern Gewissen ist. Dass diese Äußerung nach wie vor aktuell ist, zeigt der Verweis von Ulrich H. J. Körtner in seiner Dogmatik (2018) auf Gerhard Ebeling. Die daraus folgende ethische Bedeutsamkeit des Gewissens wird unterschiedlich in der evangelischen Ethik gewichtet. Dies bestätigt ein Blick in die ethischen Studienbücher und Einführungen auf evangelischer Seite sowohl im Sinne der Einzeldarstellungen wie der Sammelbände. D. h. die Bandbreite reicht von einem eigenen Artikel im Sammelband oder Kapitel in einer Einführung oder Gesamtdarstellung über einen Abschnitt in einem Artikel bis dahin, dass das Gewissen als eigenes Thema der Ethik nicht erwähnt wird. Aber auch in „Ethiken“ und Beiträgen, in denen das Gewissen mit einem eigenen Abschnitt zur Sprache kommt, ist der Begriff anderen Themen untergeordnet, so z. B. in der Ethics von Wilfried Härle, in der das Gewissen unter der Kapitelüberschrift „Die normative ethische Instanz“ ein Unterpunkt „Autonome normative Instanz“ ist; oder Hans-Richard Reuter spricht in seinen Grundlagen und Methoden der Ethik bei den „Motiven der Ethik“ u. a. von „Gewissen und Verantwortung“. Verschiedentlich wird auf das Gewissen hingewiesen, um den Unterschied zur katholischen Position deutlich zu machen. Dies ist ein Punkt, der im vorliegenden Text ebenfalls angesprochen wird (vgl. GWM Nr. 81-87). Insgesamt kann man aus meiner Sicht festhalten, dass in der evangelischen Ethik aufgrund der genannten Beziehung zum Rechtfertigungsgeschehen der Begriff des Gewissens für das eigene Ethikverständnis eine andersgeartete Rolle als in der katholischen Moraltheologie spielt, aber im Diskurs und vor allem der kritischen Auseinandersetzung mit den Dokumenten des universalkirchlichen Lehramts hier insbesondere mit der Enzyklika Veritatis Splendor (1993) an Bedeutung gewinnt. Moraltheologinnen und Moraltheologen bedauern, dass nicht selten eine Gleichsetzung von römischem Lehramt und Moraltheologie stattfindet. Dies ist in Gott und die Würde des Menschen allerdings nicht der Fall.
In der katholischen Moraltheologie hat der Begriff des Gewissens – auch in den Einführungen und Gesamtdarstellungen – seinen festen Platz. Das vorliegende Dokument folgt der Beschreibung des katholischen Gewissensverständnisses der eben genannten Enzyklika Veritatis Splendor. Allerdings ist die Lesart vom Grundtenor her offener gestimmt als in der Enzyklika mit Auswirkungen auf den evangelisch-katholischen Dialog. Ein Grund dafür ist m. E., dass parallel zu den Beratungen Gott und die Würde des Menschen die Umfragen, Arbeitspapiere und Texte zu den Bischofssynoden 2014/2015 liefen, die sich mit der Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute – so der Titel der zweiten Bischofssynode 2015 – befassten und in denen deutlich wurde, dass es bei der bevorstehenden Synode nicht einfach um die Wiederholung von bereits Bekanntem gehe. Im nachsynodalen Apostolischen Schreiben Amoris Laetitia (2016) kommen andere Akzente des Gewissensverständnisses zur Sprache als in Veritatis Splendor, das in Amoris Laetitia nicht erwähnt wird. Johannes Paul II. betont in Veritatis Splendor, dass das Gewissen keine „schöpferische Instanz“ (vgl. VS 54) sei. „Das Urteil des Gewissens bestätigt ‚abschließend‘ die Übereinstimmung eines konkreten Verhaltens mit dem Gesetz; es ist die nächstliegende Norm der Sittlichkeit einer willentlichen Handlung und realisiert die ‚Anwendung des objektiven Gesetzes auf den Einzelfall.‘“ (VS 59) In Amoris Laetitia wird in verschiedenen Kontexten auf die Gewissensbildung abgehoben und der grundlegende Aspekt der Begegnung des Menschen mit Gott hervorgehoben. Einen eigenen Abschnitt über das Gewissen gibt es nicht. Sich seiner Situation vor Gott bewusst zu werden und aus der Perspektive des Glaubens sein Leben zu betrachten, ist Aufgabe des Gewissens. Es ist ein anderer Akzent als in Veritatis Splendor, der aber auch durch den Konzilstext Gaudium et spes (GS 16) gedeckt ist, wenn Franziskus bei der verantwortlichen Entscheidung für die Elternschaft auf die Gewissensbildung abhebt und die „Unterscheidung der Geister“ betont (vgl. AL 222). Diese wird auch bei der Situation der wiederverheiratet Geschiedenen herausgestellt, wenn Franziskus darauf hinweist, dass „keine neue, auf alle Fälle anzuwendende generelle gesetzliche Regelung kanonischer Art“ (AL 300) in diesem Schreiben erwartet werden dürfe. Genau diese Argumentation nimmt die Orientierungshilfe Mit Christus gehen – Der Einheit auf der Spur. Konfessionsverbindende Ehen und gemeinsame Teilnahme an der Eucharistie (20.2.2018) auf. Sie war zuerst als pastorale Handreichung der Deutschen Bischofskonferenz geplant, wurde dann aber nach einem Abstimmungsprozess zwischen Papst Franziskus und der Deutschen Bischofskonferenz als Orientierungshilfe in die Verantwortung des einzelnen Ortsbischofs gelegt. In dieser Orientierungshilfe geht es ja um den Kommunionempfang des evangelischen Partners bzw. der evangelischen Partnerin in der katholischen Eucharistiefeier. In der Orientierungshilfe wird auf die Hermeneutik von Amoris Laetitia im anders gelagerten Fall der wiederverheiratet Geschiedenen hingewiesen. Dieser Ansatz wird als Hilfestellung „zur Beendigung einer ‚schweren geistlichen Notlage‘ bei konfessionsverbindenden Ehepaaren“ angesehen. Von daher scheinen mir die Darlegungen zum Gewissensverständnis in Gott und die Würde des Menschen aus katholischer Sicht auch im Verhältnis Gewissen und Lehramt in der Linie von Amoris Laetitia zu liegen und die Argumentation des differenzierten Konsenses und begrenzten Dissenses zu stützen. Von den genannten Grundformen der ethischen Argumentation (vgl. GWM Nr. 63-80) möchte ich auf das Naturrecht und das natürliche Sittengesetz (GWM Nr. 65-67) noch hinweisen.
Naturrecht und natürliches Sittengesetz
Wie das Gewissen, so gehört das Naturrecht und das natürliche Sittengesetz zu den Grundbegriffen der katholischen Moraltheologie. Das schließt ein, dass seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts um das Naturrecht in der Moraltheologie gerungen wird. Dabei wird auf das unterschiedliche Verständnis von Naturrecht hingewiesen, aber auch, was genau naturrechtlich begründet werden kann. Das in Gott und die Würde des Menschen formulierte Verständnis des Naturrechts als Suche nach einer universalen Ethik lehnt sich an Thomas von Aquin an. Es betont vor allem die Vernünftigkeit sittlicher Normen. Gemäß der Natur handeln (secundum naturam vivere) heißt zugleich, gemäß der Vernunft handeln (secundum rationem vivere). Drei ergänzende Gesichtspunkte sollen hier noch benannt werden:
1) Bei der Begründung der Menschenwürde und den daraus resultierenden Menschenrechten ist ein wichtiger Ausgangspunkt, dass es ein universales Recht gebe, das vorpositivistisch oder auch vorstaatlich ist. 70 Jahre nach der Veröffentlichung des Grundgesetzes sollte zumindest daran erinnert werden, dass bei der Suche nach einem solchen Recht, das nicht durch staatliche Gesetzgebung außer Kraft gesetzt werden kann wie in der Zeit nationalsozialistischer Herrschaft, der Bezug auf das Naturrecht eine wichtige Rolle gespielt hat. Zumindest für die Genese des Grundgesetzes ist dies von Bedeutung, was noch nichts unmittelbar über die heutige Geltung aussagt. Papst Benedikt XVI. hat bei seinen Reden vor der UNO (2008) und vor dem Deutschen Bundestag (2011) das Naturrecht als festes Fundament jeder begründeten Rede von Menschenwürde und Menschenrechten bezeichnet. Auf die im Grundgesetz verankerte Gewissensfreiheit und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird konfessionsübergreifend hingewiesen.
2) Die Bedeutung des Vorgegebenen, des Natürlichen, wird heute verstärkt im Zusammenhang mit den natürlichen Lebensgrundlagen thematisiert. Wie die Erde gestaltet werden muss, damit sie auch für zukünftige Generationen bewohnbar bleibt, ist angesichts des Klimawandels, um nur eine der Herausforderungen zu nennen, unabdingbar. Auch wenn in der ökologischen Ethik zum Teil unterschiedliche Ansätze – auf evangelischer Seite mehr biozentrische Ansätze gegenüber mehr gemäßigt anthropozentrischen Ansätzen auf katholischer Seite – vorhanden sind, scheinen mir die Gemeinsamkeiten die Gegensätze bei weitem zu überwiegen. Gerade weil auch historisch gewachsene Prägungen wie bei anderen Themen fehlen, wäre es sicher wünschenswert, wenn hier mehr gemeinsames Sprechen der Kirchen gesucht würde.
3) Noch ein dritter Punkt sei genannt, der nicht unmittelbar zum Naturrecht und natürlichen Sittengesetz gehört, aber doch in diesem Zusammenhang Erwähnung verdient. Es geht um das Verständnis, was eine Person sei. Katholischerseits wird stärker die Verbindung von Selbststand und Beziehung oder – klassisch gesprochen – von Substanz und Relation betont, während auf evangelischer Seite vom Rechtfertigungsgeschehen her stärker auf die Beziehungsseite abgehoben wird. Dies hat Folgen unter anderem bei der Frage, ab wann der Mensch Person und damit zu schützen sei. Die Auswirkungen auf den Lebensschutz sind deutlich und werden in Gott und die Würde des Menschen bei der Forschung von embryonalen Stammzellen näher gekennzeichnet (vgl. GWM Nr. 244-249). Zu Recht wird hier von einem begrenzten Dissens gesprochen, der aber immer wieder aufbrechen kann und zu unterschiedlichen Bewertungen führt. Allerdings sind die bioethischen Fragen am Lebensanfang in einem solchen Fluss, dass Themen – wie die embryonale Stammzellforschung – heute nicht mehr so stark im Fokus sind als andere Fragen am Lebensbeginn wie z. B. die nichtinvasive Pränataldiagnostik, zu der sich im Herbst 2018 die Kammer für öffentliche Ordnung der EKD geäußert hat.
Anstelle einer Zusammenfassung soll am Schluss auf eine Übereinstimmung hingewiesen werden, die deutlich das Gemeinsame des ethischen Bemühens herausstellt. Gott und die Würde des Menschen schließt mit „Optionen für Menschlichkeit“ im Anschluss an die Seligpreisungen der Bergpredigt (GWM Nr. 267-308). Papst Franziskus hat das dritte Kapitel seines (letzten) Apostolischen Schreibens Gaudete et exsultate „Im Licht des Meisters“ überschrieben und bietet dort ebenfalls eine Auslegung der Seligpreisungen. Dieser gemeinsame biblische Bezug in ethisch bedeutsamen Texten, der zugleich eine geistliche Dimension hat, fördert den Konsens unter den christlichen Kirchen auch in ethischen Fragen.